Frühsexualisierung und antihomosexuelle Propaganda

„Frühsexualisierung“ ist ein Gespenst und hat viel mit antihomosexueller Propaganda zu tun, so Kolumnist Wolfgang Brosche.


Der Kollege Alexander Wallasch ist auf die antihomosexuelle Propaganda (denn darum geht es tatsächlich) bei der WELT und von Birgit Kelle, die darauf spezialisiert ist, hereingefallen – und beruft sich auch noch auf das ominöse Internetorgan „gaystream“, des längst als Rechtspopulisten enttarnten David Berger. Berger hat sich inzwischen an ausgesprochene Gegner der Gleichstellung Homosexueller heran geschmeichelt, wenn es nur seinem Feldzug gegen die LGBT-Emanzipationsbewegung nützt.

Vor einem Jahr schrieb ich für meinen Blog „Gespräche über Pflaumenbäume“ diesen Beitrag. Ich habe ihn für diese Gelegenheit auf den neuesten Stand gebracht.

Das Gespenst der Frühsexualisierung

Der bildungspolitische Sprecher der CDU in Thüringen hat im vergangenen Jahr der rot-rot-grünen Landesregierung in einer Presseerklärung vorgeworfen, daß die Berücksichtigung von LGBT-Themen im Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahren „problematisch“ sei. Tichner warnte die Regierung davor, die Sexualerziehung „über die Köpfe der Eltern“ hinweg zu entscheiden. Die würden nämlich eine „zu frühe Sexualisierung ihrer Kinder“ befürchten.

Was ist das eigentlich „Frühsexualisierung“ – ein Begriff, den man seit den Demonstrationen gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg immer wieder von „besorgten Eltern“, der „Demo für Alle“, zu deren Umfeld auch Birgit Kelle gehört, und von religiös und äußerst rechts orientierten Figuren und Organisationen hört.

Bitte mal rasch googlen – man wird erfahren, daß es sich weder um einen Begriff aus der Psychologie, noch der Sexualwissenschaft oder der Soziologie handelt. Wenn man aber einmal die vielen Treffer genauer untersucht, wird man feststellen, daß dieser „Neologismus“ eine Erfindung der sexualpathologischen Rechtskatholiken ist, die sehr gerne von Evangelikalen Schwulenhassern übernommen wird und keine Frage eben auch von rechten Kämpfern für Normierung und Normalität im Sinne der AfD.

Der einzige „Fachmann“, der diesen Begriff in den Mund nimmt, ist der berüchtigte Psychiater Raphael Bonelli, opus-dei-Mitglied und Veranstalter ominöser Psychologie-Kongresse. Er müht sich seine ganze zweifelhafte Karriere hindurch Katholizismus und Psychologie zu verschmelzen – und er formuliert sehr deutlich, was „Frühsexualisierung“ für ihn bedeutet: es sei das Muster der Pädophilen schlechthin. Sexuelle Übergriffe gegen Minderjährige würden schließlich stets damit beginnen, „daß der Täter beim betroffenen Kind zuerst dessen Aufklärung fördert und in ihm ein außergewöhnliches, nicht-altersadäquates Interesse an Sexualität weckt.“ Pädophile würden ihre Opfer oft zu Autoerotik und zu Sexspielchen mit Gleichaltrigen anleiten. Daß bloßes Wissen über Sexualität vor Übergriffen schütze, so Bonelli weiter, ohne Belege zu bringen, sei widerlegt.

Nicht nur, daß es sich hier um Kämpfe gegen Aufklärungsunterricht in Schulen handelt, wie sie bereits vor 40 und mehr Jahren, als dieser Unterricht flächendeckend eingeführt wurde, die öffentliche Debatte beherrschten – es geht natürlich um mehr:

Die neuen Bildungspläne sehen in toto vor, daß Kinder schon im Grundschulalter über mehr als nur die heterosexuelle Papa-Mama-Kind-Familie erfahren, daß es andere Arten von Liebe und Zuneigung gibt, die nicht weniger wert sind als jene. Das ist zunähst einmal alles – und wenn dann Fragen kommen zur Sexualität und zum Zusammenleben, dann sollen sie auch altersgerecht beantwortet werden.

DAS wollen die Gegner mit dem Begriff „Frühsexualisierung“ diskreditieren und verhindern. Sie phantasieren dabei das Bild des reinen, unschuldigen Kindes – ein Phantasma vor allem der Catholica. Jeder Sexualforscher, jeder Psychologe könnte diesen Leuten erklären, daß diese Vorstellung von „Unschuld“ eine christkulturelle Illusion ist. Der Mensch ist ein sexuelles Wesen von der ersten Minute an – physisch, psychisch und mental – es will sich Lust verschaffen: ob es das Saugen des Kindes beim Stillen ist, die frühkindliche Masturbation (jawohl, die gibt es – auch ohne Anleitung) und ob es die Doktorspiele oder das erotische Rangeln und Schubsen, Boxen und Hinternklatschen der Vorpubertierenden im Schwimmbad sind.

Was aber Katholpsychiater wie Bonelli & Co daherschwafeln, ist der vermuffte Lebens-Uraltweg der Scham und der Angst, der Sexualneurose von Anfang an. Nicht nur die Vertreter der Religion stürzen sich auf die Sexualität der Kinder oder die Verhinderung dieser Sexualität – alle totalitären Ideologien sind zutiefst an den Geschlechtsorganen und den sexuellen Wünschen, Träumen und Empfindungen ihrer Untertanen interessiert. Kein Wunder, daß auch Neorechte und Ausländerfeinde so gerne die sinkende Geburtenrate z.B. in unserem Land und die neuen Freiheiten für Homosexuelle in einen Topf werfen oder immer schäbig auf muslimische Frauen verweisen, die angeblich mehr Kinder zur Welt brächten als deutsche. (Wobei es natürlich auch genügend muslimische Deutsche gibt! – Hab ich nicht vergessen!)

Eine der übelsten Vertreterinnen der katholischen Sexualpathologie, Christa Meves, will gar überhaupt keinen Aufklärungsunterricht, da sie meint, die Natur würde schon alles regeln; was die Katholiken so für Natürlichkeit halten ist ganz klar das Gespenst der Naturrechtes etc. pp.

Die Chimäre des „reinen Kindes“

Doch 2000 Jahre Christentum und die Unterwerfung des Natürlichen unter eine zwanghafte „Sittlichkeit“, die Sexualität nur zur Zeugung des Nachwuchses zuläßt und die alle anderen Formen als negativ, krank, verderbt und satanisch brandmarkt, haben die Natürlichkeit zerstört. Deshalb mußte auch die Chimäre des „reinen Kindes“ erfunden werden, parallel zur unbefleckten Jungfrau. Wie ja überhaupt der Kult ums Hymen eine der zentralen Pathologien des Christentums ist und zu unbeschreibbarem Leid von Frauen geführt hat – andere monotheistische Religionen stehen da nicht nach!

Hinter dem Begriff der „Frühsexualisierung“ steckt eigentlich der Wunsch nach einer pathologischen Reinheit – die Besessenheit nämlich, Sexualität und Körper seien etwas Schmutziges (was sie auch manchmal sein können und dürfen). Und in diese Verdruckstheit, diesen Viktorianismus will man recht eigentlich zurück!

Aber „Frühsexualisierung“ ist auch schon ein Euphemismus. Er taucht ja interessanterweise erst jetzt auf, da in vielen Bundesländern erwogen wird (die Pläne sind noch längst nicht beschlossene Sache), im Aufklärungsunterricht Homosexualität gleichwertig wie die Heterosexualität zu behandeln. DAS ist es tatsächlich, was die „besorgten Eltern“ und die „Demo für Alle“ auf die Palme bringt. Eine ihre Gallionsfiguren, Gabriele Kuby, spricht ganz offen davon, eine solche Gleichwertigkeit könne Kinder verwirren. Nein, noch mehr, es sei die Absicht, Kinder zu verwirren – siehe Bonelli – um sie dadurch für Pädophile empfänglicher zu machen. Und schwupps, sind wir wieder bei der alten Haßbehauptung, Schwule (und es geht meistens um sie – Lesben werden, weil sie ja Frauen sind und für diese Figuren sowieso weniger wert – kaum berücksichtigt) sind Kinderverführer und wollen sie ins Verderben stürzen.

Genau dies steht als hinter dem Machtwort „Frühsexualisierung“ – es soll damit evoziert werden, es gäbe eine ausgedehnte Verschwörung von Kinderschändern, die jetzt in den Schulen bereits an die Kinder heran wollten. Diesen Unsinn verbreiten nicht nur die „besorgten Eltern“, die üblichen apokalyptischen Reiter des Homohasses von Kuby über Kelle bis Meves und Laun, sondern auch – sie marschieren im Gleichschritt – rechte Verschwörungstheoretiker wie Jürgen Elsässer oder neuerdings auch die zur braunen Kenntlichkeit geschrumpften Fanatiker der AfD. Man will nicht vom „Feindbild“ des Homosexuellen lassen, der Kinder und letztlich damit auch Staat und Kirche und Kultur bedroht! Man braucht ihn einfach, den Homosexuellen als Monster, als Sexsatan, als Projektionsfläche für Haß und unerfüllte eigene Wünsche. Und schließlich auch als Objekt des eigenen Sadismus und des Wunsches mit biblischen Begründungen zu beseitigen, was einem nicht paßt. Eine befreite und selbstverständliche Sexualität würde letztendlich das Verlangen dieser Leute nach Kaltstellung derjenigen, die nicht so sind wie sie, sabotieren!

Kampfbegriffe gegen Gleichberechtigung

„Frühsexualisierung“ ist also nur eine neue Vokabel, aber keine neue Tatsache – es ist ein Kampfbegriff gegen Gleichberechtigung und auch gegen Kinderrechte. Denn was mit den Bildungsplänen zur Sexualerziehung beabsichtigt wird, würde zu einem größeren Selbstbewußtsein von Kindern überhaupt führen, wenn es um Sexualität und Partnerschaftlichkeit geht. Es würde auch bedeuten, viele verunsicherte, ängstliche und bedrückte Kinder und Jugendliche würden weniger Leid und Elend empfinden und erleben, wenn sie entdecken, daß sie eben keine heterosexuellen Gefühle haben.

Ein führender Grund für jugendlichen Suizid ist das Nicht-Zurechtkommen mit der eigenen Homosexualität und dem Widerstand der Eltern und des weiteren Umfeldes. Und ist es nicht erschütternd, daß ebenfalls einer der Hauptgründe fürs Ausreißen und jugendliche Obdachlosigkeit noch immer die unbewältigte Homosexualität der Kinder ist?

Aber all das ist den braven Christen, den besorgten Eltern und den Demagogen vom rechten Rand völlig egal. Mit dem Begriff der „Frühsexualisierung“ wollen sie Programme der Humanisierung vernichten. Bewußt evozieren sie ja die in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren endlich bekannt gewordenen Verbrechen an Kindern. Daß aber überhaupt über Mißbrauch diskutiert wird, haben wir einem freien Umgang mit Sexualität zu verdanken – jetzt erst wird deutlich, wie eng sexueller Mißbrauch und damit Gewalt verknüpft sind mit einem System der „Sittlichkeit“, des Verschweigens und der Verteufelung der Sexualität.

So viele Pädophile wie Sexualverbrechen an Kindern gibt es gar nicht – die unerhörte Zahl solcher Verbrechen erklärt sich nur, wenn man sich die besorgten und liebenden Eltern, die zärtlichen Verwandten und die den Kindern angeblich so freundlich zugetanen Trainer, Pfarrer und Lehrer anschaut – Leute, die mit ihrer eigenen Sexualität nicht fertig werden und sie deshalb an Kindern austoben.

Der Unsinn von Dildos und Puff im Unterricht

Birgit Kelle und Konsorten werden nicht müde den Unsinn von Dildos und Puffübungen im Unterricht zu verbreiten. Sie sind dazu mehrfach wiederlegt worden. Die WELT konnte es nicht lassen, solche Unterstellungen erneut zu behaupten und das sich als Nachrichtenmedium gerierende „gaystream“, des längst als Rechtspopulisten erkannten David Berger, sprang natürlich auch noch einmal darauf an. Berger, der inzwischen die Nähe von Schwulengegnern wie Birgit Kelle, Hedwig von Beverfoerde oder Erika Steinbach sucht, um seinen privaten Feldzug gegen das, was er für „Linksgrün Versiffte“ Schwule hält zu führen, machte in den letzten Tagen (im wahrsten Sinne des Wortes) von „sich“ reden, als er die Sperrung seines ominösen „gaystreams“ auf Facebook (wegen antimuslimischer Angriffen) als Zensurmaßnahme von Justizminister Heiko Maas bezeichnete, die angeblich internationale Beachtung gefunden habe. Eingeschnappt suchte er sich im Putin-Rußland einen neuen Server. Jenem Rußland, das in schönster Gemeinsamkeit zwischen Regierung und orthodoxer Kirche, den Homosexuellen as Leben vergällt und ihnen sogar Zuneigungsbekundungen in der Öffentlichkeit verbietet.

Der neue Ansatz im Bildungssystem, die Kenntnisse über Sexualität und über menschliche Lust und Liebe nicht nur auf das Heterosexuelle zu beschränken, erfordert natürlich, daß dabei auch homosexuelle Lust und Liebe eben nicht nur im Aufklärungsunterricht behandelt werden. Dazu gehört – aber das will Birgit Kelle, auf die sich der Kollege Wallasch beruft (wollen aber auch die Anhänger der „Demo für Alle“) ausblenden.

 

Sofern man die homosexuelle Sexualität also wieder ausblendet und verdrängt, beruht das auf immer den gleichen antisexuellen Vorurteilen: Sexualität ist sowieso unsittlich, wenn schon darüber aufgeklärt werden soll, dann nur über die Fortpflanzungsfunktion – jede andere Art der Sexualität ist zweitklassig, niederrangig, ansteckend und damit gesellschaftsschädigend. Am Schluß bleibt der abgrundtief dumme Satz übrig, den mit dem mich Vater, der meine Homosexualität nie akzeptieren wollte, bewußt verletzte: „Wenn alle so wären, würde die Menschheit aussterben!“ – Homosexuelle werden durch diese primitive Volte zur Menschheitsgeißel gemacht! Und so machen es alle, die davon schwafeln, man werde doch noch Homosexuelle kritisieren dürfen.

Letztendlich geht es bei diesem Diskurs um nichts anderes als um die Herrschaft der Eltern über die Geschlechtsorgane der Kinder. Daß Autorinnen wie Birgit Kelle natürlich immer die Gefahr der Verführung und des Mißbrauchs insinuieren hat einen Grund – so kann man leichterdings Homosexuelle wieder in die altbekannte Nähe von Pädophilen rücken. Das ist der ganze Trick beim Geschrei um die „Frühsexualisierung“ durch die neuen Bildungspläne.

 

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