Als Habgier den Blumenmond tötete

Henning Hirsch hat sich Scorseses neues Werk „Killers of the Flowermoon“ angesehen und sagt: Der Film kann sich zwar nicht entscheiden, ob er ein Epos oder eine Kriminalgeschichte sein will, enthält aber wichtige Zutaten, mit denen er „Oppenheimer“ bei den diesjährigen Oscars durchaus ernsthafte Konkurrenz machen kann.

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Der Trend in Hollywood geht hin zu langen Filmen. Kaum eine Produktion, die es schafft, ihre Story in der klassischen Taktung von 90 Minuten zu erzählen. 120 sind heutzutage normal, 150 nicht unüblich; mittlerweile sind wir bereits bei 180 und mehr angelangt. So auch Martin Scorseses neuestes Werk „Killers of the flowermoon (KotF)“, das mit 3.5 Stunden nicht für den eiligen Zuschauer taugt. Man muss ne Menge Geduld und Sitzfleisch mitbringen, um zu erfahren, wie die traurige Geschichte von Ernest und Mollie ausgeht. Die Handlung lehnt sich an das mehrfach prämierte Buch Das Verbrechen: Die wahre Geschichte hinter der spektakulärsten Mordserie Amerikas des US-Journalisten David Grann an.

„In Oklahoma ist es einfacher, einen Indianer zu töten, als einen Hund zu schlagen“

Beginnen wir mit dem historischen Hintergrund: Die Osage – ein Zweig der großen Sioux-Familie – lebten ursprünglich an der Atlantikküste und mussten im Verlauf der Landnahme durch den weißen Mann gen Westen ausweichen. Sie wanderten den Ohio River hinab, überquerten den Mississippi und ließen sich auf dem Ozark-Plateau und in die Prärien des heutigen Missouri nieder. Dort siedelten sie bis ins frühe 19. Jahrhundert, als sie ihr Gebiet an die Vereinigten Staaten abtraten und weiter Richtung Kansas zogen. Nach dem Bürgerkrieg führte der zunehmende Druck der Regierung, alles Indianerland für die weiße Bevölkerung zu öffnen, zum Verkauf des Kansas-Reservats. Den Erlös verwendete der Stamm zum Erwerb von Territorium in Oklahoma. Die Entdeckung großer Erdölfelder dort machte die Osage zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu wohlhabenden Leuten.

Durch ihren Reichtum wurden sie schnell zum Ziel von Verbrecherbanden, die versuchten, ihnen die lukrativen Landrechte abzunehmen. Zwischen 1921 und 26 wurden in einer „Osage Indian Murders“ genannten Gewaltwelle mindestens 60 Stammesmitglieder getötet. Erst, als das – damals sehr junge – FBI Mitte der 20-er Jahre die Ermittlungen übernahm, konnten die Morde aufgeklärt und das Töten gestoppt werden.

Im Film wird die Mordgeschichte anhand der Schicksale der 3 Protagonisten Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio), Mollie Kyle (Lily Gladstone) und William Hale (Robert De Niro) nachgestellt. Ernest kehrt 1919 von den französischen Schlachtfeldern des WK1 zurück in die USA und verdingt sich bei seinem Onkel William (genannt: der King) als Chauffeur. William hat es als Rancher in Oklahoma zu Wohlstand gebracht, und er gaukelt vor, Vertrauensperson und Wohltäter der Osage zu sein. Sein eigentliches Ziel besteht jedoch darin, für sich ein möglichst großes Stück vom Erdölkuchen abzuschneiden. Dafür ist ihm jedes Mittel recht: Er gibt Morde in Auftrag, lässt sich als Betreuer der Hinterbliebenen einsetzen und verheiratet seine männlichen Angehörigen mit Osage-Frauen. Nach der Hochzeit geraten diese unter die Vormundschaft ihrer weißen Männer. Die Damen werden aufgrund einer geheimnisvollen Krankheit, die nur die Indianer befällt, alle nicht alt, das Erbe geht an die Kinder und den Mann (der den Nachlass verwaltet). Auf diese Weise wechselt viel Land samt der darunter befindlichen Ölquellen den Besitzer. Auch Ernest muss auf Geheiß des Kings eine reiche Osage ehelichen. Deren Gesundheit ist bereits stark angegriffen, allzu lange kann es also nicht mehr dauern, bis er sie beerbt. Leider erweist sich die Dame zählebiger als erwartet, und sie will partout nicht auf natürlichem Weg sterben. Onkel William und Ernest beschließen deshalb, die Sache etwas zu beschleunigen. Zuerst aber müssen Mollies 3 Schwestern in die ewigen Jagdgründe befördert werden. Und so nimmt das Drama seinen Lauf.

Sittenbild von Habgier & Kapitalismus

KotF erzählt eine große Geschichte, deren Hauptzutaten Habgier, Lüge und enttäuschte/s Vertrauen & Liebe sind. Die Story basiert auf Tatsachen – sowohl die Handlung hat sich so zugetragen, als auch die Namen der Figuren entsprechen 1 zu 1 den historischen Vorbildern –; es ist aber trotzdem kein langweiliges Biopic – wie bspw. Oppenheimer – dabei herausgekommen, sondern ein spannendes Melodram. Was v.a. an diesen 3 Ingredienzien liegt:
 der Fokus wird stark auf die Interaktion zwischen Ernest (Leonardo DiCaprio) und Mollie (Lily Gladstone) gelegt
 bei den Dialogen waren die Drehbuchautoren völlig frei
 die gezeigte Zeitspanne umfasst nur wenige Jahre, womit mehr Raum für intensive Szenen bleibt.

Auf diese Weise entsteht ein modernes Sittenbild: Ist das, was im Osage Country passierte, symptomatisch für den (US-) Kapitalismus? Auf wie viel Rassismus & Unterdrückung, Lug & Betrug gründet unser westlicher Wohlstand? Welche Rolle spielte die Justiz, die bei 60 Morden nicht einschritt? Was für ein Arzt muss man sein, um seine Patienten nicht zu heilen, sondern ihnen im Auftrag der Erbschleicher Gift zu verabreichen? Diese Fragen sind bedrückend, die Antworten darauf noch deprimierender. Das ist alles Erdöl von gestern, sagen Sie und kann sich heute nicht wiederholen? Doch, es kann sich jederzeit wiederholen. Denn, wenn 1 gewiss ist, dann ist es die hartnäckige Langlebigkeit der menschlichen Habgier. Sobald die mit einer Rechtspflege Hand in Hand geht, die sich v.a. den Belangen der Mehrheitsbevölkerung verpflichtet fühlt, ist ein Verbrechen wie das, was vor 100 Jahren in Oklahoma geschah, jederzeit möglich. Die „Osage Indian Murders“ sind in Variationen zig tausend Mal auf unserem Planeten vollzogen worden (und werden es immer noch).

Es muss nicht immer Epos sein

Während Onkel William „nur“ geldgeil und perfide ist und dabei notfalls über (fremde) Leichen geht, erschrickt an Ernest vor allem, dass er selbst vor der schrittweisen Vergiftung der eigenen Frau und Mutter seiner Kinder nicht zurückschreckt, um an deren Vermögen zu gelangen. Wie viel Niedertracht ist nötig, um vordergründig von Liebe zu reden und hinterrücks das Insulin in den Spritzen, die er ihr täglich verabreicht, gegen ein langsam tötendes Toxikum auszutauschen? Die Passagen, in denen sich Mollie und Ernest über ihre Ehe unterhalten, sie ihm offenkundig zugetan ist und vertraut, während er sie mit treuem Augenaufschlag belügt, sind denn auch die anrührendsten und verstörendsten des gesamten Films.

Es wäre ein wirklich herausragendes Werk würde die Regie nicht der Versuchung erliegen, die Handlung zu einem Epos hochzujubeln. Jedoch ist KotF keine Heldensage, die à la „Little Big Man“ Leben und Niedergang eines Stammes über Jahrzehnte begleitet, sondern begnügt sich mit der Darstellung eines kurzen Zeitabschnitts. Auch passiert nichts Heroisches wie das letzte Aufbäumen gegen den Aggressor. Nicht die Osage lösen die Morde, sondern das FBI übernimmt das für sie. Es ist letztlich eine Kriminalgeschichte (egal, ob die Opfer einer diskriminierten Minderheit angehören und der Antrieb neben Habgier ebenfalls große Spuren Rassismus enthält), und die kann/sollte man deutlich schneller erzählen, als Scorsese es getan hat. Speziell die letzte Viertelstunde, als wir uns plötzlich in einer Radioshow befinden, in der das Drama nachgespielt wird, ist völlig überflüssig und wirkt wie nachträglich angeklebt. PS. an dieser Stelle: „Little Big Man“ kommt mit 60 Minuten weniger aus als „Killers of the Flowermoon“. Denselben Fehler hatte M.S. übrigens bereits mit „The Irishman“ begangen (der war ebenfalls sehr langatmig gewesen).

Lily Gladstone hat gute Chancen auf den diesjährigen Oscar

KotF ist eine solide Produktion, reicht allerdings nicht an Scorseses Meisterwerke „Taxi Driver“, „Wie ein wilder Stier“ und „Departed“ heran. Dennoch wurde der Film in 10 Rubriken für die diesjährigen Academy Awards nominiert; darunter in den 3 wichtigen:
(1) Best Picture
(2) Directing
(3) Actress in a leading role.

Während bei (1) der Favorit „Oppenheimer“ lautet (KotF jedoch veritable Außenseiterchancen besitzt), (2) wahrscheinlich auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Nolan und Scorsese hinausläuft, könnte (3) die glückliche Gewinnerin tatsächlich Lily Gladstone heißen. Zusätzlich zu ihrem überzeugenden Rollenspiel kommen ihr die seit diesem Jahr in Kraft tretenden neuen Inklusionsregeln entgegen, die u.a. mehr Diversität auf der Leinwand fordern.

Von mir gibt’s 7 Punkte.
+++

Killers of the Flowermoon
 Erscheinungsdatum: 19. Oktober 2023 (Deutschland)
 Direktor: Martin Scorsese
 Budget: 200 Millionen USD
 Drehbuch: Eric Roth & Martin Scorsese
 Produktion: Dan Friedkin, Daniel Lupi, Martin Scorsese, Bradley Thomas
 Vertrieb: Paramount Pictures
 Ensemble: Lily Gladstone, Leonardo DiCaprio, Robert De Niro, Brendan Fraser, Jesse Piemons, Scott Shepherd, John Lithgow.

Erhältlich auf/bei: Amazon Prime und apple tv.

PS. Der Titel „Flowermoon“ geht auf die indianische Vorstellung zurück, dass der Mond im Frühling die Blumen auf den Wiesen sprießen lässt. Unter solch einer Blumenwiese in Oklahoma entdeckten die Osage die erste Ölquelle.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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