5 Watschen für das OLG – Ein verfassungswidriger Haftbefehl
Das Bundesverfassungsgericht hat einen vom OLG München erlassenen Haftbefehl im Zusammenhang mit dem im vergangenen Dezember auf dem Heimweg vom Augsburger Weihnachtsmarkt getöteten Feuerwehrmann für verfassungswidrig erklärt. Ein gute Entscheidung, in der noch einmal ganz deutlich gemacht wird, was einen Haftbefehl ausmacht – und was nicht. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz
Erinnern Sie sich an meine Kolumne „Täterversteher“ vom 14.12.2019? Falls nicht, empfehle ich, da noch mal reinzulesen, weil ich mich ungern wiederhole.
Gegen alle Beteiligten der Gruppe von Jugendlichen mit denen der getötete Mann zusammengestoßen war, erließ der Augsburger Haftrichter Haftbefehle. Auch gegen diejenigen, die den einen Schlag – und es war nur einer – gar nicht abgegeben hatten, sondern, wie das Video vom Vorfall zeigt, nur in der Nähe herumstanden, ohne das Opfer zu attackieren.
Ich schrieb damals:
Ob die eilfertig erlassenen Haftbefehle wegen des Verdachts des Totschlags das Weihnachtslicht noch erblicken werden, ist eher unwahrscheinlich.
Und wie erwartet hob dann das Landgericht Augsburg am 23.12.2019, also exakt einen Tag vor Heiligabend, die Haftbefehle gegen die Nichtschläger auf. Damit hätte es sein Bewenden haben können, denn diese Entscheidung war goldrichtig.
Mia san mia
Nun wäre die Justiz in Bayern aber nicht die Justiz in Bayern, wenn sie nicht allzeit zur Demonstration besonderer Härte bereit wäre. Es ist schon ein Unterschied, ob sie es als Beschuldigter mit der Staatsanwaltschaft in Köln oder Berlin oder halt mit den Bayern zu tun haben. Mia san mia und so. Da die Strafprozessordnung für alle dieselbe ist, dürfte das eigentlich nicht so sein, aber es ist nun mal so. Das wird Ihnen jeder Strafverteidiger bestätigen können. Ähnlich knorrig geht’s sonst nur in den östlichen Bundesländern zu.
Es kam also wie es kommen musste, und das Oberlandesgericht München setzte die Haftbefehle unter dem Jubel der Erregtbürger wieder in Kraft. Damit war der ordentliche Rechtsweg erschöpft, und viele Möchtegernverteidiger hätten an dieser Stelle das Handtuch geworfen. Es ist aber immer wieder schön zu sehen, dass es doch noch Vertreter unserer viel gescholtenen Zunft gibt, die sich richtig ins Zeug legen, wenn es um die Rechte ihrer Mandanten geht. Hier ist der Verteidiger Felix Dimpfl zu nennen und zu rühmen, der eben nicht klein bei gab, sondern eine Verfassungsbeschwerde einlegte, mit der er eine Verletzung des Grundrechts der Freiheit der Person seines Mandanten rügte.
Watschen
Und nun bekam das OLG München aus Karlsruhe ein paar Watschen, die sich gewaschen haben.
Zunächst stellte das Gericht noch einmal klar, was es mit dem Grundrecht aus Art. 2 GG auf sich hat:
Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit. Zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen.
Zu den Voraussetzungen eines Haftbefehls stellt es klar:
Vor einer Verurteilung ist der Eingriff in die Freiheit eines Beschuldigten nur hinzunehmen, wenn und soweit einerseits wegen dringenden, auf konkrete Anhaltspunkte gestützten Tatverdachts begründete Zweifel an der Unschuld des Verdächtigen bestehen, andererseits der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als dadurch, dass der Verdächtige vorläufig in Haft genommen wird. Der für die Anordnung von Untersuchungshaft erforderliche dringende Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) liegt deshalb nach allgemeiner Auffassung nur vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer eine Straftat begangen hat.
Das hätte das OLG auch so wissen müssen, denn nichts anderes hat das Bundesverfassungsgericht bisher immer gesagt.
Dann führt das Gericht noch ganz harmlos aus, dass die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den konkreten Fall Sache der dafür zuständigen Fachgerichte ist, und das Verfassungsgericht nur in Ausnahmefällen eingreifen kann. Und dann kommt die:
Watschen Nr.1
Ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts ist aus funktionellrechtlichen Erwägungen daher erst dann gerechtfertigt, wenn die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts mit Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts nicht zu vereinbaren ist oder sich als objektiv willkürlich erweist . Bei gerichtlichen Entscheidungen liegt ein Verstoß gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthalten. Hinzukommen muss vielmehr, dass diese bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind und sich deshalb der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhen. Ist eine Entscheidung derart unverständlich, dass sie sachlich schlechthin unhaltbar ist, ist sie objektiv willkürlich. Ohne dass es auf subjektive Umstände und ein Verschulden des Gerichts ankäme, stellte eine derartige Entscheidung einen Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitende Verbot dar, offensichtlich unsachliche Erwägungen zur Grundlage einer staatlichen Entscheidung zu machen.
Und im Weiteren heißt es:
Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGK 7, 421 <429 f.>; 15, 474 <481 f.>). Die fachgerichtlichen Ausführungen müssen hierzu die maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls umfassend berücksichtigen und regelmäßig auch den gegen das Vorliegen eines Haftgrundes sprechenden Tatsachen Rechnung tragen, um die (Prognose-)Entscheidung des Gerichts auch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen.
Und dann kommt der Satz, der den OLG Richtern die Schamesröte ins Gesicht treiben müsste. Und noch eine:
Watschen Nr. 2
Diesen Vorgaben genügt der Beschluss des Oberlandesgerichts München nicht. Sowohl den Ausführungen zum dringenden Tatverdacht (a) als auch zu den Haftgründen (b) fehlt es jedenfalls an der erforderlichen Begründungstiefe.
Ist schon peinlich, wenn die hohen Herren so vom hohen Ross gestoßen werden. Aber es ist richtig, dass das Verfassungsgericht immer wieder dafür sorgt, dass nicht allzu leichtfertig mit den Grundrechten der Bürger umgesprungen wird, indem es darauf hinweist, dass gerade an freiheitsentziehende Maßnahmen hohe Begründungsansprüche gestellt werden und jede Willkür unterbunden wird.
Und so geht es munter weiter:
Watschen Nr. 3
Ungeachtet der Frage, ob das Oberlandesgericht einen verfassungsrechtlich vertretbaren Maßstab an das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts angelegt hat, lässt es eine schlüssige Darstellung einer konkreten Tat des Beschwerdeführers vermissen, und zwar sowohl in Bezug auf den verstorbenen Geschädigten S. als auch in Bezug auf den verletzten Geschädigten M.
Also nicht einmal eine schlüssige Darstellung dessen, was der Verhaftete überhaupt gemacht haben soll, hat das OLG hinbekommen. Na prima. Bei Haftrichtern, die in Zeitnot entscheiden müssen, kann das ja mal vorkommen, aber bei OLG-Richtern? Da graust es einen.
Aus dem Beschluss des Oberlandesgerichts geht demgegenüber nicht hervor, woraus sich ein konkreter Tatbeitrag oder zumindest – sofern das passive Verhalten des Beschwerdeführers am Tatort als objektive Beihilfetat zu sehen sein sollte – ein Vorsatz des Beschwerdeführers bezüglich des sofort tödlichen Schlags gegen den Kopf des Geschädigten S. ergeben sollte.
Schon krass. Dann:
Watschen Nr. 4
Das Oberlandesgericht differenziert nicht zwischen den einzelnen Beschuldigten und den beiden ihnen vorgeworfenen Taten. Wenn das Oberlandesgericht im Rahmen einer „Gesamtbetrachtung“ sowohl eine gleichwertige Beteiligung der sechs Beschuldigten einschließlich des Beschwerdeführers an dem von dem Haupttäter S. ausgeführten Schlag als auch eine von allen Beschuldigten mittäterschaftlich begangene Körperverletzung annimmt, hätte es dies konkret anhand des Inhalts der Videoaufzeichnungen und der Zeugenaussagen begründen müssen. Es genügt insoweit nicht, wenn das Oberlandesgericht seine Sachverhaltswürdigung pauschal – und daher nicht näher nachvollziehbar – damit begründet, dass sie sich mit „ausreichender Deutlichkeit“ aus den vorliegenden Beweismitteln ergebe.
Dazu fällt selbst mir nicht mehr viel ein, und dass ich an mangelnder Phantasie leiden würde, ist mir bislang nicht aufgefallen. Ein „Isso“ ist halt keine Begründung.
Auch die abstrakten Ausführungen des Oberlandesgerichts zur objektiven Gefährlichkeit gruppendynamischer Prozesse enthalten keinerlei Feststellungen insbesondere zur subjektiven Tatseite, sondern lassen die hierfür wesentlichen Gesichtspunkte vielmehr ausdrücklich offen. Das Oberlandesgericht legt nicht dar, dass und zu welchem Zeitpunkt sich die Gruppe der Beschuldigten einschließlich des Beschwerdeführers entschlossen hätte, gemeinschaftlich oder durch einzelne Mitglieder der Gruppe Körperverletzungen oder gar (zumindest potentiell) tödliche Angriffe zu begehen. Wenn das Oberlandesgericht ausführt, der Gesetzgeber habe spezifische Straftatbestände geschaffen, die das Handeln aus Gruppen heraus besser erfassten, erschließt sich nicht, welche Folgen sich hieraus für die Auslegung und Anwendung der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten – nicht gruppenspezifischen – Straftatbestände ergeben sollten.
Da hat das OLG wohl komplett das Thema verfehlt und holt sich zu Recht die Note 6 ab.
Und der folgende Text wird dem vom OLG aufgehobenen Landgericht Augsburg wie Öl runtergehen, denn dessen Beschluss wird hier ausdrücklich gelobt. Für das OLG:
Watschen Nr. 5
Dass das Landgericht – wie das Oberlandesgericht kritisiert – den Sachverhalt in individuelle Handlungen der jeweiligen Beschuldigten „zerlegt“ hat, erscheint daher nicht verfehlt, sondern vielmehr einfach- wie verfassungsrechtlich geboten. Eine strafrechtliche Verfolgung setzt die individuelle Vorwerfbarkeit eines sozialethischen Fehlverhaltens, also eine individuelle Schuld voraus. Das Oberlandesgericht wäre somit gehalten gewesen, anstelle einer rein gruppenbezogenen „Gesamtbetrachtung“ eine konkrete Tatbeteiligung jedes einzelnen Beschuldigten, insbesondere des Beschwerdeführers, darzulegen und zu begründen.
Damit sagt das BVerfG klar und deutlich, dass dem OLG München nicht nur die verfassungsrechtliche Perspektive der Sache komplett entglitten ist, sondern bereits die einfachrechtliche, also die, für die das OLG als Fachgericht eigentlich die höchste Qualifikation haben sollte. Um es klar zu sagen: Wäre die Entscheidung über den Haftbefehl eine Aufgabe im zweiten Staatsexamen gewesen, der OLG-Senat wäre kläglich gescheitert.
Und so entschied das Gericht folgerichtig:
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 27. Dezember 2019 – 3 Ws 1320/19, 3 Ws 1321/19, 3 Ws 1322/19, 3 Ws 1323/19, 3 Ws 1324/19, 3 Ws 1325/19 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 des Grundgesetzes.
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts München wird aufgehoben, soweit hierdurch die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer angeordnet wurde. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Nun profitieren auch die anderen Danebensteher von diesem grandiosen Erfolg des Kollegen Dimpfl, denn sie wurden nun auf Antrag der Staatsanwaltschaft allesamt aus der U-Haft entlassen.
Schade, dass die Verteidigung des Hauptverdächtigen, also des jungen Mannes, der den Schlag gesetzt hat, nicht ebenfalls weiter gegangen ist, denn auch der dringende Tatverdacht des Totschlags steht auf sehr wackeligen Beinen – wie auch das BVerfG in seiner Begründung andeutet. Nicht jeder, der einen anderen verletzen will, will ihn auch töten und nicht jeder der schlägt, nimmt auch nur den Tod des Geschlagenen in Kauf. Für mich bleibt da nur der Tatverdacht der Körperverletzung mit Todesfolge. Und ob der alleine die U-Haft rechtfertigt, darf bezweifelt werden.
Das Verfahren wird uns noch beschäftigen.