Amok, die Naturkatastrophe
Der Amoklauf von Hamburg erschüttert das Land. Lassen sich solche Taten verhindern? Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.
Ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas tötet in deren Gemeinde vier Männer, zwei Frauen und einen 28 Wochen alten Fötus im Leib der Mutter mit Pistolenschüssen, bevor er von zufällig am Tatort auftauchenden Polizeibeamten einer Sondereinheit an weiterem Morden gehindert wird, in die erste Etage flieht und sich dort erschießt.
Der Amokläufer war Sportschütze, hatte die Waffe und die Munition legal erworben und war kurz zuvor noch überprüft worden, weil es eine anonyme Anzeige gab, wonach er an einer psychischen Erkrankung leiden würde. Die Überprüfung verlief unauffällig, weil der Verdächtige sich kooperativ verhielt und die Beamten keine psychischen Auffälligkeiten feststellen konnten und die Waffen und Munition auch brav im Waffentresor verstaut waren.
Kaum möglich
Tja, da kann man nichts machen. Amoktaten zu verhindern ist kaum möglich. Natürlich wären noch schärfere Waffengesetze grundsätzlich eine gute Sache. Warum müssen Sportschützen ihre Waffen zu Hause lagern? Ginge doch auch an der Sportstätte. Aber mal ganz ehrlich, selbst wenn der legale Erwerb von Waffen erschwert würde, es wäre doch kein Problem, sich innerhalb von ein paar Tagen eine illegale Waffe zu besorgen. Ich habe schon eine ganze Reihe von Angeklagten vertreten, die sich irgendwann mal, häufig in Belgien, eine Waffe gekauft haben. Einfach so, ohne sie jemals zu benutzen. Die illegalen Waffenhändler werden sich an neue Gesetze so wenig halten, wie an die alten. Und dass umgekehrt ein potenzieller Täter durch nichts und niemanden zu stoppen ist, wenn er sein Vorhaben nicht vorher großartig kommuniziert, haben wir in deutlicher Weise gezeigt bekommen.
Waffen
Selbst wenn nicht jeder mehr oder weniger problemlos an eine Schusswaffe käme, dann würde das einen Anschlag für den ein oder anderen zwar etwas erschweren. Aber wie wir in Nizza oder Berlin gesehen haben, tut es für einen effektiven Massenmord auch schon mal ein LKW. Den kann jeder, der einen Führerschein hat, für kleines Geld leihen. Er kann aber auch einfach einen klauen. Da braucht er nicht mal einen Führerschein. Oder er kauft sich die Zutaten für einen Sprengsatz im nächsten Baumarkt, oder er bastelt sich ganz einfach Brandsätze mit Benzin, einer Flasche und einem Lappen. Er könnte auch alles miteinander kombinieren. Der perversen Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Ich hätte da noch eine Menge Ideen, aber die verwende ich dann lieber hier nicht, um niemanden auf dumme Gedanken zu bringen. Die weichen Ziele sind vielfältig und gar nicht zu schützen. Kirchen, Kindergärten, Altenheime, Krankenhäuser, Volksfeste, Karnevalszüge, Konzerte, Einkaufszentren, Fußgängerzonen – wie soll man die alle ständig im Auge behalten? Es ist auch kein spezielles Terrortraining erforderlich. Töten kann jeder Depp mit einfachsten Mitteln.
Und wenn nun wieder irgendwelche selbsternannte Sichehrheitsexperten irgendwelche Maßnahmen vorschlagen, vergessen Sie es.
Psychologische Hilfe
Ja, man kann etwas tun, aber das kostet Geld und ist nicht populär. Interessant ist nämlich, dass die festgestellten psychischen Störungen von Amoktätern bisher kein Grund dafür waren, dass einer der in der Öffentlichkeit aufgetretenen Politiker sich einmal Gedanken über die Versorgung der Menschen mit solchen Problemen gemacht hat. Nicht sexy genug? Klingt nach Weichei und nicht nach Krieger? Mag sein. Dennoch wäre da ein lohnender Ansatz.
Haben Sie schon einmal versucht, einen Termin bei einem Psychotherapeuten zu bekommen? Machen Sie mal den Selbsttest. Wenn es Ihnen gelingt, innerhalb von 3 Monaten einen Termin zu bekommen, sind sie schon bei den Schnellsten. Könnte vielleicht für Selbstzahler und Privatpatienten klappen, aber als Kassenpatient? Keine Chance. Die meisten niedergelassenen Psychologen und ärztlichen Psychotherapeuten haben ellenlange Wartelisten. Und wenn man dann endlich einen gefunden hat, muss das nicht bedeuten, dass es der richtige ist. Warum das so ist?
Psychische Erkrankungen sind Volkskrankheiten [1]. Jährlich erfüllt mehr als jeder vierte Erwachsene in Deutschland die Kriterien einer voll ausgeprägten Erkrankung. Unterschiede in den Häufigkeiten zeigen sich vor allem zwischen den Geschlechtern, verschiedenen Altersgruppen und sozioökonomischen Milieus. Es wird angenommen, dass nur die Minderheit der Betroffenen aufgrund ihrer psychischen Beschwerden in Behandlung ist.
Die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems hat jedoch über die letzten Jahrzehnte stark zugenommen.Häufigkeit psychischer Erkrankungen
Basierend auf epidemiologischen Studien sind in Deutschland jedes Jahr 27,8 % der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen [2]. Dies entspricht mit 17,8 Millionen Menschen der Einwohnerzahl von Nordrhein-Westfalen. In der gesamten Europäischen Union wird von
bis zu 164,8 Millionen betroffenen Menschen ausgegangen [3]. Damit treten psychische Störungen genauso häufig auf wie andere Volkskrankheiten, etwa Bluthochdruck [4].
Nun sind zwar psychisch Kranke keineswegs häufiger kriminell als andere Menschen. Bei Amoktätern dürfte das allerdings anders sein, jedenfalls zum Zeitpunkt der Tat.
Bis man einen Therapeuten gefunden hat, werden von HausärztInnen gerne Psychopharmaka verschrieben. Das dürfen die, auch wenn sie nicht immer wissen, was sie damit womöglich anrichten. Bestimmte Antidepressiva wirken zunächst antriebssteigernd und erst nach längerer Einnahme auch im eigentlichen Sinne antidepressiv, d.h. ein Depressiver, der bisher wegen seiner Depression zwar Suizid- oder Amokgedanken hatte, sie aus Antriebslosigkeit aber nicht umsetzen konnte, schafft es nun mit freundlicher medikamentöser Unterstützung, sich und vielleicht auch andere Menschen umzubringen. Psychoaktive Substanzen gehören in die Hände von Fachärzten, aber die sind nun mal Mangelware. Warum lässt man nicht einfach mehr Menschen zum Medizinstudium zu, wenn man sie so dringend braucht? Warum muss ein Abiturient, der zwischenzeitlich schon mal eine Ausbildung zum Krankenpfleger erfolgeich bsolviert hat, über 6 Jahre auf einen Studienplatz warten?
Um schnell und zuverlässig eine psychiatrische Behandlung zu bekommen, muss man schon eine kleine Gewalttat oder einen Suizidversuch begehen, dann wird man wenigstens per PsychKG in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Ja, das ist vielleicht zynisch und auch nicht ganz ernst gemeint. Aber es ist nicht so sehr zynisch von mir, als vielmehr von einem Staat, der die psychologische Versorgung der Bevölkerung sträflich vernachlässigt und damit nicht nur die Kranken im Stich lässt, sondern auch erhebliche Gefahren in Kauf nimmt.
Unter den bei uns lebenden Menschen aus diversen Kriegsgebieten sind viele traumatisierte zu erwarten. Auch die brauchen eine schnelle fachärztliche oder psychologische Behandlung. Die können sich unbehandelt zu Zeitbomben entwickeln und sind selbstverständlich, wenn sie ohne qualifizierte Hilfe bleiben, ein gefundenes Fressen für die Werber von Terrorgruppen.
Mobbing und Stalking
Ein weiteres lohnendes Feld für eine mittelfristige Prophylaxe wären qualifizierte Mobbingberatungsstellen. In Schulen sollte so etwas Standard werden und zwar nicht als Alibi-Lallakram durch irgendeine wöchentliche Sprechstunde desjenigen Lehrers, der als erster gezuckt hat, sondern durch stets ansprechbare speziell ausgebildete Pädagogen und Psychologen.
Außerhalb von Schulen sollten ebenfalls bessere Antimobbing-Beratungen und praktische Hilfen bei Stalking kostenlos angeboten werden. Mobbing gibt’s halt auch am Arbeitsplatz und überall, wo Menschen zusammentreffen. Natürlich wird nicht jeder Gemobbte zwangsläufig zum Amokläufer, aber die meisten Amokläufer hatten wohl in der Vergangenheit schon eher unerquickliche Erlebnisse mit ihren Mitmenschen. Bei den Schulmassakern dürfte Mobbing – sei es durch Mitschüler oder auch durch Lehrer – kein gering zu schätzendes Puzzlestück in der Entwicklung hin zur Tat spielen.
Lassen Sie sich von den vollmundigen Worten selbsternannter Sicherheitspolitiker nicht ins Bockshorn jagen. Die „einfache“ Lösung gibt es nicht. Gäbe es sie, wäre sie garantiert irgendwo auf der Welt erfolgreich eingeführt worden. Gebraucht werden jetzt keine Schnelllaberer, sondern eine ruhige Aufarbeitung und Analyse der Geschehnisse und eine Gesellschaft, die entschlossen ist und bleibt, sich nicht panisch selbst die Freiheiten zu nehmen, die unsere Wert- und Rechtsordnung garantiert. Freiheiten verteidigen heißt erst mal sie zu erhalten und zu leben.
Helden
Ein großes Lob und meine große Anerkennung gilt den mutigen Polizeibeamten, die sich ohne zu zögern – und sogar ohne erst noch die Helme aufzusetzen – schnellen Zugang zum Tatort verschafft haben und vermutlich den mit weiteren 20 vollen Magazinen bestückten Mörder an weiteren Morden gehindert haben. Das sind die wahren Helden dieses Dramas.
Wir anderen sollten uns vielleicht einmal bewusst machen, dass ein Amoklauf eher mit einer Naturkatastrophe wie einem Vulkanausbruch, einem Erdbeben oder einer Flutkatasptrophe zu vergleichen ist als mit einem gewöhnlichen Mord. Er kommt aus heiterem Himmel, ist nicht vorhersagbar und kaum bis gar nicht zu verhindern. Das ist nicht schön, aber macht uns bewusst, dass auch wir Menschen Teil der Natur und damit letztlich unberechenbar sind