Hartz 4 ist das Problem
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem aktuellen Urteil nur an den Symptomen herumgedoktert. Das ganze Hartz 4-System muss generalüberholt werden, sagt Kolumnist Henning Hirsch
15 Jahre Hartz 4 beweisen vor allem eines: Mit diesem Maßnahmenbündel schafft man ein Dauer-Prekariat. Knapp vier Millionen Leistungsempfänger (zuzüglich eineinhalb Millionen Kinder und Jugendliche) sind Monat für Monat, Jahr für Jahr abhängig von staatlichen Transferleistungen. Der aktuelle Regelsatz beträgt: 424 Euro im Monat für eine allein stehende Person und 382 Euro für Partner. Hinzu kommen die Übernahme der Miete – unter der Voraussetzung, dass die Wohnung nicht zu groß, nicht zu teuer, nicht in einem Villenvorort gelegen ist – und die Begleichung der Energiekosten. Ob man ein altes Auto fahren darf, hängt vom Goodwill des Sachbearbeiters ab. Verkauft man die Schrottkiste und ist von Stund an auf den ÖPNV angewiesen, ist es aber nicht so, dass die Behörde einem nun zu einem Monatsticket verhilft. Dessen Kosten sind von den oben genannten 424 Euro selbst zu berappen. Hin und wieder erhält ein Bedürftiger einen Zuschuss für irgendwas. Beispielsweise einen Laptop, um sich selbständig zu machen – womit er dann bis zum Scheitern der Mikroselbständigkeit erstmal aus der Statistik verschwindet – oder Schulbücher für seine Kinder. Für all das müssen vorab jedoch ellenlange Formulare ausgefüllt werden. Beim einen wird’s genehmigt, beim anderen wiederum nicht. Erstattet die Behörde meine Fahrtkosten zu einem Bewerbungsgespräch in der Nachbarstadt? Möglich, aber nicht sicher. Das einzige, was sicher ist, ist am Monatsende die Null auf den Bankkonten der Hartzer. Große Sprünge macht niemand mit 424 Euro. Schon die Anschaffung einer gebrauchten Waschmaschine wird da zur finanzmathematischen Aufgabe mit drei Unbekannten.
Rigides Motto: Fördern und fordern
Damit die Leute nicht nur Leistung beziehen und sich dreißig Tage im Monat auf der faulen Haut räkeln, wurde der Grundsatz „Fördern und fordern“ erfunden: Wir (= die Solidargemeinschaft der Steuerzahler) kommen für deinen Lebensunterhalt auf, du als uns auf der Tasche-Liegender tust alles, um dich schnell wieder nützlich zu machen. Zu deinen Pflichten gehören: viele Bewerbungen schreiben, alle paar Wochen zu einem Termin in der ARGE erscheinen, nahezu jeden angebotenen Job annehmen, Weiterbildungsmaßnahmen besuchen. Klingt beim ersten Zuhören plausibel, erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als temporär ausgerichtete Beschäftigungstherapie. Die oft mehrwöchigen Weiterbildungsmaßnahmen beinhalten Kurse à la „Wie schreibe ich einen Lebenslauf?“, „Begleitung, Aktivierung, Stabilisierung“, „Erfolgreich in den Job zurück“ und ähnliche Zeiträuber. Vermittelt wird der – beschönigend als Kunde bezeichnete, allerdings so gut wie nie als Kunde behandelte – Arbeitslose gerne in Ein-Euro-Jobs oder an Zeitarbeitsfirmen ausgeliehen, die ihn dann an Call Center weiterverleihen, wo man – begrenzt auf den Zeitraum von drei Monaten – für fünf Euro in der Stunde Zeitungsabos am Telefon verkaufen darf.
Jetzt übertreiben Sie aber maßlos, Herr Kolumnist, sagen Sie?
Sie waren noch nie in einem Jobcenter, antworte ich.
Damit die Menschen ihrer Mitwirkungspflicht tatsächlich nachkommen, hat der Gesetzgeber den Sachbearbeitern das Schwert der Sanktionierung in die Hand gedrückt. Einmal nicht zum Termin erscheinen: minus 30 Prozent. Zwei Versäumnisse: das Doppelte wird abgezogen. Dritter Fehltritt: die gesamte Leistung kann zurückgehalten werden. Selbst Schuld der Mensch, meinen Sie, warum tut der auch nicht, was die Bürokratie von ihm verlangt? Das kann ich Ihnen schnell erklären: Weil eben nicht jeder Bock darauf hat, trotz guter Ausbildung und zufriedenstellender Gesundheit in einer Behindertenwerkstatt Elektroteile zusammen zu löten. Und nicht jeder verspürt Lust und Begeisterung, in die vierte – zu nichts führende – Weiterbildungsmaßnahme gesteckt zu werden. Hin und wieder verpennt man auch versehentlich mal einen Termin in der Behörde. Was jetzt kein großes Drama bedeutet. Außer Gesicht zeigen und ein bisschen Gequatsche passiert da in der Regel nichts. Der Sachbearbeiter macht einen Haken an die Akte und das war’s dann erstmal wieder bis zur nächsten Verabredung im kommenden Monat.
Nutznießer sind viele – aber oft nicht die Jobsuchenden
Das System funktioniert. Und zwar für die Behörde selbst und ihre zigtausend Kooperationspartner, als da v.a. sind: Anbieter von Weiterbildung, Zeitarbeitsfirmen, Unternehmen, die temporär bezuschusste Mitarbeiter beschäftigen und diese nach Ablauf der Subvention sofort wieder freistellen. Für wen das System allerdings seit 15 Jahren nicht so richtig funktioniert, sind die von ihm betreuten (Langzeit-) Arbeitslosen. Ich kenne keinen einzigen ALG2-Bezieher, der von seinem Fall Manager in ein der Ausbildung entsprechendes und auf Dauerhaftigkeit angelegtes Beschäftigungsverhältnis vermittelt wurde. Diejenigen, denen es geglückt ist, aus dem Verwahrgefängnis Jobcenter auszubrechen und wieder in geregelt Brot und Arbeit zu gelangen, haben dies durch die Nutzung ihrer privaten Netzwerke geschafft. Dann ist ja alles gut, sagen Sie? Hauptsache, diese Menschen können sich fortan selbst ernähren und fressen nicht mehr unser sauer erwirtschaftetes Steuergeld auf? Ja, für diese Glücklichen ist jetzt alles gut. Allerdings gibt es aber einen seit Jahren hohen Sockel Unglücklicher, denen weder durch Freunde noch durch die Behörde zu einer erfüllenden Arbeit verholfen wird. Die werden bis zum Eintritt ins Rentenalter im Amt geparkt. Und damit ihnen dort nicht langweilig wird, und sie zu Hause in der Jogginghose auf der Couch vor RTL2 festkleben, gibt’s hin und wieder eine kleine Beschäftigungsmaßnahme: Arsch hoch vom Sofa und rauf auf die Schulbank zum fünften Lebenslauftraining. Kann man so machen, bringt aber seit Jahren nichts und wird auch in Zukunft nicht vom Erfolg gekrönt sein.
Das Hartz 4-(Un-) Wesen und die dazugehörigen Jobcenter gehören nicht nur auf den Prüfstand, sondern dringend generalüberholt. Für die Einstufung als hilfsbedürftig, die Bewilligung und Auszahlung des monatlichen Existenzminimums genügen die Sozialämter. Und wenn die 424 Euro das Existenzminimum darstellen, kann davon sowieso nichts abgezogen werden. Wer soll von einem halbierten Minimum leben? Ohnehin eine Bankrotterklärung, wenn uns als Forderung nichts anderes als Leistungskürzungen einfallen.
Das ganze System muss auf den Prüfstand
An die Stelle der entweder gar nicht oder in Ein-Euro-Jobs vermittelnden Sachbearbeiter, deren primäres Interesse darin besteht, den Arbeitslosen aus der Statistik rauszubekommen, müssen Vermittler treten, die in ständigem Kontakt mit den lokalen Betrieben stehen und 24/7 auf dem Laufenden sind, was der regionale Markt an Arbeitskräften benötigt. Die Kooperationen und Netzwerke aufbauen. Vermittler, die sich darum kümmern, dass qualifiziert und mit Sinn und Verstand fortgebildet wird. Die auch mal einen 40-Jährigen in eine 24-monatige duale Ausbildung stecken, nach deren erfolgreichem Abschluss er vom Ausbildungsbetrieb dauerhaft übernommen wird, anstatt immerzu mit Acht-Wochen-Umschulungsmaßnahmen zu hantieren, an deren Ende bloß wieder das heimische Sofa wartet. Vier Millionen ALG2-Bezieher verdienen mehr Aufmerksamkeit und Pflege als das Bürokratiemonster, von dem wir sie seit nunmehr 15 Jahren bewachen lassen.
So begrüßenswert das jüngste Urteil des BVerfGs zur Verfassungswidrigkeit der Sanktionen, die 30 Prozent übersteigen, auch ist – es doktert bloß an den Symptomen herum. Hartz 4 gehört grundlegend reformiert und muss durch ein neues System, in dem das Fördern tatsächlich im Vordergrund steht, ersetzt werden.
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