Ziviler Ungehorsam und Grundgesetz
Im Zusammenhang mit den Aktionen von Extinction Rebellion wird über die Legitimität von zivilem Ungehorsam debattiert. Ist die Kritik berechtigt?
Das GG kennt keinen „zivilen Ungehorsam“, lautete ein Kommentar bei Twitter. Das ist zweifellos richtig. Der Begriff des zivilen Ungehorsams taucht im Grundgesetz nirgends auf. Wie so viele Begriffe dort nicht auftauchen. Und dabei meine ich nicht so etwas Banales wie Himbeereis oder Hundehaufen, nein, auch einen Begriff wie die informationelle Selbstbestimmung werden Sie im Grundgesetz vergeblich suchen. Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf dem Grundgesetz beruht. Die Feststellung, dass das GG keinen zivilen Ungehorsam kennt, besagt also erst einmal gar nichts.
Hintergrund des Tweets ist wohl Kritik an den Aktionen der Extinction Rebellion. Bereits seit dem Frühjahr wurde von verschiedenen, meist konservativ denkenden Kommentatorinnen und Kommentatoren, Kritik an den „Gesetzesverstößen“ von Fridays for Future geäußert. Nun, wo Extinction Rebellion nicht nur durch Unterrichtsabwesenheit protestiert, sondern Straßen und Plätze blockiert, wird diese „Selbstermächtigung zum Regelbruch“ als gesellschaftlicher Faktor betrachtet, der letztlich das Gewaltmonopol des Staates in Gefahr bringt.
Protestformen
Nun ja. Ob das nun bedeuten soll, dass Wählen und friedliches Demonstrieren außerhalb der Schul- und Arbeitszeiten, neben Kolumnenschreiben und morgens, mittags und abends in Talkshows sitzen, die einzigen legitimen Ausdrucksformen sein sollen, kann ich nicht beurteilen. Es klingt jedenfalls so. Und der Verweis darauf, dass ja vom zivilen Ungehorsam nichts im Grundgesetz steht, klingt halt ein wenig so, als sei das ein verfassungswidriges Verhalten.
Aber genau das ist es nicht. Unsere Verfassung funktioniert nicht als Erlaubnisregelbuch, in dem genau geregelt ist, was der einzelne tun darf. Ganz im Gegenteil. Das Grundgesetz beschränkt die Macht des Staates und schützt die Freiheit der Bürger. Der Staat darf nur in die Grundrechte der Bürger eingreifen, wenn das ausdrücklich durch ein verfassungskonformes Gesetz geregelt ist. Ansonsten kann jeder erst mal machen, was er möchte.
Blockaden sind so alt wie der Widerstand gegen Atomwaffen, Atomkraftwerke oder Atommüllendlager. Und so alt ist auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu zivilem Ungehorsam in Form von Sitzblockaden, die zunächst von einigen Gerichten als strafbare Nötigungen eingeordnet und dementsprechend bestraft wurden. Könnte man kennen, muss man aber nicht. Daher hier ein paar Auszüge:
Während das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 11. November 1986 infolge Stimmengleichheit den sogenannten „vergeistigten Gewaltbegriff“ im Ergebnis noch unbeanstandet ließ (vgl. BVerfGE 73, 206 <206, 239 f.>), gelangte es nach erneuter Überprüfung in seinem Beschluss vom 10. Januar 1995 zu der Auffassung, dass eine auf jegliche physische Zwangswirkung verzichtende Auslegung des § 240 Abs. 1 StGB mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist (vgl. BVerfGE 92, 1 <14 ff.>). Für die Konstellation einer Sitzblockade auf einer öffentlichen Straße mit Demonstranten auf der einen und einem einzigen Fahrzeugführer auf der anderen Seite stellte es fest, dass eine das Tatbestandsmerkmal der Gewalt bejahende Auslegung die Wortlautgrenze des § 240 Abs. 1 StGB überschreitet, wenn das inkriminierte Verhalten des Demonstranten lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist (vgl. BVerfGE 92, 1 <17>).
Psychische Gewalt
Danach erläutert das Gericht, dass es bezüglich des objektiven Tatbestandes die sogenannten Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH für verfassungsgemäß hält. Das bedeutet, dass der blockierende Demonstrant zwar gegenüber dem ersten von ihm durch bloßes Herumsitzen blockierten Fahrzeugführer nur psychische Gewalt ausübt, die hinter diesem zum Stehen gezwungenen Fahrer jedoch durch das angehaltene Fahrzeug des ersten Fahrers einer physischen Gewalt ausgesetzt sind.
Das bedeutet nun aber gerade nicht zwingend, dass die Blockade auch ein strafwürdiges Verhalten darstellt, denn:
aa) Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ist eröffnet.
(1) Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfGE 104, 92 <104>; BVerfGK 11, 102 <108>). Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfGE 69, 315 <342 f.>; 87, 399 <406>). Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden (vgl. BVerfGE 73, 206 <248>; 87, 399 <406>; 104, 92 <103 f.>). Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl. BVerfGE 69, 315 <345>).
Und schau an, da sieht doch das Bundesverfassungsgericht tatsächlich den zivilen Ungehorsam, den die um die Staatsgewalt besorgten Kritiker im GG nicht finden, als eine geschützte Ausdrucksform einer Veranstaltung an.
Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (vgl. BVerfGE 73, 206 <248>; 87, 399 <406>; 104, 92 <106>). Der Schutz des Art. 8 GG besteht zudem unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist (vgl. BVerfGE 69, 315 <351>; BVerfGK 4, 154 <158>; 11, 102 <108>). Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung (vgl. BVerfGE 73, 206 <250>).
Behinderungen Dritter ohne sonstige Gewalttätigkeiten machen also eine solche Versammlung gerade nicht „unfriedlich“ und damit strafbar. Dabei ist es auch völlig wurscht, ob die Versammlung anmeldepflichtig war oder nicht.
Soweit das Landgericht darauf abstellt, dass die Demonstranten sich nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen könnten, weil ihre Aktion der Erregung von Aufmerksamkeit gedient habe, hat es den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit verkannt. Der Umstand, dass die gemeinsame Sitzblockade der öffentlichen Meinungsbildung galt – hier: dem Protest gegen die militärische Intervention der US-amerikanischen Streitkräfte im Irak und deren Unterstützung durch die Bundesrepublik Deutschland -, macht diese erst zu einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG. Versteht man die Ausführungen des Landgerichts dahin, dass es zum Ausdruck habe bringen wollen, die Demonstranten hätten mithilfe der Aktion zu einer selbsthilfeähnlichen Durchsetzung eigener konkreter Forderungen angesetzt, erweisen sich diese Erwägungen ebenfalls verfassungsrechtlich als nicht tragfähig. Den der Entscheidung des Landgerichts zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts sowie den eigenen rechtlichen Erwägungen des Landgerichts lassen sich keine Anhaltspunkte entnehmen, die auf das Vorliegen einer solchen konkreten, vor Ort durchsetzbaren Forderung auf Seiten der Demonstranten deuten.
Das lässt sich ganz zwanglos auf die Blockaden von Extinction Rebellion übertragen. Selbst wenn die Blockade im Nachhinein von der Polizei aufgelöst worden sein sollte, ändert das nichts.
Begreift man die Ausführungen des Landgerichts dahin, dass der Aktion der Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG deshalb abzusprechen sei, weil die Demonstranten sich unfriedlicher Mittel im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG bedient hätten, halten sie einer verfassungsrechtlichen Prüfung ebenfalls nicht stand. Der Entscheidung des Landgerichts sowie den zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts ist nicht zu entnehmen, dass es bei der Aktion zu Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen gekommen ist und die Versammlung hierüber insgesamt einen durch Aggressionen geprägten unfriedlichen Charakter gewonnen hat. Dass die Aktion von Einsatzkräften der Polizei aufgelöst wurde, schadet nicht, da das Landgericht seine Entscheidung jedenfalls auch auf ein Verhalten des Beschwerdeführers gestützt hat, das in dem Zeitraum vor der Auflösung lag (vgl. BVerfGE 104, 92 <106>).
Wie immens hoch das Bundesverfassungsgericht den Schutz der Versammlungsfreiheit bewertet, ergibt sich aus dem Folgenden:
(1) Auslegung und Anwendung der Strafvorschriften sind grundsätzlich Sache der Strafgerichte. Allerdings haben die staatlichen Organe die grundrechtsbeschränkenden Gesetze im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen und sich bei Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist (vgl. BVerfGE 69, 315 <349>; 87, 399 <407>). Das Bundesverfassungsgericht hat zum Schutz der Versammlungsfreiheit vor übermäßigen Sanktionen für die Anwendung und Auslegung der Verwerflichkeitsklausel nach § 240 Abs. 2 StGB besondere Anforderungen aufgestellt (vgl. BVerfGE 104, 92 <109 ff.>).
Bei dieser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Zweck-Mittel-Relation sind insbesondere die Art und das Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige Abwägungselemente sind hierbei die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand. Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände ist mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass dem Strafgericht eine Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und wertvoll einschätzt oder es missbilligt. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen auf die Feststellung der Verwerflichkeit einwirkenden Bezug zum Versammlungsthema haben (vgl. BVerfGE 104, 92 <112>). Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob der Abwägungsvorgang der Fachgerichte Fehler enthält, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts beruhen und auch im konkreten Fall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 104, 92 <113>).
Das Landgericht hat bei der Abwägung den Zweck der Sitzblockade, Aufmerksamkeit zu erregen und so einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, als einen für die Verwerflichkeit der Tat sprechenden Gesichtspunkt zulasten des Beschwerdeführers gewertet, obwohl dieses sogar den sachlichen Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG eröffnet und damit eine Abwägung zwischen der Versammlungsfreiheit und den hierdurch betroffenen Rechtsgütern Dritter überhaupt erst erforderlich macht. Des Weiteren hat das Landgericht verkannt, dass der Kommunikationszweck nicht erst bei der Strafzumessung, sondern im Rahmen der Verwerflichkeitsklausel gemäß § 240 Abs. 2 StGB, mithin bereits bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit, zu berücksichtigen ist.
Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist des Weiteren, dass das Landgericht bei der Abwägung die Dauer der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, die Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports sowie die Anzahl der von ihr betroffenen Fahrzeugführer gänzlich außer Betracht gelassen hat.
Bevor also ein Gericht so eine Sitzblockade als strafbare Handlung verurteilen kann, hat es eine ganze Reihe von Gesichtspunkten zu prüfen und zutreffend zu berücksichtigen. Der Zweck der Sitzblockade, Aufmerksamkeit zu erregen und so einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, ist verfassungsrechtlich geschützt und kein Grund für ein großes Mimimi und Sorgenfalten im Hinblick auf den Bestand der Demokratie.
Schließlich hat das Landgericht mit verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Begründung den Sachbezug zwischen dem Protestgegenstand und den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen verneint. Der Argumentation des Landgerichts, dass die unter Umständen betroffenen US-amerikanischen Staatsbürger und Soldaten die Irakpolitik der US-amerikanischen Regierung nicht beeinflussen könnten, so dass die Aktion von ihrem Kommunikationszweck her betrachtet ungeeignet gewesen sei, scheint die Annahme zugrunde zu liegen, dass ein derartiger Sachbezug nur dann besteht, wenn die Versammlung an Orten abgehalten wird, an denen sich die verantwortlichen Entscheidungsträger und Repräsentanten für die den Protest auslösenden Zustände oder Ereignisse aktuell aufhalten oder zumindest institutionell ihren Sitz haben. Eine derartige Begrenzung auf Versammlungen im näheren Umfeld von Entscheidungsträgern und Repräsentanten würde jedoch die Inanspruchnahme des Grundrechts der Versammlungsfreiheit mit unzumutbar hohen Hürden versehen und dem Recht der Veranstalter, grundsätzlich selbst über die ihm als symbolträchtig geeignet erscheinenden Orte zu bestimmen, nicht hinreichend Rechnung tragen. Überdies besteht vorliegend umso weniger Anlass an dem Sachbezug zwischen dem Protestgegenstand der Aktion und den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen zu zweifeln, als sich unter den betroffenen Fahrzeugführern nicht nur US-amerikanische Staatsbürger, sondern auch Mitglieder der US-amerikanischen Streitkräfte befanden, die, wenn nicht in die unmittelbare Durchführung, so doch jedenfalls in die Organisation der kritisierten militärischen Intervention im Irak eingebunden waren.
Auch hier dürfte es bei den Blockaden durch Extinction Rebellion ein Leichtes sein, den Sachbezug zwischen dem Protestgegenstand und den vorübergehend in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen herzustellen. Die Autofahrer, als Repräsentanten des gesamten Autoverkehrs, sind beim Aussterben der Arten durch die von ihren Fahrzeugen ausgehenden Emissionen unmittelbar beteiligt. Sowohl diese unmittelbar als auch alle anderen Autofahrer sowie die politisch Handelnden sollen durch die Aktion aufgerüttelt werden, ihr Verhalten zu überdenken. Das passt.
Ihr müsst das Gesetz brechen. Das ist der Kern der gewaltfreien Methode, weil es die gesellschaftliche Spannung und das öffentliche Drama schafft, die entscheidend sind, um Veränderungen hervorzubringen.
So zitiert eine Kritikerin aus dem Handbuch von Extinction Rebellion und scheint das für etwas ganz Übles zu halten. Hätte sie noch etwas weiter gelesen, dann wäre sie auf das hier gestoßen:
Es muss gewaltfrei bleiben. Sobald ihr Gewalt in dieser Mischung zulasst, zerstört ihr die Grundlage der Vielfalt und der Gemeinschaft, auf die sich jede erfolgreiche Massenmobilisierung stützt. Die Jungen, die Alten und die Verwundbaren werden gehen.
Die Damen und Herren von Extinction Rebellion haben also nicht nur ganz klar die medialen Vorteile eines gewaltfreien zivilen Ungehorsams erkannt, sondern damit auch noch garantiert, dass ihre Aktionsform vom Grundgesetz gedeckt ist.
Wie im Kaiserreich
Ginge es nach den Kritikern von FFF oder XR, dann wäre jeglicher Regelverstoß im Rahmen des zivilen Ungehorsams ein Angriff auf die demokratischen Spielregeln. Das mag man vielleicht im Kaiserreich so gesehen haben, und so mag es auch zu dem wahlweise Lenin oder Stalin zugeschriebenen Bonmot gekommen sein:
Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!
Nun sind diese Zeiten der Obrigkeitsgläubigkeit aber vorbei und jeder kann bewundern, was durch den zivilen Ungehorsam von einzelnen oder Gruppen von Bürgern an Gutem für die Demokratie und die Menschen entstanden ist. Ohne Rosa Louise Parks, ohne Mahatma Gandhi, ohne Martin Luther King hätten höchst undemokratische und menschenrechtswidrige Zustände wohl länger überlebt. Und ohne den zivilen Ungehorsam bei der ersten Volkszählung im Jahr 1983 hätte es kein Verbot derselben durch das Bundesverfassungsgericht gegeben. Vermutlich sind es nur ein paar Konservative, die das anders sehen.
Und ja, obwohl der zivile Ungehorsam als solcher weder ein Straftatbestand noch eine Ordnungswidrigkeit darstellt, laufen die Ungehorsamen Gefahr, dass sie unter Umständen wegen eventueller Straftaten, wie z.B. Nötigung oder Hausfriedensbruch, oder wegen einer Ordnungswidrigkeit (Unterrichtsverweigerung) belangt werden könnten. Aber gerade dieses Risiko macht ja den zivilen Ungehorsam aus. Die eingespreiste Bestrafung durch den Staat macht deutlich, dass dieser eben als solcher gar nicht angezweifelt oder angegriffen werden soll. Man ist halt bereit für ein als wichtig erkanntes Gemeinwohlziel auch persönliche Konsequenzen in Kauf zu nehmen.
Ein recht seltsames Argument scheint mir zu sein, die Umweltaktivisten dafür zu kritisieren, dass womöglich Neurechte oder andere schräge Gruppierungen sich derselben Methoden bedienen könnten. Dann könne man diese angeblich nicht mehr glaubwürdig kritisieren, wenn man das nicht auch gegenüber FFF und XR tue. Diese Form des angeblich erforderlichen selben Abstands, von seinen meist konservativen Anhängern seit einiger Zeit mit dem Begriff der „Äquidistanz“ versehen, ist – verzeihen Sie den groben Ausdruck – völliger Bullshit.
Während die von mir genannten Gruppierungen stets darauf bedacht sind, Veränderungen zum Wohle der Allgemeinheit oder gar der Menschheit zu erreichen und damit das staatliche System und die Demokratie im Ergebnis stärken, sind die Aktionen der rechten Szene, wie z.B. der vom Verfassungsschutz beobachteten Identitären Bewegung, eher darauf gerichtet, das bestehende System, einschließlich „Lügenpresse“, „Systemparteien“ usw. abzuschaffen oder auch Menschen mit nichtdeutschen Vorfahren elementare Rechte abzusprechen. Aktionen solcher Gruppierung dienen eben nicht der Stärkung des Grundgesetzes und der Menschenrechte, sondern der Abschaffung dieser Werte. Wer da meint, das seien wegen der identischen Handlungsformen zwei Seiten derselben Medaille, der irrt fundamental. Denn den einen geht es trotz eventueller Gesetzesverstöße um das Allgemeinwohl und den anderen um irgendwelche völkischen Blut- und Boden- Gedanken, also rein persönliche und dem Gemeinwohl abträgliche Ziele. Die Identität der Mittel sagt eben nichts über die Legitimität des Handelns aus. Es ist ein Unterschied, ob ein Skalpell vom Arzt eingesetzt wird, um einen Menschen zu retten oder ob dies durch Hannibal Lecter geschieht, um einen Menschen zu verspeisen.