Der „Gendarm“ Europas oder eine Quelle geistiger Erneuerung? Zur Ambivalenz der westlichen Russlandbilder

Debatten über Russland werden im Westen, und zwar seit Generationen, emotional geführt. Kulturelle Unterschiede zwischen Russland und dem Westen werden oft als eine Art Abweichung von der Norm angesehen. Europa wird in der Regel mit dem Westen assoziiert. Die Tatsache, dass es auch einen orthodoxen Osten hat, wird unterschätzt. Nicht wenige sehen aber gerade in der Andersartigkeit Russlands ein Faszinosum. Man sucht dort nach einem kulturellen Potential, das den Westen erneuern könnte. All diesen Widersprüchen ist die folgende Kolumne gewidmet.


Die Verschlechterung des westlichen Russlandbildes, die, vor allem seit der Krim-Annexion vom März 2014, zu beobachten ist, erinnert an frühere Metamorphosen der westlichen Russlandbilder. Die Geschichte kehrt in gewisser Weise zurück.

Sind wir wieder im 19. Jahrhundert?

fragte der deutsch-israelische Historiker Dan Diner vor einigen Monaten in der F.A.Z, und führte dann aus:

Die Muster politisch-militärischen Handelns in der Gegenwart verweisen auf Lagen, die verstörend an das neunzehnte Jahrhundert gemahnen.

Der Moskauer Politologe Dmitrij Trenin fügte vor kurzem, ebenfalls in der F.A.Z., hinzu:

Russland praktiziert so gut wie gar nichts außer Geopolitik

– also einer Politik, deren historische Wurzeln ebenfalls im (ausgehenden) 19. Jahrhundert verankert sind.

All diese Beobachtungen zeigen, dass das von Francis Fukuyama 1989 angekündigte „Ende der Geschichte“ keineswegs eintrat. Geschichtsbilder und Handlungsmuster, die noch vor kurzem als längst überholt galten, melden sich nun mit aller Macht zurück. Dies betrifft auch die westliche Wahrnehmung Russlands, die vor allem seit dem Eintritt des Zarenreiches ins europäische Konzert der Mächte zu Beginn des 18. Jahrhunderts (infolge der petrinischen Umwälzung) bestimmte Konstanten aufweist, auf die ich nun etwas genauer eingehen möchte.

Widersprüchliche Bewertungen der petrinischen Reformen

Bereits die Reformen Peters des Großen riefen widersprüchliche Reaktionen im Westen hervor. Auf der einen Seite wurde das petrinische Vorhaben – ein aus der Sicht des Westens halbbarbarisches Land der europäischen Kultur anzupassen – von vielen namhaften Vertretern der Aufklärung bewundert. Aber auch Kritiker des petrinischen Werks meldeten sich zu Wort. Zu ihnen gehörte Jean-Jacques Rousseau, der dem Zaren vorwarf, er habe seine Untertanen zu früh europäisiert:

Er sah die Rohheit seines Volkes, sah jedoch nicht, dass es für höhere Gesittung noch nicht reif war; er wollte es zivilisieren, als es erst der Zucht bedurfte.

Und dann entwickelt Rousseau folgende düstere Vision:

Die Tataren, seine Untertanen oder Nachbarn, werden seine und unsere Herren werden; diese völlige Umwälzung scheint mir unabwendbar. Alle Könige Europas arbeiten einmütig daran, sie zu beschleunigen.

Diese Prognose hatte mit der politischen Wirklichkeit nur wenig gemeinsam. Die Zarenmonarchie entwickelte sich infolge der petrinischen Umwälzung zu einem gleichberechtigten Mitglied des europäischen Mächtekonzerts, war in der Regel loyaler Verbündeter ihrer westlichen Koalitionspartner, und auch beim genaueren Hinsehen konnte man keine Merkmale entdecken, die auf eine unversöhnliche Gegnerschaft des Petersburger Russland zum Abendland hinwiesen. Mehr noch. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts trug das Zarenreich entscheidend dazu bei, dass der napoleonische Versuch, das europäische Gleichgewicht zu zerstören, scheiterte.

Erst nach dem Sieg Russlands über Napoleon sollte sich diese Stimmung schlagartig ändern. Während der napoleonischen Kriege noch als Befreier Europas von einem Tyrannen gefeiert, wurde die Zarenmonarchie kurz danach als Anwärter auf die Nachfolge des geschlagenen Napoleons angesehen. In der westlichen Öffentlichkeit galt es jetzt beinahe als Axiom, dass Russland, ähnlich wie Napoleon, die Errichtung einer Universalmonarchie anstrebe. Die Tatsache, dass die russischen Truppen sowohl das besetzte Frankreich als auch das befreite Deutschland 1818 vertragsgemäß räumten – ein recht untypisches Vorgehen für einen potentiellen Welteroberer – trug zur Dämpfung der Polemik gegen die Welteroberungspläne Russlands kaum bei. Russische Hegemonialbestrebungen wurden nicht selten als gefährlicher denn diejenigen des napoleonischen Frankreich angesehen, weil Russland als eine nichteuropäische Macht galt. Es stellte nach Ansicht vieler Westeuropäer nicht nur eine militärische und politische, sondern auch kulturelle Herausforderung dar. Es gefährde die okzidentale Art als solche, wurde wiederholt betont.

Das Nachlassen des europäischen Sendungsbewusstseins

Es soll in diesem Zusammenhang auf ein in der Geschichte des Abendlandes relativ neues Phänomen hingewiesen werden, nämlich auf das Nachlassen des europäischen Sendungsbewusstseins. Man begann nun im Westen über die Gefahren zu sprechen, die die Europäisierung von Ländern außerhalb des Abendlandes mit sich bringen könne. Im optimistischen, fortschrittsgläubigen 18. Jahrhundert galt die Übernahme westeuropäischer Modelle durch Peter den Großen als ein Beweis für die Überlegenheit der abendländischen Kultur. Nicht zuletzt deshalb verlief damals die Eingliederung Russlands in das europäische Staatensystem relativ reibungslos. Hundert Jahre später empfand man im Westen das Verbleiben Russlands in diesem System als eine Gefahr für die europäische Zivilisation. Die Europäisierung Russlands, so viele westliche Autoren, habe lediglich dazu geführt, dass die russische Oberschicht jetzt über die neuesten westlichen Herrschaftsmittel und Technologien verfüge, die sie ihrerseits gegen den Westen anwende. Zugleich stehe den russischen Herrschern eine anspruchslose und gehorsame, von den europäischen Ideen unberührte Volksmasse zur Verfügung, die beliebig eingesetzt werden könne, auch für das Ziel einer Weltherrschaft.

Der innerrussische Streit zwischen Westlern und Slawophilen

Aber nicht nur im Westen, sondern auch in den Augen mancher Vertreter der russischen Bildungsschicht galt das Zarenreich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts als Gefahr für die europäische Zivilisation. Sie identifizierten sich mit den damals im Westen herrschenden antirussischen Ressentiments. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür stellt der Dichter und Altphilologe Wladimir Petscherin dar, der im Jahre 1836 seine Heimat beinahe fluchtartig verließ, um sie bis zu seinem Tode fünfzig Jahre später nicht wiederzusehen. In seinen Erinnerungen schrieb er:

Mitte Mai 1836 habe ich das mir verhasste Moskau verlassen … (Ich hatte) den festen Willen, nie wieder nach Russland zurückzukehren. So habe ich alles verloren, was ein Mensch im Leben schätzt – das Vaterland, die Familie, das Vermögen, bürgerliche Rechte … alles, alles! Dafür habe ich aber meine Menschenwürde und geistige Unabhängigkeit bewahrt.

Im gleichen Jahr, in dem Petscherin das ihm „verhasste Moskau“ verließ, erschien in der Moskauer Zeitschrift „Teleskop“ der berühmte „Philosophische Brief“ Pjotr Tschaadajews, der einen völlig neuen Abschnitt in der russischen Ideengeschichte einleitete. Während Petscherin seinem Protest gegen die Zustände im Lande durch eine verzweifelte Tat Ausdruck verliehen hatte, tat Tschaadajew das Gleiche in der Form einer schonungslosen, wenn auch in manchen Punkten überzogenen geschichtsphilosophischen Diagnose. Die eigentliche geistige und kulturelle Entwicklung fand für Tschaadajew in den letzten tausend Jahren lediglich im Westen statt. Russland habe sich an diesem großartigen geschichtlichen Schauspiel nicht als Akteur, sondern lediglich als passiver Zuschauer beteiligt:

Einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee zur Gesamtheit der menschlichen Ideen beigetragen; wir haben nichts zum Fortschritt des menschlichen Geistes beigesteuert, und alles, was von diesem Fortschritt zu uns kam, haben wir entstellt.

Generationenlang bemühten sich sowohl die europäisierte russische Oberschicht als auch die Herrscher des Landes um den Ruf Russlands als einer europäischen Macht. Nun wurde aber dieser Anspruch sowohl vom Westen als auch von den radikalen russischen Kritikern der russischen Eigenart, den „Westlern“, massiv in Frage gestellt. Tschaadajew lässt sich als einer ihrer ersten Vertreter bezeichnen. Sein Frontalangriff auf die russische Eigenart trug zweifellos dazu bei, dass viele russische Denker begannen, sich auf die eigenen Traditionen neu zu besinnen. Emotionsgeladene, nicht selten ungerechte Kritik an diesen Traditionen hatte eine genauso emotionale, oft unkritische Apologie zur Folge. Typisch hierfür waren die Gedankengänge der slawophilen Gegenpartei, die sich im Zuge der Polemik um die Thesen Tschaadajews und seiner Gesinnungsgenossen entwickelte.

Im Gegensatz zu Tschaadajew betrachteten die Slawophilen die Besonderheit der russischen Entwicklung, die sich von der des Westens unterschied, keineswegs als eine Abweichung vom Gesunden und Normalen. Im Gegenteil, diese Eigenart sei ein kostbares Gut, das den eigentlichen Wert der russischen Geschichte ausmache. Und in der Tat übersah Tschaadajew, ähnlich wie andere Westler, die Originalität der vorpetrinischen Kultur, weil er der Orthodoxie, die den Mittelpunkt dieser Kultur bildete, keine besondere Bedeutung beimaß.

Die Orthodoxie, so die Slawophilen, postuliere eine völlig andere Gesellschafts- und Staatsordnung als der Katholizismus bzw. Protestantismus. In ihrem Zentrum liege der Gedanke der Harmonie, der organischen Gemeinschaft (sobornost´). Dieser Gedanke söhne das Individuum mit dem Kollektiv, den Herrscher mit den Beherrschten aus. Im Mittelpunkt der westlichen Kultur hingegen stünden Egoismus und Konflikt.

Die petrinischen Reformen, die die abendländischen Prinzipien auf Russland übertrugen, wurden von den Slawophilen als nationale Katastrophe angesehen. Sie sehnten sich nach der sozialen und geistigen Harmonie, die ihrer Meinung nach im vorpetrinischen Russland verwirklicht worden sei.

Diese Verklärung des alten Russland wurde von den russischen Westlern leidenschaftlich bekämpft. Mit wissenschaftlicher Akribie wiesen sie nach, wie sehr sich die damalige russische Wirklichkeit von dem von den Slawophilen entworfenen Bild unterschied. Und in der Tat hält die Verklärung der altrussischen Gesellschaft durch die Slawophilen einer historischen Prüfung nicht stand. Soziale Spannungen und zahlreiche Bauernaufstände im vorpetrinischen Russland weisen darauf hin, dass die altrussische Gesellschaft keineswegs ein Harmonieideal verkörpert hatte. Trotzdem enthielten die Thesen der Slawophilen einen Wahrheitskern. Zwar wich die altrussische Wirklichkeit erheblich von dem hier beschriebenen Harmonieideal ab, dennoch bildete dieses Ideal einen wichtigen Bestandteil der politischen Doktrin des Moskauer Russland. Dies konnte auch für die soziale und politische Wirklichkeit nicht ohne Folgen bleiben.

Ist Russland „im Stande befreiend auf das Abendland rückzuwirken“?

Die Infragestellung der westlichen Werte durch die Slawophilen ereignete sich ausgerechnet in der Zeit, in der auch manche westliche Denker von Selbstzweifeln geplagt wurden. Pessimistische Strömungen nahmen hier nach der Bezwingung des napoleonischen Frankreich außerordentlich an Stärke zu. Überall war von der Dekadenz, vom Verwelken der westlichen Kultur die Rede. Einige westliche Intellektuelle blickten mit Hoffnung auf den scheinbar noch vitalen, „unverbrauchten“ Osten. So erwartete der Münchener Philosoph Franz von Baader von Russland Impulse für die Errettung des westlichen Christentums. 1841 schrieb er:

Gottes Fürsorge hielt die russische Kirche von der europäischen Weltbewegung, somit auch von der Bewegung zur Dechristianisierung sowohl der Wissenschaft als auch der bürgerlichen Societät bis dahin fern.

Daher sei diese Kirche, so Baader,

im Stande … befreiend auf das Abendland rückzuwirken.

Der Agrarwissenschaftler August von Haxthausen pries seinerseits die Vorzüge der russischen Dorfgemeinde und übte einen großen Einfluss auf die russischen Slawophilen aus. Stark waren prorussische Tendenzen auch bei manchen Vertretern der preußischen Oberschicht.

Dekadenzängste und Russlandfurcht

Für andere westliche Autoren hingegen stellte der Aufstieg Russlands angesichts der westlichen Dekadenz einen Alptraum dar. Dazu der leidenschaftliche Verfechter des Ancien Régime, der Spanier Donoso Cortès im Jahre 1850:

Wenn es … in Europa keine stehenden Heere mehr gibt, weil die Revolution sie aufgelöst hat, wenn es in Europa keine Vaterlandsliebe mehr gibt, weil die sozialistische Revolution sie ausgerottet hat, … dann, meine Herren, dann hat die Stunde Russlands geschlagen. Dann kann der Russe gemächlich und mit dem Gewehr unter dem Arm durch unser Vaterland spazieren.

In der industriellen Revolution, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts die westlichen Länder mit voller Wucht erfasste, sahen viele Denker keineswegs etwa die Quelle künftiger Stärke, sondern eher ein schwächendes Moment. Die soziale bzw. die Arbeiterfrage schien damals unlösbar. Der proletarische Juniaufstand von 1848 in Paris, der außerordentlich brutal unterdrückt worden war, galt nun als Vorbote erbitterter Klassenkämpfe. Russland dagegen hatte kein Proletariat, die industrielle Revolution hatte es nur am Rande gestreift. Und so wirkte dieser innerlich homogene Koloss auf den von inneren Spannungen zerrissenen Westen um so bedrohlicher.

Der bekannte deutsche Orientalist und Publizist Jakob Philipp Fallmerayer schrieb 1850 in diesem Zusammenhang:

Ausgemacht und sicher ist nur, daß jetzt im Gegensatze zum westlichen, von langem Leben abgezehrten und welkenden Europa ein Volk erscheint, dessen Wesen noch nicht ein einziges Mal in vollem Spiele war, ein Volk, welches unter der harten Rinde des Czarismus … herangewachsen ist; ein Volk, das bisher noch nicht an die Regierung dachte, das blind glaubte, sich passiv einem fremden Willen unterwarf.

Nur wenige, einsichtsvolle Beobachter erkannten damals, dass die Europäisierung Russlands nicht auf die Oberfläche beschränkt bleiben könne. Dass die Übernahme westlicher Technologien zwangsläufig auch eine Übernahme westlicher Geisteshaltungen nach sich ziehen müsse. Dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die russische Bevölkerung ähnliche Forderungen an die Herrschenden stellen würde, wie die westlichen Völker es bereits taten.

Die „anbetungswürdige russische Literatur“

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen die Westler den Konflikt mit den Slawophilen endgültig zu ihren Gunsten entschieden zu haben. Russland erlebte damals einen Modernisierungsschub, der seine Strukturen immer stärker an diejenigen des Westens anglich. Das autokratische System verwandelte sich nach der Revolution von 1905 in eine, wenn auch beschränkte, konstitutionelle Monarchie. Einen ähnlichen „Modernisierungsprozess“ erlebte auch die intellektuelle Elite des Landes. Sie wurde damals in gleichem Maße wie die westliche Bildungsschicht von der „Fin de Siècle“-Stimmung erfasst; die russische Avantgarde stellte damals einen der wichtigsten Bestandteile der künstlerischen Moderne dar. Die russische Literatur, Musik, Malerei, Philosophie begannen nun, nach der Aufnahme unzähliger Anregungen aus dem Westen, ihrerseits inspirierend auf den Westen zu wirken. Friedrich Nietzsche bezeichnete Fjodor Dostojewskij als den „einzigen Psychologen, von dem (er) etwas zu lernen hatte“, Thomas Mann sprach von der „anbetungswürdigen, heiligen russischen Literatur“. Die Unterschiede zwischen Ost und West begannen sich zu verwischen. Der russische Dichter Alexander Blok schrieb 1908 von einem „´barbarischen´ Streit zwischen Westlern und Slawophilen …, einem ausschließlich russischen Streit, der für den Europäer unverständlich und uninteressant ist“.

Übersehen wurde von der Mehrheit nur die Tatsache, dass die russischen Unterschichten sich an diesen neuen Denkprozessen kaum beteiligten. Erst während der Revolution von 1917 offenbarte sich dieser Sachverhalt in voller Deutlichkeit. Das Ausmaß der Kluft zwischen der europäisierten Oberschicht und dem einfachen Volk wurde für alle sichtbar.

Der Westen und das „bolschewistische Experiment“

Der Sieg der bolschewistischen Revolution lieferte der westlichen Diskussion über den russischen „Sonderweg“ bzw. über die Zugehörigkeit Russlands zu Europa zusätzliche Impulse. Der Kultursoziologe Alfred Weber schrieb 1925, die bolschewistische Herrschaft habe die Re-Asiatisierung Russlands zur Folge gehabt. Russland habe nur zeitweise und versehentlich der europäischen Staatengemeinschaft angehört. Sein Wiederausscheiden aus Europa sei seine Rückkehr zu sich selbst.

Aber auch andere Stimmen waren damals im Westen zu hören. Stefan Zweig schrieb in seinen Erinnerungen Folgendes über die Einstellung mancher Westeuropäer zu Russland kurz nach dem Sieg der Oktoberrevolution:

Rußland war durch das bolschewistische Experiment für alle geistigen Menschen das faszinierendste Land des Nachkrieges geworden, ohne genaue Kenntnis gleich enthusiastisch bewundert wie fanatisch befeindet“.

Die Tatsache, dass viele Westeuropäer wie gebannt auf das „bolschewistische Experiment“ schauten, irritierte unzählige russische Emigranten, die sich darüber im Klaren waren, welchen Preis ihr Heimatland für dieses „Experiment“ bezahlen musste. Der russische Philosoph Fjodor Stepun, der in der Zwischenkriegszeit an der Dresdner TH lehrte, berichtet in seinen Erinnerungen über seine vergeblichen Versuche, die Verklärung der 1917 begonnenen russischen Katastrophe durch seine deutschen Gesprächspartner in Frage zu stellen.

Nun aber zurück zur These Alfred Webers aus dem Jahre 1925 über die „Re-Asiatisierung Russlands“ infolge der bolschewistischen Revolution. Als Weber dieses schrieb, bahnte sich gerade in Deutschland eine Katastrophe an, die den europäischen Kontinent in einen noch tieferen Abgrund stürzen sollte, als dies die bolschewistische Revolution getan hatte. Die russische Katastrophe von 1917 stellte also nicht nur ein Symptom der russischen, sondern auch der gesamteuropäischen Krise dar. Diese deutsch-russischen Parallelen zeigen, dass der Zusammenbruch der nach dem Sturz des Zaren im März 1917 entstandenen „ersten“ russischen Demokratie keineswegs auf den „asiatischen“ Charakter Russlands zurückzuführen war, wie Alfred Weber dies angedeutet hatte. Und auch die Bolschewiki selbst waren ihrem Selbstverständnis nach „Europäer“. Wenn sie von der proletarischen Weltrevolution träumten, dann bezog sich diese ihre Vision in erster Linie auf die hochentwickelten Industrienationen des Westens. Was Russland anbelangt, so verwandelten sie das von ihnen beherrschte Land in ein Experimentierfeld zur Verwirklichung von Ideen, die sie für die höchste Ausprägung des europäischen Geistes hielten. Ihrem Selbstverständnis nach setzten sie das Werk Peters des Großen fort, indem sie die „rückständigen“ russischen Strukturen zu modernisieren und zu „europäisieren“ suchten. Die Folgen ihrer Handlungen waren allerdings denjenigen ihres großen Vorgängers geradezu entgegengesetzt. Peter der Große hatte die Kluft zwischen Ost und West zumindest teilweise, überwunden, die Bolschewiki hingegen schotteten Russland erneut von der Außenwelt ab. Das Land wurde wieder, ähnlich wie der Moskauer Staat im 16. und im 17. Jahrhundert autark und verlor weitgehend den Anschluss an die Moderne. Das gleiche Schicksal ereilte auch die osteuropäischen Vasallenstaaten Moskaus, die 1945 zum Bestandteil des „äußeren Sowjetimperiums“ werden sollten.

Die Rückkehr nach Europa?

Um so erstaunlicher waren die Prozesse, die sich auf dem Kontinent im ausgehenden 20. Jahrhundert anbahnten. Zwei Teile Europas, die siebzig Jahre lang voneinander getrennt gewesen waren, begannen zusammenzuwachsen. Ein Teil der russischen bzw. sowjetischen Eliten wurde nun von der Sehnsucht erfasst, nach Europa zurückzukehren. Und es wäre völlig verfehlt, diese Sehnsucht als „romantische Schwärmerei“ abzutun, wie dies gelegentlich geschieht. Denn sie hatte ganz konkrete politische Folgen. Das politische Wunder der friedlichen Revolutionen von 1989, die Überwindung der europäischen Spaltung und die deutsche Einheit wären ohne diese „Sehnsucht“ und ohne den Verzicht des Reformflügels in der Gorbatschow-Equipe auf die „Breschnew-Doktrin“, die der Gorbatschowschen Idee vom „gemeinsamen europäischen Haus“ eklatant widersprach, undenkbar gewesen.

Die „Heimat der Diktatur des Proletariats“, das „Mekka“ der Unterdrückten der Erde wurde nun ähnlich entzaubert, wie Peter der Große dies dreihundert Jahre zuvor mit Moskau, dem „Dritten Rom“ getan hatte. Nach dem petrinischen Verzicht auf den russischen „Sonderweg“ hatte das Land eine Chance erhalten, prägend auf die Entwicklung der europäischen Kultur in ihrer Gesamtheit mitzuwirken. Die Gorbatschowsche Umwälzung schien Russland erneut, nach einer siebzigjährigen Trennung vom westlichen Diskurs, diese Chance zu gewähren.

Inzwischen ist allerdings die Euphorie der Jahre 1989-1991 verflogen. Isolationistische Kräfte sowohl im Osten als auch im Westen, die den europäischen Charakter Russlands in Frage stellen, nehmen an Stärke zu. Die russischen „Europäer“, denen der Kontinent die friedliche Überwindung seiner jahrzehntelangen Kluft im Wesentlichen verdankt, stehen zurzeit in ihrem Land mit dem Rücken zur Wand und scheinen ihre Auseinandersetzung mit den radikalen Gegnern des Westens verloren zu haben – dies, vor allem nach der Errichtung der „gelenkten Demokratie“ Wladimir Putins. Die Protestdemonstrationen, die am 26. Marz in vielen russischen Städten stattfanden, zeigten indes, dass die „europäische Sehnsucht“, die das Land vor etwa 30 Jahren erfasst hatte, aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein keineswegs verschwunden ist. So ist eine erneute Rückkehr der russischen Europäer auf die politische Bühne des Landes, in welcher Form auch immer, in absehbarer Zukunft keineswegs ausgeschlossen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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