Fatma Aydemirs „Ellenbogen“ – Besser als seine Fans glauben
Fatma Aydemirs Ellenbogen wird für die drastische Sprache und Perspektive seiner Hauptfigut gelobt, derweil als „dramaturgisch misslungen“ betrachtet. Verteidigung eines Romans, dem Unrecht tut, wer eine Millieustudie erwartet.
Vor einigen Wochen besuchte ich eine Lesung aus Fatma Aydemirs Ellenbogen. Im Gegensatz zum restlichen Publikum war ich nicht komplett überzeugt vom Vorgetragenen aus dem mit viel Vorschusslorbeeren bedachten Roman. Zu sehr auf Drastik getrimmt die Ereignisse, zu penetrant der die Beobachtungen aus der Ich-Perspektive stets begleitende sarkastische Kommentar, der aus passiv aggressiven Poetry-Slam-Texten über Charlotte Roche bis Ronja von Rönne längst seinen unaufhaltsamen Siegeszug quer durch die zeitgenössische Literatur angetreten hat. Zu sehr auf politische Bildung bedacht auch die einordnenden Kommentare der Autorin, als dass ich mir hätte vorstellen können, dass der Roman anders als belehrend daherkommen würde. Und dann ist da noch das im für sein literaturkritisches Interesse selbst nicht gerade berühmten Feuilleton einhellige Urteil über den zweiten, in Istanbul spielenden Teil des Romans, der komplett quer zum ersten stehe. Die Presse habe den Roman nicht verstanden, sagte die Autorin später im Gespräch, und schau an! Als Novum in meinem kleinen Kolumnisten-Gegenfeuilleton sehe ich mich nach Komplettlektüre genötigt, Aydemirs Werk gegen falsche Kritiken zu verteidigen. Und vielleicht auch gegen falsche Freunde. Ellenbogen ist besser als erwartet, besser als behauptet, tatsächlich ziemlich gut. Und sowas sage ich ja eher selten. Ein ziemlich zugänglicher, doch kluger, Text, den man sich am ehesten durch spießbürgerlicher Lesehaltung verstellt.
Kurz: Worum geht es?
Die fast 18jährige Hazal erlebt die Mehrheitsgesellschaft als eine der verschlossenen Türen. Das zu Hause als einzige Drangsal. Die Mutter nervt, der Vater trauert vergangenen Zeiten nach. Hazal rebelliert, macht mit ihren Freundinnen auf dicke Hose, nimmt Drogen, klaut ein oder zweimal. Die Volljährigkeit soll in einer coolen Discothek gefeiert werden, nach der Abweisung durch die Türsteher eskaliert eine Pöbelei in der U-Bahn. Die Mädchen werfen einen Studenten auf die Gleise, er stirbt. Diese tatsächlich überzeugend erzählten Passagen, in denen normale pubertäre Aggressionen, Diskrimimierungserfahrung, nur gefühlte Diskriminierungserfahrung, religiöse Doppelmoral, Familienzwänge, Alltagsgemacke und der Extremfall gleitend ineinander übergehen, wurden genug gepriesen, man darf sich ohne ausführlichere Besprechung anschließen. Hazals Dagegen-Attitüde ist glaubhaft, der Ton subtiler, differenzierter, als es kurze Auszüge vermuten lassen, die Plötzlichkeit der Dynamik, die Hazal zur U-Bahn-(Tot)-Schlägerin macht, entwickelt genau die richtige Wucht. Und fast durchweg gelingt es Aydemir, in einer von politischer Befindlichkeitsliteratur bestimmten Zeit alles andere als selbstverständlich, eigene politische Überzeugungen und Überzeugen-Wollen aus der Erzählstimme herauszuhalten. Ellenbogen predigt nicht. Das wilde Denken Hazals und ihrer Freunde ist dabei herrlich tabulos und überrascht den Leser immer wieder auch mit unerwarteten Ausbrüchen:
»Oh Gott, die sprechen ja Arabisch. Und die wissen nicht, wie man Kottbusser Tor ausspricht! «, flüstert Gül und reißt ihre Augen ängstlich auf. ››Das sind Fluchtis!« »Na und?«, fragt Elma. »Eben fandest du die noch heiß« »Eben dachte ich auch noch, dass das Türken sind. Fluchtis sind voll pervers! Weißt du nicht, Köln und so?« (…)
Hals über Kopf flieht Hazal nach dem Totschlag nach Istanbul, zu ihrer Internetbekanntschaft (laut Hazal: großen Liebe) Mehmet. Der einst wegen Körperverletzung abgeschobene 28jährige bringt Hazal über seinen studentischen Mitbewohner Halil mit politischen Bewegungen in Kontakt, Repressalien gegen Kurden werden Thema, Hazal selbst wird bei einem Polizeieinsatz zusammengeschlagen, die Sache mit Mehmet endet enttäuschend. Später fliegt ihre Tante Semra, Sozialpädagogin mit „Sonderstatus in der Familie, weil sie studiert hat“ (so Hazal), Hazal hinterher, um die junge Erwachsene dazu zu bewegen, sich in Deutschland der Polizei zu stellen. Doch Hazal flieht erneut, und zuletzt sehen wir sie in einem Gebüsch zusammengekauert in der Nacht des Putschversuchs vom 15. Juli verschwinden.
Das gescheiterte Istanbul?
Der Istanbul-Teil hat im Roman vor allem die künstlerische Funktion, die Idealisierung der fiktiven Türkei Hazals und weiterer in Deutschland aufgewachsenen Charaktere mit Migrationshintergrund zu zertrümmern. Das reine gute „Woanders“ gibt es nicht. Aber gleich stellt sich der Kritikerreflex ein, den plötzlichen Einbruch des Politischen, noch dazu des unmittelbar zeitgenössischen in die scheinbar so typische, also zeitlosere Geschichte vom Aufwachsen als Deutsch-Türkin in Berlin als unrealistisch abzutun. Doch war der Roman bis dahin „realistisch“? Ist nicht Hazals Entwicklung auch in Berlin schon ein bewusst gewählter Extremfall? Ausgangspunkt eines literarischen Experiments? Sagt das lockere Hinnehmen des Weges vom pubertären Teen zum U-Bahnschläger nicht auch etwas über die eigene Leseerwartung? Und auf der anderen Seite: Ist es in der polarisierten Türkei des Jahres 2016 wirklich so abwegig, relativ schnell in die das Land bestimmenden Konflikte hineingezogen zu werden, wie oft kritisiert? Aydemirs Istanbul funktioniert narrative ganz ähnlich wie ihr Berlin. Vom initialen Unwohlsein über Alltagstiefschläge zur Eskalation. Dass man der Autorin das für den türkischen Teil des Romans nicht gelten lassen will, hat vielleicht gerade damit zu tun, dass die Autorin den Leser konsequent mit Istanbul-Kitsch verschont, überspitzt: dass in ihrer hektischen unabhängigen Großstadt kein Platz ist für die in Deutschland so geliebten Seitengassen, Orientmystik und den Hinterhofzauber zB eines Orhan Pamuk. Und auch, dass Hazal anfangs kaum berührt zu werden scheint von dem Menschenleben, das sie auf dem Gewissen hat, enthüllt sich im Verlauf des Textes als durchaus folgerichtig. Indem einmal das Verdrängte, und vieles andere Verdrängte, später umso massiver wiederkehren, und indem andererseits Hazal sich bewusst für die Verdrängung, gegen Aufarbeitung, für Istanbul, gegen, die Retterin Semra entscheidet.
Ich soll Reue zeigen, na klar. Dabei müsste Semra doch wirklich wissen, wie der Scheiß läuft. Und dass überall der gleiche Scheiß läuft. Irgendwelche Leute haben das Sagen und versuchen, die anderen fertigzumachen und mit dem Finger auf sie zu zeigen. Was macht es für einen Unterschied, ob ich in der Türkei bin oder in Deutschland? Hier machen die denselben Scheiß noch viel brutaler mit den Kurden. Die haben hier gar nichts zu melden. Okay,in Deutschland herrscht kein Krieg, aber irgendwelche Asylantenheime werden ständig angezündet. Ist jetzt nicht so der Unterschied. Kein Schwanz interessiert sich für uns, sie sehen uns nur, wenn wir Scheiße bauen, dann sind sie plötzlich neugierig. Wenn wir einen Thorsten vor die U-Bahn schmeißen, wollen sie auf einmal wissen, wer wir sind.
Figuren, die verschwinden
Gewissermaßen ist damit auch ihr Schicksal als Romanfigur besiegelt. Hazal ist weder Sympathieträgerin, noch eine jener Figuren, die auf den kathartischen Wandel hin geschrieben sind. Sie muss, wie einst die verqueren Figuren im bürgerlichen Roman, verschwinden, sich auflösen, und so lässt sich vielleicht am besten ein Sinn aus dem quälend offenen Ende von Ellenbogen ziehen, indem wir – ähnlich Hans Castorp im Zauberberg – Hazal in den Tumulten des 15. Juli einfach aus den Augen verlieren. Hazal will kein Opfer sein. Und entwirft auf der Suche nach einem stabilen Ich, als sie längst Täterin geworden ist, selbst ihre Tat noch um so hartnäckiger als die eines Opfers:
Weil ich es meine, will ich sagen. Weil es so ist, will ich sagen. Aber ich ertrage Semras verzweifelten Blick nicht und sage es nur lautlos in mich hinein. Weil solche Typen [wie der Getötete] herumrennen und meinen, die Welt gehört ihnen. Weil die sich aufführen, wie sie wollen, Weil die nie um irgendetwas kämpfen mussten. Und weil wir mit hängenden Schultern wie so Opfer herumlaufen, obwohl wir wahrscheinlich zehnmal mehr wissen über das Scheißleben als diese Kartoffeln. Und vielleicht, wenn wir Glück haben, dürfen wir mal später bei denen putzen, in ihren dicken Häusern. Was ist das alles für eine Scheiße?, will ich sie fragen. Ob sie mir das erklären kann?
Sie flüchtet sich nach, bzw. bleibt in „Hazalia“ (so die Erzählerin manchmal über ihre eigene Vorstellungswelt), und gibt sich noch auf den letzten Seiten, im Busch kauernd, als sei es der Mutterleib, trotzig:
Und Semra erst, die sich für so übertrieben klug hält und dann bis nach Istanbul fliegt, um mir zu sagen, ich soll mich den Bullen stellen. Ich soll mich wohl entschuldigen und verschämt auf meine Schuhe starren, wie damals im Supermarkt, beim Filialleiter mit den blauen Miniaugen. Aber die arme Semra, was soll sie schon sagen. Sie weiß es ja nicht besser, sie ahnt nicht, dass Scham viel beschissener ist als Angst. Dass Scham einem den letzten Verstand rauben kann. Sie kennt das Gefühl nicht, sie kennt nichts, was außerhalb von ihrem eigenen geordneten Leben liegt. Und wer weiß, vielleicht sind wir ja alle so, vielleicht tun wir alle dasselbe, uns im Kreis drehen, immer wieder dieselben Runden, bis uns die Kraft ausgeht, bis die triefende Riesenschnecke kommt und uns in unseren Träumen auffrisst und wir von oben runter auf das große H im Wasser schauen und nur noch lachen können über die Angst, die uns unser Leben lang so viel Zeit gekostet hat. (…)
Während die Geschichte fort rollt, bleibt es dieser Geschichte nur, ins Ungewisse auszuschwingen.
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