Rundumschlag zur Einführung: „Der neue Antisemitismus“ von Deborah Lipstadt
„Der neue Antisemitismus“ von Deborah Lipstadt ist eine umfangreiche Einführung in moderne Spielarten des Antisemitismus, findet Kolumnist Sören Heim.
Der neue Antisemitismus von Deborah Lipstadt liefert, was der Titel verspricht und noch ein wenig mehr: Einen Überblick über historische und aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus, der kaum Lücken aufweist. Traditioneller und moderner rechter Antisemitismus, linker Antisemitismus, islamisch geprägter Antisemitismus ebenso wie verbreitete alltägliche antisemitische Vorurteile von Menschen, die sich der „Mitte“ zuschlagen. Lipstadt beschreibt all diese Phänomene und noch weitere. Dabei empfiehlt sich das Buch auch als Quellensammlung. Wenn wieder einmal jemand behauptet, der antiimperialistische Vorsitzende der britischen Labour-Partei habe sich einfach nur ein paarmal mit den falschen Leuten eingelassen und Antisemiten nicht energisch genug widersprochen, wird man hier zahlreiche Beispiele finden, die zumindest ein fortdauerndes System des Verharmlosens offener Antisemiten mit selbst antisemitischen Untertönen aufzeigen. Und auch im Falle der offiziell proisraelischen amerikanischen Rechten zeigt Lipstadt am Beispiel von Donald Trump, wie tief antisemitische Vorurteile im Denken des Präsidenten und Teilen seines Umfeldes verwurzelt sind.
Mehr Analyse wäre hilfreich
Leider bleibt Der neue Antisemitismus etwas sehr im Aufzählen und Beschreiben verfangen. Zwar werden auch diverse Antisemitismus-Theorien diskutiert, und der Antisemitismus als kohärente Denkstruktur, als Verschwörungstheorie benannt. Was da allerdings wie gedacht wird – wo der ja leider schrecklich verbreitete Wahn also herkommen könnte – wird kaum untersucht. Ja: Irgendwie stellt sich der Antisemit Juden zugleich als Weltbeherrscher und Untermenschen vor. Irgendwie sollen die überall, beim Staat und besonders in der Geschäftswelt und ganz besonders bei den Banken, ihre Finger im Spiel haben.
Was hier weiter helfen würde, wäre eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen, das in Nachfolge der kritischen Theorie „struktureller Antisemitismus“ genannt wurde. Der Begriff mag unglücklich gewählt sein, er macht sich, weil dieses Denken nicht direkt zwingend auf Juden zielt, angreifbar. Es handelt sich aber definitiv um ein Vorfeldphänomen des Antisemitismus, das verbreitet ist durch alle politischen Lager und ganz besonders auch bei selbsterklärten unpolitischen Menschen: Ausgehend von der Vorstellung, dass der Markt im Großen und Ganzen gerechte Ergebnisse produzieren müsse, während die Realität dem offenkundig nicht entspricht, werden Sündenböcke gesucht. Der Nationalsozialismus brachte das auf die griffig verhetzende Formel vom „schaffenden und raffenden Kapital“. Doch auch Linke kennen diese Unterscheidung, und selbst Wirtschaftsliberale, die auf unverdienten Reichtum schimpfen, schmarotzende Beamte zB, Arbeitslose, leistungslosen Geldadel, sind gar nicht selten. All dieses Denken ist nicht in sich antisemitisch, doch es baut auf einer Struktur auf, an die antisemitische Welterklärungen traditionell höchst anschlussfähig sind.
Gewöhnungsbedürftige Gestaltung
Auch nicht ganz glücklich gewählt scheint mir der Stil des Buches: Lipstadt entfaltet ihre Analysen in einem dauernden fiktiven E-Mail-Dialog mit einer jungen Studentin und einem älteren Professor. Das wirkt oft sehr konstruiert und schafft womöglich eher mehr Distanz zwischen Leser und Inhalt, als dass es die beabsichtigte unmittelbare Nähe herstellt. Das sollte aber vom Lesen nicht abhalten. Prinzipiell ist Der neue Antisemitismus eine gerade für Einsteiger ins Thema sehr starke Sammlung von Aufsätzen, die durch manchmal etwas aufgesetzte E-Mail-Anfänge und Schlüsse zusammengehalten werden. Der Großteil des Textes ist aber nicht im E-Mail Stil gehalten und so gut lesbar wie auch erhellend.
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