Der alte (weiße) Oscar hat endlich ausgedient

Ab diesem Jahr gelten strenge Inklusionsbestimmungen bei der weltweit wichtigsten Preisverleihung im Filmbusiness. Was er von Tontechnikern hält, die der LGBTQIA+-Community angehören, und weshalb „Oppenheimer“ gemäß der neuen Diversitätsregeln eigentlich leer ausgehen müsste – darüber schreibt Henning Hirsch in seiner heutigen Serienjunkie-Kolumne.

Bild von kalhh auf Pixabay

Am 10. März ist es wieder soweit – die Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) verleiht zum 96-sten Mal die Academy Awards of Merit – dem Publikum eher unter dem Spitznamen „Oscar“ geläufig – in 23 Kategorien, darunter so exotisch anmutende wie: Make-up & Frisuren und Animierter Kurzfilm.

Am begehrtesten sind die Preise in diesen 5 Rubriken:
(1) Best Picture
(2) Directing
(3) Actor in a leading role
(4) Actress in a leading role
(5) Writing (gesplitted in: original sowie adapted Screenplay).

Ende Januar wurden die, bereits mit Spannung erwarteten, 23 Shortlists veröffentlicht. Bei den Filmen sind u.a. die zwei letztjährigen Blockbuster „Oppenheimer“ & „Barbie“ sowie die Netflix-Produktion Maestro in die engere Auswahl gelangt. Die nominierten Regisseure heißen Nolan, Scorsese, Glazer, Lanthimos & Triet und in den Kategorien „beste/r Haupdarsteller/in“ streiten u.a. Carey Mulligan & Sandra Hüller sowie Cillian Murphy & Bradley Cooper um die begehrte Trophäe.

Zweistufiges Auswahlverfahren

Also alles wie 95x zuvor? Nicht ganz, denn seit diesem Jahr gelten neue Inklusionsvorschriften. Bevor wir uns mit denen beschäftigen, gibt’s hier zwecks Einstimmung in das Thema erst mal die alten Bestimmungen zu lesen:

Jeder Spielfilm, der zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember eines Jahres im Gebiet von Los Angeles County mindestens sieben Tage lang in einem öffentlichen Kino gegen Entgelt gezeigt wurde, ist für die Oscars im darauffolgenden Jahr qualifiziert. Dabei wird der Begriff „Spielfilm“ definiert als ein Film, der mindestens eine Länge von 40 Minuten aufweist und als 35- oder 70-mm-Kopie oder als 24 bzw. 48 fps Digitalkinoformat (mit einer Mindestauflösung von 1280 × 720 Pixeln) gezeigt wurde.

Dabei ist es unerheblich, ob der Film US-amerikanischen oder ausländischen Ursprungs ist, sodass sich auch ausländische Filme außerhalb der Kategorie für den besten fremdsprachigen Film qualifizieren können. Am Ende jedes Jahres stellt die Akademie eine Liste der infrage kommenden Filme zusammen.
© Wikipedia (Schlagwort: Oscar)

Vorgeschaltet ist ein 2-stufiger Auswahlprozess:
(I) Die 10.000 (andere Quellen sprechen von 6.000.) Mitglieder der Akademie (Die Namen werden nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben, es sei denn, das Mitglied outet sich selbst. Aus dieser Geheimhaltung resultieren die unterschiedlichen Zahlenangaben) wählen ihre Favoriten aus (allerdings fachspezifisch eingegrenzt: Schauspieler votieren für Schauspieler, Cutter benennen Cutter, Sound-Spezialisten kreuzen Sound-Spezialisten an). Die 5 Namen, auf die pro Kategorie die meisten Stimmen entfallen, gelten als nominiert.
(II) In der zweiten Wahlphase haben die Mitglieder der Akademie nun die Möglichkeit, sich im akademieeigenen Filmtheater alle nominierten Filme kostenlos anzusehen. Zudem werden besondere DVDs mit den Filmen versandt. Bei der Wahl der Preisträger aus den Nominierten sind alle Mitglieder in allen Kategorien stimmberechtigt. Der Oscar wird an denjenigen Nominierten verliehen, der die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte.

Ausnahmen gelten für …:
 „Best picture“: hier können bis zu 10 Filme nominiert werden; und zwar von allen 10.000 (6.000) Mitgliedern
 „Directing“: nur die Regisseure, deren Filme innerhalb der Top 5 bei „Best Picture“ gelistet sind
 … die Spezialkategorien „Animierter Spielfilm, Dokumentarfilm, Kurzfilm, Fremdsprachiger Film, Make-up, Tonschnitt und Visuelle Effekte“ bei denen ein paar zusätzliche Regeln beachtet werden müssen.

Klingt alles erst mal halbwegs basisdemokratisch und ist es auch, v.a. im direkten Vergleich mit der Praxis der europäischen Filmpreise, wo jeweils eine Handvoll Experten über die Vergabe entscheidet. Natürlich können 10.000 (oder: 6.000) Filmschaffende hin und wieder irren, und natürlich passiert es häufig, dass ich als 08/15-Normalzuschauer mir eine andere Auswahl gewünscht hätte. Z.B. Alien Teil 1 zumindest auf der Shortlist und Apocalypse now als Gewinner 1980 [statt Kramer gegen Kramer]. Allerdings kommt man nicht umhin, der Academy zu attestieren, dass sie in Punkto Mitbestimmung deutlich breiter aufgestellt ist als ihre elitären Schwestern in Cannes und Venedig.

Zu viel weiß, zu wenig Farbe

Dennoch wird Hollywood das Stigma nicht los, bei den Preisen (v.a. in den wichtigen Kategorien) weiße Regisseure (hier zudem fast ausschließlich Männer) und hellhäutige Schauspieler (m/w) aufs Podest zu hieven. Neu ist dieser Vorwurf nicht – er wird bereits seit den 50-er Jahren erhoben –; allerdings nahm die Debatte im Verlauf der 88. Session (2016) an Schärfe zu, als sowohl bei den Regisseuren als auch Schauspielern (m/w) einzig weiße Kandidaten auf die Shortlists gelangten, obwohl es 2015 (abgestimmt wird immer über Filme, die im Vorgängerjahr in den Kinos liefen) ne Menge hervorragender Produktionen mit schwarzen Darstellern gegeben hatte, die jedoch sämtlich in der ersten Stufe des Auswahlverfahrens durchgefallen waren. Im Anschluss an die Nominierung artikulierten prominente PoC-Akteure wie Spike Lee und Will Smith deutlich ihr Missfallen, und die Akademie gelobte reumütig schleunige Besserung.

Niemand möchte darüber reden, aber in seiner Geschichte war Hollywood eine der rassistischsten Institutionen des Landes.
(c) Stanley Nelson (Regisseur)

Es ist eine weiße Industrie.
(c) Chris Rock (Schauspieler)

Es ist die rassistischste Industrie des Landes.
(c) Zoe Kravitz (Schauspielerin)

Auch ich habe immer noch mit Vorurteilen zu kämpfen.
(c) Will Smith (Schauspieler)

Es liegt an den Machtstrukturen in den Studios, in denen kaum schwarze Manager arbeiten.
(c) Spike Lee (Regisseur)

2 unterschiedliche Ansätze, um mehr Abwechslung zu gewährleisten

Diese Besserung soll auf 2 Wegen erreicht werden:
(I) Änderung der Zusammensetzung der Grundgesamtheit (der Abstimmungsberechtigten), indem man peu à peu neue Mitglieder aufnimmt, die bisher unterrepräsentiert sind (Frauen, ethnische Minderheiten, queere Menschen)
(II) 4 Diversitätsregeln, die unmittelbar auf jeden eingereichten Film angewandt werden:
 Standard A: Diversität auf der Leinwand
 Standard B: Diversität in der Crew
 Standard C: Zugang zur Filmindustrie und Möglichkeiten
 Standard D: Vielfalt beim Marketing.

Ich langweile Sie mit all den Regeln? Tut mir leid; aber ohne das Wissen um diese Bestimmungen macht es keinen Sinn, sich über zu wenig Vielfalt in Hollywood den Kopf zu zerbrechen. Aber keine Sorge, wir sind jetzt auch durch mit dem Pflichtprogramm und starten mit der Analyse-Kür.

Beginnen wir mit (I) die Änderung der Zusammensetzung der Abstimmberechtigten. Diese Blutauffrischung scheint dringend geboten, denn jahrzehntelang dominierten (nicht mehr ganz taufrische) weiße Männer die Akademie. Da der Altbestand lebenslange Mitgliedschaft genießt (die Zeitdauer wurde für die Neuankömmlinge mittlerweile auf 10 Jahre abgesenkt) und man nicht jedes Jahr ohne vorherige Prüfung der individuellen Eignung tausende weitere Experten aufnehmen kann, stellt diese Vorgehensweise logischerweise einen schrittweisen Prozess dar. Seit 2017 hat man so den Anteil Frauen in mehreren Aufnahmewellen auf über 30 Prozent erhöht, die entsprechende Zahl der Mitglieder mit Minderheiten-Hintergrund dürfte aktuell bei 15% liegen [aufgrund der bereits erwähnten Geheimhaltung handelt es sich zwangsläufig um Schätzwerte]. Bis der letzte stockkonservative weiße Regisseur gestorben ist und nur noch fortschrittliche PoC-u/o LGBTQIA+-Regisseurinnen über die Oscar-Würdigkeit einer Produktion entscheiden, wird es also noch einige Jahre dauern. So lange heißt es für die progressive Fraktion, sich in Geduld zu üben. Dennoch ist (I) sinnvoll, weil Herkunft und politische Ausrichtung der Jury selbstverständlich deren Bewertungsverhalten beeinflussen. Diversivitäts-Pfad (I) ist deshalb unumwunden zu bejahen.

Oppenheimer fiele hinsichtlich Diversität des Ensembles durch

Schwieriger sieht es hingegen mit den 4 neuen Regeln pro eingereichtem Film aus. Spielen wir das Ganze mal mit dem diesjährigen Topfavoriten „Oppenheimer“ durch: Regisseur Christopher Nolan = (alter) weißer Mann, Protagonist Cillian Murphy = männlich & weiß (GSD noch nicht so richtig alt), Emily Blunt (in der Kategorie „beste Nebendarstellerin“ nominiert) ebenfalls weiß, was übrigens für das gesamte Ensemble gilt. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn die Geschichte ist hauptsächlich in dem 2-Jahrzehnt von 1935 bis 1955 angesiedelt, und dort wiederum in der Welt der Physiker und Militärs, wo es halt kaum Frauen und noch weniger PoC gab. Man hätte, um die neuen Diversitätskriterien zu erfüllen, Oppenheimer von einem schwarzen Akteur spielen lassen können, u/o ihm eine Latina als Frau zur Seite gestellt. Das wäre dann allerdings historischer Nonsens gewesen, weshalb Nolan klugerweise darauf verzichtet hat. Ob Regel 1 alleine schon dadurch erfüllt ist, weil Oppenheimer Jude war, bezweifele ich, denn die Frage seiner Religion [und der daraus evtl. folgenden Benachteiligung im Vor-WK2-Amerika] wird im Film an keiner Stelle vertieft; die Autoren konzentrieren sich völlig auf Entwicklung & Bau der Bombe [und die nachträglichen Zweifel des Protagonisten, als ihm die Zerstörungskraft seiner Erfindung bewusst wird]. „Oppenheimer“ ist eine zutiefst männerlastige & weiße Produktion und hätte folglich gemäß der neuen Diversitätsbestimmungen gar nicht auf die diesjährige Shortlist gelangen dürfen.

Es sei denn, man nimmt den Umweg über die Regeln 2 bis 4 = schwule Tontechniker*innen, PR-Angestellte mit lateinamerikanischem Migrationshintergrund und Beleuchter:innen, die einen Schwerbehindertenausweis besitzen. Und spätestens hier wird klar, dass (II) hinsichtlich der Intention, die beste Produktion eines Kalenderjahres küren zu wollen, in die Irre führt. Mir als Zuschauer ist es völlig egal, ob und wie viele PoC-Cutter & schwule Makeup-Spezialisten am Set arbeiteten, mich interessiert nicht, ob Marketing & PR von weiblichen oder männlichen Angestellten in die Hand genommen wurden, die genderfluide Orientierung des/der Kameramanns(frau juckt niemanden. Ich gucke mir nen Film an, und die erzählte Geschichte und der Handlungsbogen ziehen mich entweder in ihren Bann oder eben nicht. Und speziell beim Handlungsbogen fand ich „Oppenheimer“ langatmig bis hin zu streckenweise zäh. Ich würde diesen Streifen definitiv nicht auf Nr. 1 setzen; aber die Geschmäcker sind halt (stark) unterschiedlich, weshalb ich kein Problem damit hätte, falls die Little-Boy-&-Fat-Man-Story am 10. März den Oscar abräumt. Sie erhielte den Preis dann aber aufgrund ihrer überragenden künstlerischen Qualität und nicht, weil sie den neuen Diversitätsvorgaben genügt.

Man muss es nicht gleich so drastisch wie Richard Dreyfuss formulieren:

Sie [die Inklusionsvorgaben] bringen mich zum Kotzen,

jedoch so ganz Unrecht hat er nicht, wenn er weiter ausführt: „Niemand soll mir als Künstler vorschreiben, mich der neuesten und aktuellsten Vorstellung von Moral beugen zu müssen. Man muss das Leben Leben sein lassen.“

Wo bleibt die Würdigung der Barbie-Regisseurin?

Mit diesem plakativen Zitat aus dem Munde eines Oscar-Preisträgers könnten wir die Kolumne eigentlich beenden, wenn’s nicht auch im Vorfeld der diesjährigen Verleihung einen kleinen Skandal gegeben hätte, auf den wir, weil er zum Thema „mangelhafte Diversität“ gut passt, noch kurz eingehen wollen: und zwar die (erneute) Nicht-Berücksichtigung von Greta Gerwig in der Kategorie „Directing“. Obwohl ich mich als alter, weißer, misogyner Mann von „Barbie“ nur mäßig unterhalten fühlte, und der politisch hyperkorrekte Witz jetzt auch nicht unbedingt meinen Humornerv trifft, erkenne ich trotzdem ne super Regiearbeit, sobald ich eine sehe. Und diesbezüglich lieferte Gerwig eine weitaus überzeugendere Leistung ab als Nolan, dessen „Oppenheimer“ erzähl- und kameratechnisch konventionell – mitunter sogar bieder – daherkommt. Warum die Frau, die die kommerziell erfolgreichste Produktion des vergangenen Jahres ins Kino brachte, bei den Top-5-Regisseuren nicht berücksichtigt wird, versteht man(n) als Nicht-Experte nicht, lässt aber vermuten, dass die Jury nach wie vor von (alten) Männern dominiert wird, die den Regisseurberuf als ihre ureigene Domäne betrachten. Die unterlassene Nominierung von Greta Gerwig stellt tatsächlich ein Ärgernis dar [und nicht wie viele Schwarze, Frauen und Schwule in „Oppenheimer“ (nicht) mitspielen].

Wir wollen am Ende dieser Kolumne Folgendes festhalten:
 die Nominierungen in Hollywood laufen – trotz aller Kritik am Auswahlprozess – weitaus demokratischer als bei uns in Europa ab
 an der Diversität muss gearbeitet werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist Weg (I), auch wenn er den langwierigeren bedeutet, sinnvoller als Alternative (II)
 über allem muss aber weiterhin der Aspekt „künstlerische Qualität“ stehen [dass dieser Begriff dehnbar ist, und die Interpretation stets im individuellen Auge des Betrachters liegt, ist mir durchaus bewusst].

Merke: Mehr Diversität bedeutet nicht zwangsläufig mehr Kunst.

PS. Welchen Film [von der Ende Januar veröffentlichten 10er-Liste] ich persönlich bevorzuge? Kann ich abschließend noch nicht sagen, weil ich bisher erst die Hälfte davon gesehen habe. Von denen gefällt mir „Killers oft he flower moon“ am besten.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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