Lasst 16-jährige wählen
Mit Beschluss vom 29. Januar 2019 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass der Wahlrechtsausschluss von Menschen, die unter einer Vollbetreuung stehen verfassungswidrig ist. Ein Grund sich auch noch einmal mit dem Wahlrecht für unter 18-jährige zu beschäftigen.
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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Art 38(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.
(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.
In seinem Beschluss zum Wahlrecht für Behinderte sagt das Bundesverfassungsgericht:
Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl garantiert das Recht aller Staatsbürger, zu wählen und gewählt zu werden (a). Schränkt der Gesetzgeber bei der Wahrnehmung des ihm in Art. 38 Abs. 3 GG zugewiesenen Gestaltungsauftrags den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl ein, bedarf er hierfür Gründe, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht sind wie der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Hierbei ist er zu Vereinfachungen und Typisierungen befugt. (Rn 41)
Die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht den Ausschluss des Wahlrechts für die genannten Menschen, die aufgrund einer Behinderung einen Betreuer für alle Angelegenheiten haben, für verfassungswidrig erkannt hat, bedeutet natürlich nicht, dass nun jeder unabhängig von seinen sonstigen Einschränkung dieses Wahlrecht haben müsste. Die Entscheidung macht es aber schwer, nicht darüber nachzudenken, warum das Wahlrecht erst ab dem 18 Lebensjahr gelten soll.
16- jährige dürften in ihrer politischen Entscheidungsfähigkeit nicht schlechter drauf sein, als der Durchschnitt derjenigen, die unter Betreuung stehen. Die stehen ja nicht unter Betreuung, weil sie geistig kerngesund sind, sondern in der Regel, weil ihre Alltagskompetenzen derart eingeschränkt sind, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Gesundheit-, Vermögens- und sonstigen Angelegenheiten selbst auf die Kette zu bekommen. Da kümmert sich ein Betreuer um die Wohnung, die ärztliche Behandlung, die Bezahlung von Rechnungen und so weiter. Nun mag das bei manchen 16-jährigen auch noch durch die Eltern begleitet werden, der durchschnittliche 16-jährige ist aber fitter im Kopf als der durchschnittliche Betreute.
Warum sollten dann nicht auch bereits 16-jährige wählen dürfen?
Viele 16-jährige, sofern sie nicht weiter auf der Schule bleiben um später Abitur zu machen, beginnen in diesem Lebensjahr eine Ausbildung. Sie verdienen Geld und zahlen – je nach Ausbildungsvergütung – Steuern.
Bereits 14-jährigen wird zugestanden, selbst über ihre Religion zu bestimmen und es wird ihnen zugetraut, das Strafrecht zu überblicken. Denn ab dem 14. Lebensjahr sind sie strafmündig. Sie dürfen also ab diesem Alter vom Staat in eine Jugendhaft geschickt werden, aber sie werden vom Gesetzgeber bisher nicht für fähig gehalten, sich eine Meinung zu den Programmen der Parteien zu bilden und ein paar Kreuze in der Wahlkabine zu machen. Das ist nicht nur seltsam, sondern es ist eine unnötige Schwächung der Demokratiebasis. 16-jährigen wird auch zugestanden, sich eigenständig für oder gegen ein Organspende zu entscheiden. Sie sind auch testierfähig, dürfen also ein Testament schreiben. Nur wählen sollen sie nicht dürfen.
Meine Rechtskundeschüler (Klassen 9 und 10) sind durchaus an Politik und Staat interessiert und aus meiner Sicht mindestens so wahlgeeignet wie die Bewohner mancher Altersheime, an deren Wahlrecht niemand jemals einen Zweifel geäußert hat und wo es schon vorkommen mag, dass jemand auf dem Wahlzettel nicht mehr die Partei findet, die er früher mal so gerne gewählt hat, zu der Zeit in der nicht alles schlecht gewesen sein soll. Aber egal.
Wozu informieren?
Wenn 16-Jährige sich nicht für Politik oder Wahlen interessieren, dann mag das damit zu tun haben, dass sie daran nicht teilnehmen dürfen. Warum sollte man sich durch Berge von Papier kämpfen, wenn man eh nicht wählen darf. Und wenn sie sich trotzdem dafür interessieren, kann es ihnen passieren, dass ein Feinrippmodell ihnen erklärt, das sei nichts für Kinder, sondern das müssten die Profis erledigen. Da kann man da zwar immer noch auf die Straße gehen und sich von allen möglichen Menschen als Schulschwänzer betiteln lassen, aber wirklich wählen kann man nicht.
Als ein Argument gegen das Wahlrecht der 16-jährigen wird deren größere Beeinflussbarkeit durch Extremisten aller Art genannt. Aber zum Einen ist dies erst einmal nur eine Behauptung und ob die Beeinflussung durch Fakenews und alternative Fakten auf Ältere geringer ist, wäre erst noch zu beweisen, und zum Anderen würden die angesprochenen sich ab dem Moment, in dem sie wählen dürften ganz anders mit der Materie auseinandersetzen.
Bestes Beispiel dafür, dass 16-Jährige für den Fortbestand der Demokratie und der Überlebensfähigkeit der Menschen auf der Welt eine wesentlich größere Rolle spielen sollten, ist die Mobilisierung der Schüler durch die 16- jährige Schülerin Greta Thunberg, deren Wirken für das Klima ebenso hoch eingeschätzt werden kann, wie ihr Wirken für das demokratische Bewusstsein von Jugendlichen.
Das Recht der Bürger auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußert sich auch in der Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung (vgl. BVerfGE 20, 56 <98>; 69, 315 <346>; 132, 39 <51 Rn. 33>). Dem dienen die Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden Körperschaften (vgl. BVerfGE 44, 125 <147 f.>; 63, 230 <242 f.>; ferner BVerfGE 105, 252 <268 ff.>) sowie das freie Mandat der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, das die Rückkopplung zwischen Parlamentariern und Wahlvolk nicht aus-, sondern bewusst einschließt (vgl. BVerfGE 102, 224 <237 f.>; 112, 118 <134>). Nur auf dieser Grundlage kann der Wahlakt die ihm zugedachte integrative Wirkung entfalten. Ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht kann daher verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht (vgl. BVerfGE 132, 39 <51 Rn. 34>).
Können Sie mir einen Grund nennen, warum nach diesen Grundsätzen des Verfassungsgerichts ein Ausschluss der 16-jährigen vom Wahlrecht begründet sein sollte?
No future
Warum sollten gerade die Menschen, deren Zukunft von der Gestaltung der Politik abhängt, von der Mitbestimmung über diese Zukunft ausgeschlossen werden, während Menschen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der nächsten Wahl six feet under liegen, die keine echte Zukunft mehr haben, munter mitbestimmen dürfen?
Welchen Grund sollten Politiker haben, sich um die Belange von Bürgern zu kümmern, deren Stimme sie nicht erlangen können. Wir kennen das Spielchen doch vor jeder Wahl. Da wird ein Füllhorn von Steuererleichterungen, Rentenerhöhungen und sonstigen Zückerchen unter das Wahlvolk verteilt, wenn auch nur als Versprechen, die dann nach erfolgreicher Wahl flugs für unbezahlbar erklärt oder vom bösen bösen Koalitionspartner blockiert werden. Aufgrund der demografischen Entwicklung sind die Heerscharen der Alten natürlich ein Wahlpotential, dem die Parteien allesamt große Aufmerksamkeit widmen. Dürften auch jüngere Bürger wählen, würde sich das zumindest ein wenig verschieben. Generationengerechtigkeit kann nicht so ablaufen, dass die Alten mehrheitlich über die Zukunft der Jungen entscheiden.
Erst 1972 wurde das damalige Wahlalter von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt. Immerhin 47 Jahre her. Nur zehn Parlamentarier enthielten sich damals der Stimme, 441 Abgeordnete stimmten der nötigen Grundgesetzänderung zu. Damals wollte man „Mehr Demokratie wagen“. Warum sollte das heute nicht mehr möglich sein?
Im Kommentar zum Grundgesetz, Maunz-Dürig, heißt es:
Wenn Wahlen kein Spiel sind, wenn ihr Ergebnis nicht dem Zufall überlassen bleibt, also zum Beispiel nicht ausgewürfelt werden darf, sondern auf einen öffentlichen, nach Möglichkeit mit rationalen Argumenten zu führenden Diskurs zwischen Wählern und zu Wählenden zurückführbar sein muss, dann setzt das subjektive Wahlrecht auf beiden Seiten die Fähigkeit voraus, an einem solchen Kommunikationsprozess mit einigem Verständnis teilzunehmen
Einverstanden. Aber gerade das spricht nicht gegen ein Wahlrecht ab 16, denn die heutige Jugend ist besser als ihr Ruf und womöglich besser informiert, als viele ältere. Und eigentlich müssten die sich verarscht vorkommen, wenn sie im Grundgesetz lesen:
Artikel 20
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Und noch mehr verarscht müssen sie sich fühlen, wenn sie nur einen Artikel weiter lesen, dann dort steht:
Artikel 20a
Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.
Wäre ja schön, wenn der Staat das täte, aber vermutlich wird er das selbst erst ernst nehmen, wenn die jungen Menschen der aktuellen Generation von Bürgern endlich eine Stimme erhalten.
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