Krisenstaat Türkei: Erdoğan und das Ende der Demokratie am Bosporus
Bereits im September 2017 erschien Hasnain Kazims Buch über die Entwicklung der Türkei zu einem autokratischen Staat. Es ist immer noch topaktuell und absolut empfehlenswert.
Haben Sie sich auch schon mal gefragt, was eigentlich in der Türkei los ist? Warum der dortige Präsident manchmal wie der Bruder des HB-Männchens redet? Warum dort Zigtausende Beamte ihre Posten verloren, Journalisten eingesperrt sind – ohne Anklage? Wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass ein recht liberales und laizistisches Land binnen kürzester Zeit auf dem Weg in einen Religionsstaat kommen konnte? Und warum die Türken in Ihrer Stadt jeden „Sieg“ Erdoğans mit einem Autokorso feiern? Haben Sie sich vorher schon mal mit der Türkei oder auch nur mit den in Ihrer Stadt lebenden Türken beschäftigt? Kennen Sie Türken oder haben Sie türkische Freunde?
Wer etwas mehr darüber verstehen will, was in den letzten Jahren in der Türkei los ist, der kommt an Hasnain Kazims Buch nicht vorbei.
Kazim war kurz nach den Gezi-Protesten im Sommer 2013 voller Hoffnung mit seiner Familie nach Istanbul gezogen, um für die nächsten vielen, vielen Jahre als SPIEGEL-Korrespondent aus der Türkei zu berichten. Er sah diesen aufblühenden Staat als Brückenstaat zwischen Europa und der islamischen Welt. Und er ging offen und guter Dinge an die Arbeit. Istanbul schien ihm ein idealer Ort für einen Journalisten. Weltoffen und bunt.
Dass das Ganze nicht von langer Dauer war, werden Sie der Tagespresse entnommen haben. Nach zweieinhalb Jahren war Feierabend und der Autor und seine Familie mussten im März 2016 mehr oder weniger fluchtartig und unter diplomatischem Schutz das Land verlassen, weil sie dort ihres Lebens und ihrer Freiheit nicht mehr sicher waren.
Kazim hatte 2014 über das Grubenunglück in Soma berichtet, bei dem nach offiziellen Zahlen 301 Menschen starben. Erdogan erschien vor Ort und hielt eine eher skurrile Rede,
die bei den Zuhörern nicht so recht ankam und tumultartige Demonstrationen auslöste.
Das zur Überschrift geronnene Zitat eines aufgebrachten Demonstranten
„Scher dich zum Teufel, Erdoğan!“
wurde dann dem Autor zum Verhängnis. Obwohl es sich lediglich um ein Zitat und nicht etwa um Kazims Meinung handelte, wurde er mit diesen Worten als Türkenfeind identifiziert und erhielt Morddrohungen. Nach tausenden Drohungen bei Facebook und einer undifferenzierten Übernahme des Türkenfeindverdachts durch die klassischen türkischen Medien, verließ er das Land 2014 zum ersten Mal für 14 Tage. Er dachte, der Mediensturm werde sich wieder legen. Dem war aber nicht so. Ein jouralistisches Arbeiten war ihm letztlich nicht mehr möglich.
In der Folgezeit berichtete er auch aus der Osttürkei und unterhielt sich u.a. mit Vertretern der PKK. Das sollte Folgen haben. Seine Akkreditierung wurde nicht verlängert und ihm wurde angedroht, ihn wegen Terrorunterstützung anzuklagen. Das geht da heute ganz fix und man sitzt für unabsehbare Zeit im Knast. Deniz Yücel kann ein grausig Lied davon singen.
Kein Hassbuch
Man hätte also durchaus verstanden, wenn Kazim in der Folge eine Abrechnung mit Erdoğan verfasst hätte. Hassbücher sind ja zur Zeit in und absolute Verkaufsschlager. Aber nein. „Krisenstaat Türkei“ ist ein bemerkenswert faires, differenziertes Buch. Und es liest sich trotz der teilweise schwierigen Materie wunderbar leicht. Stilistisch ein Quell der Lesefreude.
Gibt es was zu meckern? Klar, es gibt immer was zu meckern. Zum Beispiel am Titel. „Krisenstaat Türkei“. Aus Sicht der Türkei und insbesondere Erdoğans gibt es keine Krise in der Türkei. Jedenfalls nicht, solange er das Sagen hat. Da ist alles so großartig wie sein illegaler 1000-Zimmer-Palast im Naturschutzgebiet. In puncto Größenwahn spielt er in einer Liga mit Trump und Kim. Und schaut man sich die Wahlergebnisse an, dann sitzt der Mann so fest im Sattel, wie selten jemand zuvor. Seine Fans sind bereit für ihn zu sterben und für ihn zu töten. Aber in der Regel werden Buch-Titel vom Verlag ausgewählt und irgendwas mit Krise verkauft sich halt besser. Der etwas reißerische Titel sollte nicht davon abhalten, dieses Buch zu kaufen und vor allem auch zu lesen.
Persönliche Erfahrungen
Die persönliche Geschichte des Autors erleichtert immens den Zugang zur türkischen Geschichte, der Gründung der türkischen Republik, der Karriere Erdogans von ganz unten bis ganz nach oben und immer höher, dem Kurdenkonflikt und den aktuellen Verhaltensweisen des türkischen Präsidenten. Die Situation der Menschenrechte in der Türkei, die türkische Offensive in Syrien, die türkische Blockade der Erdgasbohrungen vor Zypern und die Inhaftierung von Türken, Kurden und EU-Bürgern in der Türkei sind nach der Lektüre dieses Buches wesentlich leichter zu „verstehen“.
Sehr schön wird erklärt, wie Erdogan die religiöse Tastatur spielt, weniger, weil er so ein frommer Mann ist, als weil er so seine Macht absichert.
Ebenfalls leichter zu verstehen ist der türkische Nachbar, Bekannte oder Freund hier in Deutschland. Das Kapitel über das Verhältnis zwischen Türken und Deutschen ist sehr erhellend. Warum die türkische Community in Deutschland mehrheitlich aus Präsidentenfans besteht und wie es dem Präsidenten gelingt, seine Wähler gerade in Deutschland bei der Stange zu halten, wird nachvollziehbar beschrieben. Und ja, das hat auch mit dem Umgang der deutschen Bevölkerung mit den „Gastarbeitern“ und deren Nachfahren zu tun, denen der starke Mann vom Bosphorus emotionale Unterstützung und Stolz angesichts tatsächlicher oder vermeintlicher Diskriminierung vermittelt. Die hier lebenden Türken wegen ihrer Sympathie für Erdogan weiter zu missachten, treibt ihm lediglich weitere Unterstützer und willkommene Spitzel zu. Das gilt auch für schwachsinnige und absolut kontraproduktive Populismen wie „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“. Es leben ungefähr so viele Türken und türkischstämmige Deutsche in Deutschland, wie es CSU-Wähler gibt, Herr Seehofer.
Was mich beim Blick auf dieses wunderschöne Land und seine gastfreundlichen Menschen so traurig macht, ist Kazims Feststellung, dass zwar knapp 50% der türkischen Bevölkerung nicht hinter Erdogan stehen, diese 50% nun aber eben auch nicht die freiheitsliebenden Demokraten sind, die man sich in Westeuropa wünschen würde.
Am Montag, dem 26.3.2018, gab Erdoğan bei einem Treffen mit der EU in Bulgarien an, die EU-Mitgliedschaft sei weiterhin sein „strategisches Ziel“. Wenn er die Türkei weiter in Richtung eines autokratischen islamistischen Staates entwickelt, wenn er weiter Menschenrechte mit Füßen tritt, wenn er weiter die Gewaltenteilung, die Presse- und Meinungsfreiheit systematisch abbaut, dann wird das ein ewiges Ziel bleiben. Wer Hasnain Kazims Buch gelesen hat, wird seine Äußerungen zu werten wissen.
Hasnain Kazim
Krisenstaat Türkei
Erdoğan und das Ende der Demokratie am Bosporus
Cover: Krisenstaat Türkei
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2017
ISBN 9783421047847
Gebunden, 256 Seiten, 20,00 EUR
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