Gesunder Menschenverstand? Ach was.
Er ist ein mächtiger Helfer in der Diskussionsnot. Selbst wenn man keine Argumente hat und auf verlorenem Posten steht, wenn die hässliche Frage nach dem Warum gestellt wird, wenn einem nichts mehr einfällt. Dann ist er stets zur Stelle. Bei jedem Thema. Ohne Ausnahme. Wie ein Notheiliger. Der Joker. Zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. Der gesunde Menschenverstand.
Ich hatte dem vor ein paar Jahren bei The European schon mal eine gehörige Breitseite verpasst, aber der Kerl ist nicht tot zu bekommen, dabei ist er nur ein elender Blender und Betrüger. Ein talentierter Mr. Ripley der Diskussionskultur.
Immer wieder wird behauptet, der gesunde Menschenverstand sage irgendetwas. Das ist eine plumpe Lüge. In Wirklichkeit sagt nur derjenige etwas, der behauptet, der gesunde Menschenverstand habe ihm etwas geflüstert. Das soll seiner Aussage mehr Gewicht verleihen, als sie in Wirklichkeit hat. Früher konnte man noch erzählen, man habe seine absoluten Weisheiten im unmittelbaren Gespräch mit Gott erhalten und sie in Stein gemeißelt vom Berg geschleppt, aber das ist heute zu gefährlich. Da landet man sehr schnell in der Psychiatrie, selbst wenn es denn wahr wäre. Göttliche Nachrichten gelten heute als suspekt. Also nennt man stattdessen den gesunden Menschenverstand als Quelle seiner Erkenntnis und macht ein wichtiges, bedeutsames Gesicht dazu. Oder das, was man dafür hält.
Der gesunde Menschenverstand und ein bisschen finanzielle Bildung reichen völlig aus.
meint z.B. Christian W. Röhr, Gründer der Internetplattform Dividenden-Adel. Komischer Name, denn in manchen Regionen Deutschlands bedeute Adel auch Gülle. Aber egal, dann versuchen Sie mal damit Ihr Geld zu vermehren. Wenn’s nicht klappt, war Ihr Menschenverstand vermutlich ein wenig kränklich. Aber Sie hätten dann immerhin eine wichtige Erfahrung gemacht: Ihr Geld ist futsch.
Ich gestehe, mittlerweile reagiere ich trotz grundsätzlicher rheinischer Gelassenheit schon leicht aggressiv, wenn mir jemand etwas vom gesunden Menschenverstand erzählen will und dabei auch noch so tut, als sei das irgendetwas universelles, etwas, das jeder in gleicher Weise einfach haben müsse, falls er nicht zu doof oder krank ist. Merken diese Menschen nicht, dass das, was sie da erzählen, aus keiner anderen Quelle stammt, als aus ihrem eigenen mehr oder weniger gut funktionierenden Hirn? Vermutlich nicht, sonst würden sie mich nicht immer völlig entgeistert anschauen, wenn ich sie frage, wo ich denn diesen ominösen „gM“ finden könne, ich hätte den nämlich nicht. Ich glaubte zwar einen eigenen Verstand zu haben, der allways ultra immer gesunde Menschenverstand sei mir aber noch nicht begegnet.
Das Gehirn ist ein ziemlich perfektes Arschloch, wenn es darum geht, dem jeweiligen Eigentümer seinen gesunden Menschenverstand zu suggerieren. Wenn Sie dazu Gelegenheit haben, einmal eine geschlossene Psychiatrie zu besuchen, werden sie feststellen, dass viele Patienten überhaupt nicht auf die Idee kommen, dass mit ihrem Gehirn etwas nicht stimmen könnte. Natürlich weiß der Stockbesoffene „Kanufahren, Eishockey“ (kann noch fahren, alles ikay) und die Zahl der Dementen, die freiwillig der Führerschein abgibt dürfte in etwa mit der Zahl der Burkaträgerinnen übereinstimmen. Niemand käme auf die Idee, sein gesunder Menschenverstand könne ihm etwas falsches eingeben. Selbst der Geisterfahrer ist davon überzeugt, dass der Mainstream falsch fährt.
Hier kocht die Volksseele
Meine Aversion gegen den gesunden Menschenverstand gründet vermutlich darauf, dass unter seinem Gütesiegel gar nicht selten völliger Blödsinn oder auch menschenverachtender Gedankenmüll geäußert wird. Gerne über Umvolkung, Neger, Terroristen und zur Vergewaltigung neigende Nationen, aber auch über Chemtrails, eine jüdische Weltverschwörung, die Unmöglichkeit des Holocaust, das Bestehen des deutschen Reiches, die BRD GmbH oder die Wirksamkeit von Zuckerpillchen und Schamanenzirkus. Der gesunde Menschenverstand schreckt vor nichts zurück. Im Rheinland sagt man „der is für nix fies“. Er steht in einem direkten Verhältnis zum gesunden Volksempfinden und beide wiederum sind mit der ominösen Volksseele eng verwandt. Sie wissen schon, dass ist diese Übererregbare, die immer so gerne kocht. Meistens etwas völlig ungenießbares.
Die schlimmsten Verbrechen wurden selbstverständlich mit dem „gesundem Menschenverstand“ begründet. Womit auch sonst? Und das hat sogar geklappt. Niemand hat Rudolf Hess bei seiner Rede in Stockholm am 14.5.1935 widersprochen, wo er sagte:
Eine spätere Geschichtsschreibung wird anerkennen, was Hitler für die Konsolidierung nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Verhältnisse dadurch getan hat, daß er einen ebenso entschiedenen, wie klaren Weg der deutschen Politik einschlug und daß er vor aller Welt aussprach, was ist.
So wie in der Innenpolitik Deutschlands hat er auch in der Außenpolitik den gesunden Menschenverstand ausschlaggebend zur Geltung gebracht. Für Deutschland hat Adolf Hitler durch Taten dieses gesunden Menschenverstandes die Gesundung gebracht. Ich bin der Überzeugung, daß er auch in der Außenpolitik durch die Anwendung des gleichen Prinzips klarere und gesündere Verhältnisse schafft, die helfen werden, der Welt diese notwendige Beruhigung zu bringen.
Da hat keiner gerufen, Du bist doch bescheuert, Du Hirni, steck Dir Deine Gesundung sonst wo hin. Und auch heute noch gibt es Menschen, die sich die Herrschaft des gesunden Menschenverstandes zurück wünschen.
„Vor aller Welt aussprechen was ist“ heißt heute „das wird man doch noch sagen dürfen“ . Dass die Lügenpresse uns absichtlich die Wahrheit verheimlicht, weil sie von linken Edelfedern verseucht ist, sagt doch schon der gesunde Menschenverstand, nicht wahr. Der erkennt jede Verschwörung innerhalb von Sekunden und verrät den Unwissenden ungefragt, wie die Welt wirklich funktioniert. Den entsprechenden Netzwerken sei Dank, findet sich auch für jeden Firlefanz gleich eine passende „Gruppe“, die jeden, der widerspricht zum Feind oder kranken Idioten erklärt.
Rennen Sie!
Rennen Sie soweit Sie können, wenn jemand seine Politik mit dem gesunden Menschenverstand begründet. Packen Sie schon mal die Koffer, falls so ein Jemand versehentlich in eine Machtposition geraten könnte. Wer glaubt, er sei der Exekutor des gesunden Menschenverstandes, der schreckt vor nichts zurück. Ein Fan des gesunden Menschenverstandes schickt sich gerade an, Amerikas neuer Präsident zu werden. Gruselig, wenn so ein Mann die Macht über das Atomwaffenpotential bekäme.
Meinungen sind in Deutschland frei. Sie bedürfen keiner Begründung. Man kann und darf einfach meinen und auch äußern, was man will und das im Rahmen der Strafgesetze, die Beleidigungen, üble Nachrede und Volksverhetzung verbieten, ansonsten aber jeden Schwachsinn zulassen. Das garantiert unser Grundgesetz. Meinungen müssen nicht einmal verfassungsgemäß sein. Sie dürfen sogar explizit gegen die Verfassung gerichtet sein. Alles erlaubt. Auch purer Unfug. Das Bundesverfassungsgericht stellte klar:
Das bedeutet nun aber nicht, das alles was so an Meinungen geäußert werden darf, auch unwidersprochen in der Presse veröffentlicht und bejubelt werden muss. Ganz im Gegenteil. Die grundgesetzlich garantierte Pressefreiheit beinhaltet auch die Freiheit des Verlegers, irrwitzige Meinungen zu ignorieren, Leserbriefe nicht zu veröffentlichen und Autoren ohne Begründung abzuweisen. Das hat weder mit Zensur noch mit Lügenpresse zu tun, auch wenn der gesunde Menschenverstand dem verschmähten Besitzer eines solchen etwas anderes sagt. Und diese Freiheit gestattet jedem, Meinungen, die ihm nicht gefallen, deutlich und auch polemisch zu widersprechen. Niemand muss seine Meinung „beweisen“, das geht nämlich gar nicht. Niemand muss den gesunden Menschenverstand beschwören, wenn er für seine Meinung keine Argumente findet. Ganz im Gegenteil. Meinen ist lediglich ein Fürwahrhalten, dem subjektiv wie objektiv eine hinreichende Begründung fehlt.
Keine Hühnerknochen
Auch und gerade den Strafgerichten wird gerne vorgeworfen, ihre Urteile ließen den gesunden Menschenverstand vermissen. Diese Feststellung ist glücklicherweise meistens zutreffend. Gerichte müssen ihre Urteile anhand von festgestellten oder auch nicht festgestellten Tatsachen auf der Basis von Gesetzen fällen. Da ist der gesunde Menschenverstand eher schädlich, weil er ja gerade immer die Schlussfolgerungen zieht, für die es keinerlei objektive Grundlage gibt. Gerichte pendeln ihre Urteile nicht aus, befragen keine Hühnerknochen und orientieren sich nicht an Verschwörungstheorien.
Für die kochende Volksseele, deren einziges Kriterium der gesunde Menschenverstand ist, steht schon Minuten nach einer Straftat fest, wer der Täter ist und natürlich auch, dass eigentlich Merkel und die „Bahnhofsklatscher“ schuld sind. Merkel ist jedenfalls immer an allem schuld. Das können Sie jeden Tag in den sogenannten sozialen Netzwerken verfolgen. Der Flüchtling war’s, von Merkel angelockt. Das weiß doch jeder. Und wenn sich hinterher rausstellt, dass das Vergewaltigungsopfer gelogen hat, ändert das an der Bewertung des Täters, der ja nun gar keiner ist, gar nichts.
Die gesetzliche Unschuldsvermutung
Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist. ( Art. 11 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948)
ist für den gesunden Menschenverstand eine unerträgliche Zumutung. Ermittlungen abzuwarten, Spuren auszuwerten, einen langwierigen Prozess ertragen zu müssen, wo doch die Schuld „klar“ ist, wozu? Der Lieblingsprozess des Fans des gesunden Menschenverstandes ist der kurze Prozess, der mit dem rechtsstaatlichen Prozess so gar nicht gemeinsam hat. Wegsperren, ausweisen, abschieben, manchen reicht auch das nicht. Die Strafen des Rechtsstaats sind Kuschelgesetze, der gesunde Menschenverstand ist ein Vertreter des Racheengels. Er liebt es hart.
Strafverteidiger sind überflüssig und halten nur den Lauf der Gerechtigkeit auf. Schließlich spricht das Gericht ja im Namen des Volkes, da soll es dem Volk auch geben, was das Volk verlangt. Der Erdogan, ja der versteht das, der gibt seinem Volk die Todesstrafe und lacht sich ins Fäustchen. Wie viele seiner Fans werden einmal hingerichtet werden, wenn das große Säubern beginnt. Wer Zweifel an der Schuld eines Verdächtigen äußert, ist ein Relativierer oder gar ein Volksverräter. Und dabei ist es genau das, auch das bewusste in Relation setzen, das Zweifeln, das Hinterfragen von Aussagen und Quellen, das Überprüfen der eigenen Erkenntnis, was den Verstand des Menschen aus macht.
In Rudolf Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffen ist der Unterschied zwischen Verstand und „gesundem Verstand“ sehr schön beschrieben:
Verstand (logos, epistêmê, intellectus, intelligentia, ratio, entendement, understanding) ist im weitern Sinn die Denkkraft, die Intelligenz gegenüber der Sinnlichkeit, im engeren, gegenüber der Vernunft (s. d.), die Einheit, Fähigkeit des geistigen Erfassens, des (richtigen) Begreifens (Abstrahierens) und Urteilens, kurz des beziehend-vergleichenden, analysierenden Denkens, sowie des »Verstehens«, d. h. des Wissens um die Bedeutung der Worte und Begriffe. »Gesunder Verstand« (»bon sens«) ist die natürliche (schon ohne besondere Ausbildung wirksame) Auffassungs- und Beurteilungskraft, das normale, aber unmethodische, daher auch leicht fehlgehende Denken.
Gut Ding
Hinterfragen und schnelle Schlüsse vermeiden. Gründlich ermitteln und gerade auch bei den Ermittlungen in alle Richtungen denken, sich nicht zu früh festlegen und auch seine eigenen Vorurteile und Scheuklappen immer wieder bewusst machen und anhand von Fakten zu überprüfen, das dauert. Wer ein strafrechtliches Urteil kritisieren möchte, darf das natürlich tun. Fehlurteile sind keine Seltenheit, Richter auch nur Menschen. Dabei sollte man aber bedenken, dass eine wirkliche Beurteilung einer Entscheidung nur möglich ist, wenn man diese auf derselben Basis treffen kann, die dem Gericht zur Verfügung stand. Also Kenntnis der gesamten Ermittlungsakte einschließlich der Beweismittelordner, Teilnahme an allen Hauptverhandlungsterminen und nicht zuletzt eine gehörige Rechtskenntnis. Ein Artikel aus der BILD oder auch aus der „Zeit“ kann diese Basis nicht ersetzen. Und Hopplahopp geht so etwas schon gar nicht. Ein Richter sagte einmal zu einem ungeduldigen Kläger: „Prozess kommt von procedere. Das ist Latein und bedeutet, voran gehen, voran schreiten. Da steht nichts von rennen.“ Der Volksmund sagt, gut Ding will Weile haben. Das wird dem gesunden Menschenverstand überhaupt nicht einleuchten, denn der weiß ja immer alles sofort und vor allem besser. Und wenn sich dann später herausstellt, dass er falsch lag, dann behauptet er halt einfach kackfrech, auch das schon immer gewusst zu haben.
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