Schneller, Härter, Laber

Nach den Silvesterkrawallen in Berlin und anderen Orten gibt es die üblichen Forderungen aus der Politik nach härteren Strafen und die wohlbekannte Hetze der Boulevardmedien gegenüber Migranten. Eigentlich schade. Es wäre ein guter Anlass, sich um die wahren Ursachen zu kümmern. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.


Bild von Med Ahabchane auf Pixabay

Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) meinte, angesichts der Gewalt von Kindern und Jugendlichen sei ein Umdenken in der Justiz erforderlich. Wichtig sei eine schnelle und konsequente Ahndung der Straftaten, insbesondere bei jugendlichen Mehrfachtätern, sagte Giffey, die zusammen mit Bundesinnenministerin Faeser die Feuerwache Neukölln besuchte. Die Frage sei: „Wie sehr setzen wir uns dafür ein, dass die Strafe auf dem Fuße folgt. Dass junge Täter noch wissen, wofür sie verurteilt werden.“ Boris Palmer nutzte die Gelegenheit, um für sein Buch „Wir können nicht allen helfen“ zu werben. Also alles wie immer. Ach nee, ein CDU-Mann aus Berlin will die Vornamen der deutschen Täter wissen, um was auch immer daraus folgern zu können.

Äh ja. Das mag in der Tat eine Frage sein. Allerdings eine Frage, die von Fachleuten – vor allem auch innerhalb der Justiz – seit Jahren gestellt wird. Die Antwort auf diese eine Frage kann allerdings nicht die Justiz, sondern können nur die Politik und die Gesellschaft geben.

Zu langsam

Dass Gerichtsverfahren, auch im Bereich des Jugendstrafrechts viel zu lange dauern, hat einen einfachen Grund: Sowohl die Ermittlungsbehörden als auch die Jugendgerichte, die Jugendgerichtshilfe, Kinder- und Jugendpsychologen haben viel zu geringe Kapazitäten, um die grundsätzlich richtige Forderung, dass die „Strafe auf dem Fuße“ folgen sollte, auch nur ansatzweise zu erfüllen. Ganz gleich um welche Taten von Jugendlichen und Heranwachsenden es sich handelt, es dauert alles viel zu lange.

Dabei sind die größten Versäumnisse ja eh schon passiert, wenn ein Jugendlicher erst mal eine Straftat begangen hat. Und wenn sich ganze Gruppen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf den Straßen zusammen tun, um Straftaten zu begehen, Rettungskräfte anzugreifen, Feuer zu legen und Barrikaden zu bauen, dann ist im Vorfeld verdammt viel schiefgelaufen.

Wer wirklich etwas bewirken möchte, der sollte sich nicht nur darauf konzentrieren, mit schnelleren und härteren Strafen zu reagieren, der sollte vielmehr Zeit und Geld darein investieren, solche Entwicklungen zu verhindern.

Hetze

Hach ja, BILD, der Wendt und die üblichen Verdächtigen haben die Wurzel des Übels bereits erspäht, bevor überhaupt das erste Ermittlungsverfahren abgeschlossen ist. Missglückte Integration, zu wenig Abschiebungen, der übliche rassistische Erklärungsansatz. Und wie üblich zu kurz gedacht, falls überhaupt gedacht.

Dass es bei Massengewalt in Neukölln einen erheblichen Anteil von Tätern mit Migrationshintergrund gibt, ist nicht so wahnsinnig verwunderlich. Denn die Bevölkerung Neuköllns betrug laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg mit Stand vom 30.06.2021 insgesamt 327.073 Personen. Der Anteil der Neuköllnerinnen und Neuköllner mit Migrationshintergrund betrug 153.151 Personen aus 155 verschiedenen Ländern. Wenn nun knapp die Hälfte der Neuköllner Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat, dann stellt sich dies auch in der Zusammensetzung der Tatverdächtigen dar.

Das Stichwort von der Kuscheljustiz macht regelmäßig die Runde. Es würde zu wenig eingesperrt, die Jugendrichter seien Weicheier und Sozialromantiker, die Jugendlichen würden über die Entscheidungen nur lachen und danach munter weiter Straftaten begehen. Das Letztere stimmt nur für einen sehr kleinen Teil der straffällig gewordenen Jugendlichen, die Intensivtäter, die es auch ganz unabhängig vom Migrationshintergrund gibt.

Die sind aber eben nicht die Regel. Bei vielen Menschen, leider auch bei Politikern, scheint der Eindruck einer zu nachgiebigen Strafjustiz bei Jugendlichen lediglich auf der Unkenntnis des Jugendstrafrechts gepaart mit intensiven Kenntnissen der Boulevardpresse oder aufgeregter Blogs zu beruhen. Die Strafen, die für Erwachsene verhängt werden, gelten für Jugendliche eh nie und für Heranwachsende nur, wenn auf sie Erwachsenenstrafrecht Anwendung findet.

Jugendliche sind keine Erwachsenen

Einige Leser werden schon den Unterschied zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden nicht kennen. Jugendliche sind Menschen die mindestens 14 aber noch nicht 18 Jahre alt sind, also die 14–17-jährigen. Für die gilt, wenn sie überhaupt schon die erforderliche Reife haben, das Unrecht ihrer Tat einzusehen, immer das Jugendstrafrecht. Für die 18–20-jährigen kann entweder Jugendstrafrecht oder auch Erwachsenenstrafrecht angewendet werden, je nachdem, ob der Heranwachsende von seinem Reifezustand zur Tatzeit im Hinblick auf die konkrete Tat noch einem Jugendlichen gleichzustellen war oder eine jugendtypische Tat begangen hat oder eben nicht. Es gibt eine ganze Menge von Heranwachsenden, die auch mit 20 Jahren noch völlig verpeilt und unreif sind und beim besten Wille nicht erwachsen genannt werden können. Sogenannte Reifeverzögerungen können die unterschiedlichsten Gründe haben. Die enden auch nicht abrupt, sobald jemand 21 wird, aber dann muss halt zwingend Erwachsenenstrafrecht Anwendung finden, auch wenn der Erwachsene mit seinem kindlichen Gemüt mittlerweile eine TV-Show moderieren sollte oder als Influencer dicke Kohle scheffelt.

Es kommt auf die Reife zur Tatzeit an, nicht auf die zum Zeitpunkt der Verurteilung. Es ist also nichts Merkwürdiges, wenn ein über 90-jähriger KZ-Helfer heute nach Jugendstrafrecht verurteilt wird, wenn er damals noch unter 21 war. Auch wenn man den heute sicher nicht mehr erziehen kann.

Anderer Ansatz

Das Jugendstrafrecht hat einen völlig anderen Ansatz als das Erwachsenenstrafrecht.

Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten,

heißt es in § 2 Abs. 1 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG).

Es geht also schon vom Ansatz her nicht in erster Linie darum zu strafen, zu vergelten oder gar andere abzuschrecken, sondern mit geeigneten pädagogischen Maßnahmen zu erreichen, dass der Jugendliche künftig auf die richtige Schiene für ein straftatenfreies Leben gerät. Jugendstrafrecht ist Erziehungsstrafrecht. Allerdings nur Erziehung zur Straffreiheit, nicht zu einem guten Menschen.

Vorbeugen

Viel schöner wäre es natürlich, wenn es gar nicht so weit käme, dass das Jugendstrafrecht angewendet werden müsste. Und gerade da sind die Politiker gefragt, die oft gerne von den eigenen Versäumnissen ablenken und die Schuld bei der Justiz suchen.

Gäbe es tatsächlich für alle Kleinkinder gut ausgestattete Kindergärten, die auch eine wichtige Rolle bei der Sprachentwicklung und bei der Integration haben würden, und gäbe es darüber hinaus eine Pflicht für alle Kinder, diese Einrichtungen auch zu besuchen, dann wäre schon viel gewonnen. Ja, es gibt Schulklassen, in denen kaum noch jemand Deutsch spricht. Das liegt aber nicht daran, dass die SchülerInnen das nicht gerne lernen oder sprechen würden, sondern daran, dass sie keine Gelegenheit hatten, es frühzeitig zu lernen. Das würde eine Menge Geld kosten, aber es würde auch eine wesentlich größere Mengen Geld sparen.
Und auch in den Schulen könnte wesentlich mehr gemacht werden, als den immer gravierenderen Mangel an Lehrkräften zu verwalten. SchulpsychologInnen, SozialarbeiterInnen, aber auch einfach ehrenamtliche Ansprechpartner und Schulbegleiter sind immer noch Mangelware.

Bildungschancengleichheit

Das führt ja auch zu dem in Deutschland stark ausgeprägten Phänomen, dass Kinder, die nicht aus Akademikerhaushalten stammen, es kaum auf die Universitäten schaffen. Das ist seit Jahren so, und es ändert sich kaum etwas.

Wir können uns nicht erlauben, das in den Kindern und Jugendlichen gründende Potenzial sinnlos verfallen zu lassen. Wer wertgeschätzt wird, wird kaum noch Zukunftsängste oder Wut auf die Gesellschaft entwickeln. Klar kann man hingehen und seine Ressourcen in repressive Maßnahmen stecken, statt die Ursachen für Straftaten zu ergründen und zu bekämpfen. Sinnvoll ist das aber nicht.

Ja, es wäre hilfreich, wenn die Justiz die Mittel in die Hand bekäme, die Sanktion auf dem Fuße folgen zu lassen. Ob diese Sanktion zwingend immer eine Strafe sein muss, steht aber auf einem ganz anderen Blatt. Es fehlen viel zu viel Zeit und auch pädagogische und psychologische Kenntnisse, um für jeden jugendlichen Straftäter die Sanktion zu finden, die ihn wieder auf den richtigen Weg bringt. Die ihn nicht einfach kleiner macht, sondern ihm eine Perspektive aufzeigt.

Die simplen Lösungen geben zwar die besseren Schlagzeilen, das Schneller-Härter-Länger ist aber selten die Lösung.

Deshalb muss im Jugendstrafrecht auch nicht jede Straftat unbedingt gleich zu einer Hauptverhandlung oder gar zu einer Verurteilung führen. Es gibt im Jugendgerichtsgesetz reichlich Möglichkeiten, die Verfahren schon auf der Ebene der Staatsanwaltschaft einzustellen. Häufig reicht bereits die Tatsache, dass sich die Staatsanwaltschaft überhaupt mit dem Jugendlichen beschäftigt hat, um ihn hinreichend zu beeindrucken.

Vermutlich werden gerade Sie jetzt die seltene Ausnahme sein, aber nahezu jeder Mensch begeht im Laufe seiner Jugend mindestens einmal eine Straftat. Das muss gar nichts Dramatisches sein, aber es gehört zu einer völlig normalen Entwicklung und ist kein Grund für Panik und Schnappatmung, weder bei den Eltern noch bei der Gesellschaft. Gerade die Eltern von im Prinzip harmlosen Jugendlichen, die einmal Scheiße gebaut haben, sehen oft schon eine kriminelle Karriere am Horizont ihrer Sprösslinge und neigen zu erzieherischen Überreaktionen. Da muss man als Verteidiger häufig die Jugendlichen vor den eigenen Eltern in Schutz nehmen, deren Sanktionen weit über das vernünftige Maß hinausgehen. In der Pubertät ist der Mensch zwar nicht zwingend ein Irrer, aber er ist jedenfalls nicht einfach. Regeln zu brechen und Grenzen auszutesten ist Bestandteil einer gesunden Entwicklung. Diejenigen, bei denen das von den Eltern massiv unterdrückt wird, haben später häufig Probleme im Leben. Gerade die Überbehüteten ticken häufig auf einer Klassenfahrt aus und saufen sich ins Koma. Alle Menschen haben eine individuelle Geschichte. Sie werden höchst hilflos und unfertig geboren. Deshalb brauchen sie Eltern, die sie körperlich und emotional anleiten, um zu sozialem Handeln befähigt zu werden. Das muss nicht zwingend die klassische Familie mit Vater, Mutter, Kind sein, aber es muss eine Familie sein, die den Kindern einen geschützten Raum bietet, in dem sie sich entwickeln und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln können. Da wo Missbrauch und Gewalt in den Familien herrscht, muss der Staat sein Wächteramt besser ausüben. Ja, auch die Jugendämter brauchen mehr Personal, damit sie das wirklich tun können und nicht ein Großteil der Kindeswohlgefährdungen gar nicht erst wahrgenommen wird. Unsere Kinder und Enkelkinder sind unser größter Schatz, den wir hüten müssen, ohne ihn zu überhüten.

Immerhin interessieren diese überaufgeregten Helikoptereltern sich noch für ihre Kinder und deren Zukunft.

Fürsorgepflicht

Anderen geht dieses Interesse vollkommen ab. Die kommen auch weder mit zu einer Besprechung, noch nehmen sie an der Verhandlung gegen ihr Kind teil. Keine Lust, nicht aus dem Bett gekommen, noch oder schon wieder besoffen. Gar nicht selten, dass mich da eine Wut packt und ich mir wünschen würde, es würde ab und an mal ein Verfahren nach § 171 StGB gegen diese Uneltern eingeleitet. Ja, es gibt tatsächlich eine Erziehungspflicht und eine Fürsorgepflicht, deren Verletzung jedenfalls theoretisch bestraft werden könnte.

§ 171 Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht

Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter sechzehn Jahren gröblich verletzt und dadurch den Schutzbefohlenen in die Gefahr bringt, in seiner körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, einen kriminellen Lebenswandel zu führen oder der Prostitution nachzugehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Angeklagt wird das so gut wie nie. Letztlich ist das vermutlich sogar besser, weil die Kinder bei einer Bestrafung der Eltern häufig mit Kasalla rechnen dürfen – und damit meine ich keine Freikarte zu einem Konzert der gleichnamigen Band aus der Stadt mit K oder ein Treffen mit Thorsten Legat, sondern Prügel.

Nun, bei den meisten Jugendlichen ist der Ausflug in die Kriminalität ein vorübergehender Zustand, der sich von selbst wieder gibt und ohne bleibende Schäden abgeht. Nein, ich schreibe hier jetzt nicht, welche Straftaten ich so mit 15, 16 Jahren begangen habe und es waren auch keine schwerwiegenden, aber es waren schon einige, von denen allerdings bis auf eine Sachbeschädigung kein Mensch was mitbekommen hat. Mit 16 bin ich die gesamte Bundesligasaison zu den Heimspielen von Fortuna Köln gefahren und habe kein einziges Mal ein Ticket für die KVB gekauft. Das wäre damals in der Fangruppe geradezu peinlich gewesen. Unsere damalige Hymne war „Müngersdorfer Stadion“ von Zeltinger.

Ich fahr schwatz met de KVB,
die Markfufzisch dät denne och nit wieh,
ich fahr schwatz mit de KVB,
dä Hals voll krieje de Bonze nie.

Trotz dieser kriminellen „Karriere“ ist dann noch was aus mir geworden. Aus der Fortuna leider nicht.

Es ist schade, dass es der Politik nicht gelingt, einmal nur die richtigen Lehren aus solchen Ereignissen wie an Silvester zu ziehen. Immer wieder stereotyp nach härteren und schnelleren Strafen zu rufen, wird für die Zukunft gar nichts ändern. Was wir brauchen ist Bildung, Erziehung und (auch wenn der Spruch ursprünglich von der BILD stammt) ein Herz für Kinder.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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