Das gespaltene Russland und der Führerkult in Ost und West

Lassen sich Parallelen zwischen dem Stalinkult in der UdSSR und dem Führerkult in Deutschland ziehen? Fand in Russland eine Vergangenheitsbewältigung statt? War die autoritäre Wende, die im Lande im Jahre 2000 eintrat, unvermeidlich? Eine Replik auf Ljudmila Ulitzkaja.


Ist das russische Volk „zarentreu veranlagt“?

„Die Liebe zum Herrscher ist in Russland tief verwurzelt“, schreibt die Moskauer Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja in der „Süddeutschen Zeitung“ (30.4./1.5.2018) anlässlich der bevorstehenden erneuten Amtseinführung von Wladimir Putin, der am 18. März 2018 zum vierten Mal zum russischen Staatspräsidenten gewählt wurde. Die Popularität, die Putin zweifellos im Lande genießt,  erklärt die Schriftstellerin nicht zuletzt durch die „obligatorische Liebe zum obersten Herrscher“, die aus der Sicht der Autorin den roten Faden der russischen Geschichte darstellt:

Auf die Verehrung des Zaren folgte relativ rasch die Verehrung des Führers – des unabsetzbaren, gepriesenen, vergötterten …Kein ägyptischer Pharao, kein römischer Kaiser wurde so umfassend verherrlicht (wie Stalin).

Handelt es sich bei der Sehnsucht nach einem starken Herrscher wirklich um ein typisch russisches Phänomen?

Stalin selbst war anscheinend dieser Meinung. So behauptete er im Gespräch mit seinem Schwager Alexej Swanidse im Jahre 1934: Das russische Volk benötige den Glauben an den Zaren, es sei „zarentreu“ veranlagt.

Wollte Stalin durch den Führerkult dieser angeblichen Sehnsucht der Russen nach einem strengen Zaren entgegenkommen? Dies ist nicht ausgeschlossen. Die von der Propaganda millionenfach wiederholten Lobeshymnen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Große Teile der indoktrinierten Bevölkerung begannen allmählich das von oben verordnete Stalin-Bild zu verinnerlichen.

Der russische Literaturhistoriker Natan Ejdelman spricht in diesem Zusammenhang von einer „Stalin-Hypnose“, die die sowjetische Bevölkerung Mitte der 1930er Jahre erfasst und praktisch bis zum Tode des Diktators angedauert habe. Dieser wahnhafte Zustand habe zu einer vollkommen verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit geführt. Nur deshalb, so Ejdelman, habe ein Despot, der für die Ermordung von Millionen verantwortlich war, in den Augen der Bevölkerungsmehrheit als Sinnbild der Vollkommenheit gelten können.

Diese von Ejdelman geschilderte Stalin-Hypnose wird von vielen Autoren auf die Eigenart der russischen Mentalität bzw. auf den historischen Sonderweg Russlands zurückgeführt. Sie versuchen dieses Phänomen durch den „uneuropäischen“ Charakter des Landes und durch die Rückständigkeit seiner wirtschaftlichen und sozialen Strukturen zu erklären. So hielt z.B. der Wirtschaftswissenschaftler Otto Lacis während der Gorbatschowschen Perestroika (1988) den Führerkult für ein Attribut eines frühen Sozialismus, der auf einer unerfahrenen und rückständigen Arbeiterklasse gründete.

Der Führerkult im stärksten Industrieland Europas

All diese Erklärungsversuche lassen indes die Tatsache unberücksichtigt, dass etwa zur gleichen Zeit das stärkste Industrieland Europas, dessen Bildungssystem weltweit als Vorbild galt – Deutschland  – ebenfalls von einem hysterischen Führerkult erfasst wurde. Es ist zwar richtig, dass das Führersystem in Deutschland eine ganz andere Entstehungsgeschichte hatte als in der Sowjetunion. Auch die wirtschaftlichen und sozialen Funktionen der beiden Führersysteme unterschieden sich grundlegend voneinander. In Deutschland sollte es die angeblich von links gefährdete bestehende wirtschaftliche und soziale Ordnung schützen, in der Sowjetunion hingegen eine „Restauration des Kapitalismus“ verhindern. Die Liste der Unterschiede ließe sich unendlich fortsetzen. Aber auch die Ähnlichkeiten waren verblüffend. Der Führer-Glaube zeugte sowohl in Deutschland als auch in Russland vom Ausbruch der Irrationalität und der Massenpathologie, und zwar in einem beispiellosen Ausmaß, in einem angeblich aufgeklärten Zeitalter – mit verheerenden Folgen für die Betroffenen.

Das machiavellistische Kalkül der „alten“ Eliten

Sowohl in der Sowjetunion als auch in Deutschland war das Führersystem allerdings nicht nur dem Fanatismus der Führergläubigen, sondern auch dem machiavellistischen Kalkül der alten  Eliten entsprungen, die mit seiner Hilfe die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse stabilisieren wollten. So beteiligten sich an der Errichtung des Stalin-Kultes viele „alte“ Bolschewiki, die seinerzeit zu den schärfsten Kritikern Stalins gezählt hatten. Sie hofften aber mit Hilfe des Führersystems die Partei, die nach dem Tode Lenins im Jahre 1924 eine Zerreißprobe nach der anderen erlebte, zu stabilisieren. Vergleichbare Hoffnungen in Bezug auf die Stabilisierung ihrer herrschenden Positionen hatten konservative Verbündete Hitlers, die zur Errichtung des Führersystems in Deutschland erheblich beigetragen hatten. Die Weimarer Demokratie verkörperte für sie Zerrissenheit und Dekadenz. Sie verklärten die alte patriarchalische Ordnung, wussten aber zugleich, dass ihr restauratives Programm in einer modernen und politisierten Gesellschaft keine Chance einer Verwirklichung hatte. Das Führerprinzip schien hier einen idealen Ausweg zu bieten. Es band einerseits die politisierten Massen und zerstörte zugleich die pluralistische Herrschaftsordnung, die das konservative Establishment ablehnte. Übersehen wurde aber sowohl in Deutschland als auch in der UdSSR, dass das Führersystem per definitionem eine uneingeschränkte Willkür verkörperte, die sich zwangsläufig auch gegen seine Mitgestalter wenden musste.

Diese deutsch-russischen Parallelen zeigen, dass auch im westlichen Teil Europas, die von Ulitzkaja beschriebene „Verehrung des unabsetzbaren, gepriesenen, vergötterten (Führers)“, stark verbreitet war. Man darf also den europäischen Kontext dieser Entwicklung nicht aus den Augen verlieren. Eine nur auf Russland bezogene Argumentation erschwert das Verständnis dieses Phänomens.

Die „Furcht vor der Freiheit“

Es ist in diesem Zusammenhang auch wichtig, auf eine zusätzliche Ursache  hinzuweisen, die die Entstehung von Führersystemen in der Zwischenkriegszeit, und zwar nicht nur in Russland und in Deutschland, mitbedingte. Dies war die „Furcht vor der Freiheit“, wie Erich Fromm diese Tendenz im Jahre 1941 in seinem berühmten Buch charakterisierte. Auf diese Tendenz wies übrigens der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow bereits im Jahre 1928 hin. Er schrieb:

Der Wert der Freiheit wird vom modernen Europäer immer weniger geschätzt. Er verrät sie auf Schritt und Tritt – in der Politik, im gesellschaftlichen Leben, in der Religion. Die Freiheit stellt für ihn einen diskreditierten Begriff dar, ein Symbol der Ohnmacht und der bürgerlichen Anarchie.

Eng mit der „Furcht vor der Freiheit“ war für Fedotow auch eine andere Erscheinung verbunden, die den damaligen Zeitgeist charakterisierte. Dies war der Hang vieler Europäer zum Kollektivismus:

Jede Organisation verlangt vom jeweiligen Individuum eine totale Identifikation mit ihr… Von jedem Mitglied fordert sie Treue und Gehorsam – die Disziplin eines Soldaten … Nur keine Zweifel haben… nur in geschlossenen Reihen im Gleichschritt marschieren! Es lebe Lenin! Es lebe Mussolini! Die Führer werden vom Kollektiv auserkoren (und dann) gelten sie in den Augen der Massen als Übermenschen.

Wenn man bedenkt, dass Fedotow diese Worte über die neuen totalitären Tendenzen in Europa bereits im Jahre 1928 schrieb, als diese Entwicklung  sich lediglich  in zwei europäischen Ländern durchgesetzt hatte – in Russland und in Italien – beeindruckt seine Hellsichtigkeit um so mehr. Schon 1928 prognostizierte er also eine Entwicklung, die dem „alten Kontinent“ eine Reihe von Katastrophen bescheren sollte. Die Konturen der Trümmerlandschaft des Jahres 1945 waren für ihn bereits damals sichtbar. Erst nach dem „Höllensturz“, den Europa in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erlebte (Ian Kershaw), fand zumindest im westlichen Teil des Kontinents ein Paradigmenwechsel statt, auf den hier allerdings nicht eingegangen werden kann.

Das gespaltene Russland

Nun aber zurück zum Artikel von Ljudmila Ulitzkaja. Das Russlandbild, das sie hier vermittelt, ist einseitig. Die von ihr beschriebene Verehrung des autoritären Herrschaftsstils stellt zwar in der Tat einen sehr wichtigen Bestandteil der politischen Kultur Russlands dar. Dennoch verfügt das Land auch über eine entgegengesetzte Tradition – die Tradition der Infragestellung der autoritären Herrschaft, die im Artikel von Frau Ulitzkaja unerwähnt bleibt. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die Autorin selbst diese Haltung verkörpert. Eine Art Sinnbild für dieses „andere Russland“ stellte der Aufstand der Dekabristen vom Jahre 1825 dar. Unter dem Einfluss der europäischen, vor allem der französischen Ideen sagten die Dekabristen der uneingeschränkten zarischen Autokratie den Kampf an und versuchten sie mit Hilfe einer verfassungsmäßig verankerten Gewaltenteilung zu „zähmen“. Die Auflehnung der Dekabristen scheiterte zwar (das Prinzip der Gewaltenteilung wurde in Russland erst 80 Jahre später, infolge der Revolution von 1905 eingeführt). Dessen ungeachtet dienten die Dekabristen als Vorbild für alle späteren Generationen der russischen Freiheitskämpfer. Der Freiheitsdrang, der sich auch in den früheren Epochen der russischen Geschichte immer wieder manifestiert hatte, war von nun an untrennbar mit dem Begriff „Dekabristen“ verbunden. Die russische Autokratie, die auf der Bevormundung ihrer Untertanen basierte, wurde nun in einem immer stärkeren Ausmaß von den Kräften herausgefordert, die sich ihrer Bevormundung entziehen wollten. Auch die Bolschewiki, die im Oktober 1917 in Russland das erste totalitäre Regime der Moderne errichteten, wurden durch den im Lande tief verankerten Freiheitsdrang herausgefordert. Um ihr diktatorisches Regiment zu sichern, mussten sie einen dreijährigen äußerst verlustreichen Bürgerkrieg führen. Aber erst die 1929 begonnene stalinistische Revolution von oben, die zu einer weitgehenden Gleichschaltung sowohl der sowjetischen Gesellschaft als auch der alleinherrschenden Partei führen sollte, schien die Freiheitsbestrebungen im Lande endgültig erstickt zu haben.

Umso erstaunlicher waren die Prozesse, die in der Sowjetunion unmittelbar nach dem Tode des Despoten im Jahre 1953 einsetzten. Es begann dort ein allmählicher Abschied vom totalitären Erbe, das Stalin hinterlassen hatte, eine langwierige Vergangenheitsbewältigung, die praktisch bis zur Entmachtung der KPdSU im August 1991 dauern sollte. Nicht zuletzt deshalb entbehrt die in Ost und West oft vertretene These, in Russland bzw. in der Sowjetunion habe so gut wie keine Vergangenheitsbewältigung stattgefunden, jeglicher Berechtigung. Wäre dies der Fall, so wäre die KPdSU in Russland wahrscheinlich bis heute an der Macht. Die Erosion der ideologischen Grundlagen, auf denen ihre Herrschaft basierte, war untrennbar mit der Demontage des Stalin-Kultes und seit der Perestroika auch des Lenin-Denkmals eng verbunden. Man muss allerdings hervorheben, dass diese Vergangenheitsbewältigung von zahlrechen Rückschlägen begleitet wurde, die  viel mit der von Ulitzkaja beschriebenen Tendenz zur Verehrung der autoritären bzw. autokratischen Herrscher zu tun hatten, die in Russland auch nach dem Tode Stalins wirksam blieb. Nicht zuletzt deshalb mussten die Befürworter der Entstalinisierung, die auf dem 20. Parteitag der KPdSU (Februar 1956) ihren ersten Höhepunkt erreichte, mit dem fortwährenden Widerstand der Stalinisten rechnen. Nicht anders erging es auch den Verfechtern der Gorbatschowschen Perestroika, die dreißig Jahre später den durch den 20. Parteitag eingeleiteten Prozess mit einer noch größeren Intensität fortsetzte. So berichteten viele Journalisten, die sich damals mit einer besonderen Schärfe gegen das Stalinsche Erbe wandten, von empörten Leserbriefen, die sie nach jedem gegen Stalin gerichteten Artikel erhielten.

Diese Verteidigung der „Errungenschaften“ Stalins durch einfache Sowjetbürger bezeichneten die Verfechter der Perestroika als „Volksstalinismus“. Aber genauso vehement wandten sich die Dogmatiker in der Parteiführung gegen die Parole Gorbatschows, dass es keine Tabus und unantastbare Autoritäten mehr geben sollte. Dennoch standen die Reformgegner auf verlorenem Posten. Bei ihrem im August 1991 unternommenen Versuch das Rad der Geschichte mit Gewalt zurückzudrehen, scheiterten sie kläglich. Ihre antiautoritären Widersacher erwiesen sich als überlegene Sieger. Seltsamerweise bleibt dieses „andere Russland“ im Artikel von Frau Ulitzkaja praktisch unerwähnt. Dies hat vielleicht damit zu tun, dass die Sieger vom August 1991 bei ihrem Versuch, demokratische Strukturen im Lande zu verankern, ebenso scheiterten  wie ihre Vorgänger vom Jahre 1917, die nach dem Sturz des Zaren zum ersten Mal in der Geschichte des Landes versucht hatten, eine demokratische Gesellschaftsordnung im Lande zu errichten. So haftet den russischen Demokraten das Image der „ewigen Verlierer“ an. Dennoch war weder die „erste“ noch die „zweite“ russische Demokratie unabwendbar zum Scheitern verurteilt gewesen. Vermeidbare Fehler und ungenutzte Chancen spielten bei ihrer jeweiligen Erosion auch eine wichtige Rolle. Geschichtliche Deterministen aus Ost und West lassen indes solche Argumente nicht gelten.

Das Scheitern der demokratischen Experimente im Lande führen sie darauf zurück, dass demokratische Wertvorstellungen mit der russischen Mentalität, die sich von der westlichen grundlegend unterscheide, nicht zu vereinbaren seien (ähnliche Argumente wurden übrigens bis 1945 oft auch in Bezug auf Deutschland angewendet). Was in diesem Zusammenhang verwundert, ist die Tatsache, dass auch solch exponierte Vertreter des demokratischen Spektrums im Lande wie Ljudmila Ulitzkaja diese Meinung zu teilen scheinen. Sonst hätte sie bei der Beschreibung der russischen Mentalität und ihrer historischen Wurzeln nicht den russischen Freiheitsdrang ausgeklammert, der für manche Epochen in der Geschichte des Landes nicht weniger prägend war als die von Ulitzkaja beschriebene „obligatorische Liebe  zum obersten Herrscher“.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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