Studie ohne Hemmung

„Enthemmte Mitte“ – Eine Studie macht Schlagzeilen. Eine Wissenschaft will damit ihre wesentliche Aufgabe erfüllen. Aber was steht in der Studie?


In den letzten Tagen machte wieder einmal eine Studie Schlagzeilen. Genauer gesagt machte – wie das immer so ist – nicht die Studie die Schlagzeilen, sondern die Journalisten, die über die Studie berichteten. Wobei man in diesem Falle schon sagen muss, dass die Autoren der Studie ihren Teil zum Zeilenschlagen beigetragen haben, trug sie doch die schlagende Titelzeile: „Die enthemmte Mitte“. Der erläuternde Untertitel war dann „Autoritäre und rechtextreme Einstellungen in Deutschland“.

Soso, die Mitte ist also „enthemmt“ – das heißt dann wohl, früher war sie mal gehemmt, ihre „autoritären und rechtsextremen Einstellungen“ zu zeigen, aber jetzt lässt sie alle Hemmungen fallen und ist womöglich ganz offen rechtsextrem und autoritär. Das ist natürlich eine ernste Sache, die besorgt auch den Philosophen. Schauen wir also mal mit einem vorsichtigen philosophischen Blick in dieses Produkt gesellschaftswissenschaftlicher Forschung.

Die große Aufgabe

Denn diesen Anspruch hat die Studie. Gleich zu Beginn des ersten Kapitels heißt es:

Eine wesentliche Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften ist die Untersuchung von rechtsextremen Einstellungen und autoritären Orientierungen.

Da ist man ja schon gleich das erste Mal verblüfft. Dachte man doch gerade noch, dass die Wissenschaften frei sind und sich erst mal gegen jede Art von „Aufgabenzuweisungen“ wehren dürften und auch sollten, erfährt man hier, dass die Gesellschaftswissenschaften sogar eine „wesentliche Aufgabe“ haben. Die ist zudem sogar sehr speziell. Sie richtet sich nicht etwa auf alle möglichen gesellschaftlichen Phänomene und Strukturen, sondern vor allem auf „rechtsextreme Einstellungen und autoritäre Orientierungen“.

Da fragt man sich natürlich, wer den Gesellschaftswissenschaften diese wesentliche Aufgabe gegeben hat. Leider findet sich dazu in der Studie keine Fußnote. In einem Land vor unserer Zeit hätte es ganz sicher so eine Fußnote gegeben, da wäre der entsprechende Politbürobeschluss genannt gewesen, oder wenigstens eine Rede des Generalsekretärs.

Hier aber nichts dergleichen – zum Glück. Wir müssen vermuten, dass „die Gesellschaftswissenschaften“ sich ihre „wesentliche Aufgabe“ denn doch selbst gegeben haben – man hätte natürlich trotzdem gern gewusst, warum es gerade diese war und wie „die Gesellschaftswissenschaften“ das anstellen, sich eine solche Aufgabe zu geben.

Was ist nochmal rechts?

Wer sich so eine wesentliche Aufgabe gibt, der wird sicherlich genau wissen, was der Gegenstand der Aufgabe ist. Man vermutet ja als naiver Philosoph, dass „Rechtsextrem“ irgendwie so etwas ist wie „extrem weit rechts“ und ist nun gespannt darauf, einen Hinweis zu finden, was eigentlich „rechts“ (vermutlich im Gegensatz zu „links“) ist.

Tatsächlich gibt es in der Studie sogar eine „Definition“ – die definiert aber nicht „Rechts“ sondern gleich „Rechtsextrem“. Diese Definition lautet:

Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen.

Da ist man schon wieder verblüfft. „Ungleichwertigkeitsvorstellungen“ sind also das „verbindende Kennzeichen“ der „rechtsextremen Einstellungsmuster“.

Damit eine Definition gut ist, so haben wir irgendwie schon bei Aristoteles gelernt, muss sie trennscharf sein, d.h., man muss ganz gut feststellen können, was dazu gehört, und was nicht. „Ungleichwertigkeitsvorstellungen“ – naja, die Linksextremen z.B. halten die Kapitalisten wahrscheinlich auch nicht für so wertvoll wie die unterdrückten Proletarier. Und die Extremen unter den Natur- und Umweltschützern haben wohl auch klare Vorstellungen davon, was oder wer wertvoll ist und was nicht.

Wahrscheinlich ist es ja so, dass Extreme überhaupt dadurch extrem werden, dass sie aus Unterschieden zwischen Menschen Bewertungen machen, durch die die einen wertvoller als die anderen zu sein scheinen. Während die Gemäßigten zwar Unterschiede zu ihren Gegnern sehen, ist dem Extremen der Andere weniger Wert, er ist ihm so fremd, dass er ihn, um sich selbst zu behaupten, ab-werten muss.

Exkurs: Schmitt, Mouffe, Greven

Dazu einen kleinen Exkurs: Ich stehe, was das Verständnis politischer Kategorien betrifft, in der Tradition von Carl Schmitt, insbesondere in der Rezeption durch Chantal Mouffe und Michael Th. Greven. In dieser Tradition scheint mir zweierlei plausibel zu sein: Unter den Gemäßigten, egal welcher Ausrichtung, gibt es natürlich einen Konsens, wie man sein muss, wenn man dazu gehören will. Die diesen Konsens nicht einhalten, sind die Extremen, oder die Extremisten. Als solche werden Leute identifiziert, die den kulturstiftenden Konsens ablehnen. Gleichzeitig kann man den Extremismusvorwurf aber auch im Kampf gegen den politischen Gegner nutzen, indem man „Politik im moralischen Register“ spielt, d.h., den politischen Gegner dann mit links- resp. rechtsextremistischen Vorwürfen überzieht. Dann wirft man ihm eben vor, nicht gegen die extremistische Version der jeweiligen Seite immun zu sein, denen Eintrittspforten zu öffnen, sodass der (jeweilige) Extremismus „in die Mitte der Gesellschaft“ vordringen kann.

Konsequenz ist dann allerdings, dass der kulturstiftende Konsens der Gemäßigten damit aufs Spiel gesetzt wird. Ein Gegenmittel gegen diese Gefahr scheint mir zu sein, die wesentlichen Gemeinsamkeiten der verschiedenen Extremismen herauszustellen.

Die Konsensus-Konferenz

Also muss hier zunächst mal ein Begriff des Rechten existieren, dessen extreme Ausprägung man untersucht. Die wird aber nicht expliziert. Stattdessen werden Dimensionen aufgezählt, die man abgeleitet habe. Wie das gemacht wurde, das erkennt man weder in der Studie, noch in der Quelle (Vom Rand zur Mitte, Seite 20), dort wird nur auf die „Konsensuskonferenz“ verwiesen. Die hat nicht nur die Definition „gefunden“, sondern auch die Dimensionen „abgeleitet“. Leider wird nirgends auch nur in einer Fußnote angegeben, wie das geschah oder wo man das genauer nachlesen kann. Vielleicht muss man sich ja eine gesellschaftswissenschaftliche Konsensuskonferenz so ungefähr wie ein Pfingstwunder vorstellen.

Was mich aber gerade interessieren würde, ist, wie diese Dimensionen – und gerade diese und keine anderen – aus dieser These von den Ungleichwertigkeitsvorstellungen in der spezifisch rechten Ausprägung folgen. Mir ist es etwa nicht intuitiv plausibel, warum Leute, die einen autoritären Staat bevorzugen, von Ungleichwertigkeitsvorstellungen geleitet sein müssen. Schon gar nicht ist mir klar, was daran „rechts“ ist. Einheitsparteien mit hierarchischen Strukturen und starken Staat sehe ich als Sehnsucht eher auf der linken Seite des politischen Spektrums.

Das geschlossene rechtsextreme Weltbild

Vielleicht habe ich ja irgendwas übersehen, aber die Studie belegt soweit ich das sehe nicht, dass es Korrelationen zwischen den Dimensionen gibt. Also dass etwa Leute, die einen autoritären Staat wollen, auch antisemitisch und schwulenfeindlich sind und den Nationalsozialismus verharmlosen. Nur dann würde der Begriff des Rechtsextremismus als Zuschreibung für eine Personengruppe ja durch das Modell gestützt werden können. Sonst sieht es ja so aus: Ich sammle mir mal alle Einstellungen, die ich irgendwie aus einem Konsens heraus ablehne, und klebe ihnen allen ein Etikett auf. Und dann summiere ich alle Leute, die eine dieser Einstellungen haben, unter dem Etikett, und wundere mich, dass es so viele sind.

Tatsächlich scheint die Grafik 13 zum so genannten „geschlossenen rechtsextremen Weltbild“ die sechs Dimensionen irgendwie zusammenführen zu sollen, wobei rätselhaft bleibt, was die Formulierung „Die hier aufgeführten Befragten stimmten im Durchschnitt allen sechs Dimensionen der rechtsextremen Einstellung zu“ bedeuten soll. „Im Durchschnitt allen Dimensionen zustimmen“ – ich glaube, so eine Formulierung hätte mir kein Professor in einer Statistik-Seminararbeit durchgehen lassen. Aber nehmen wir mal an, das bedeutet irgendwie, dass die betreffenden bei wenigsten fünf der sechs Dimensionen die Fragen zustimmend beantworten. Die Dimension „Verharmlosung Nationasozialismus“ hat nur eine Zustimmungsquote von 2,1%, die Dimension „Sozialdarwinismus“ von 3,4% – wie da noch 5,4% „im Durchschnitt allen“ Dimensionen zustimmen können, ist mir mathematisch ein Rätsel.

Die Schwulenfeindlichkeit

Irgendwie war die Studie noch nicht dick genug und deshalb musste sie, vielleicht auch, weil sie diesen merkwürdigen Titel von der enthemmten Mitte hat, auch noch was zur Schwulenfeindlichkeit sagen. Klar, irgendwie sind Nazis bestimmt auch Schwulenhasser, und wenn wir schon nur 2,1 % der Befragten der Verharmlosung des Nationalsozialismus überführen können – vielleicht finden wir ja ein paar mehr Leute – vor allem in der „enthemmten Mitte“ – die Schwule hassen.

Die Sache mit der angeblichen Schwulenfeindlichkeit findet sich in der Studie auf Seite 50f. Da wird dann also gefragt, ob man das „eklig findet“ wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen. 40% stimmen dem irgendwie zu. Leider unterscheiden die Autoren hier plötzlich nicht mehr zwischen den fünf Stufen der Zustimmung/ Ablehnung, sodass wir überhaupt nicht wissen, wie stark die Ablehnung wirklich ist. Außerdem wird nicht zum Vergleich gefragt, wie es mit der Aussage aussieht „Ich finde es überhaupt eklig, wenn sich Leute in der Öffentlichkeit küssen.“ Der Aussage „Homosexualität ist unmoralisch“ stimmen ja weit weniger Leute zu (auch hier kennen wir den Grad der Zustimmung nicht). Daraus einen allgemeinen Schwulenhass abzuleiten, ist also fragwürdig. Vielmehr kann es sein, dass ein großer Teil der Deutschen es ablehnt, dass in der Öffentlichkeit geküsst wird.

Merkwürdig ist auch, dass es eine Verdoppelung der Homosexuellen-Ablehnung innerhalb von zwei Jahren geben soll. Aus irgendeinem Grunde haben die Autoren nämlich Zahlen aus einer anderen Studie, die in 2014 erstellt wurde, und aus einer weiteren Quelle, die noch älter ist, hinzugezogen. Grafisch sieht es nun so aus, als sei die Schwulenfeindlichkeit enorm gestiegen. Die Studie vermerkt lapidar, dass die früheren Zahlen in Telefoninterviews erhoben wurden, während sie selbst Face-to-Face-Interviews gemacht haben. Warum aber sollte das zu einer Verdoppelung der Zustimmung zu anti-homosexuellen Aussagen führen? Wäre nicht eher das Gegenteil zu erwarten? Dazu schweigt die Studie.

Aber was am Ende hängen bleibt: 40% der Deutschen sind Schwulenhasser. Aber das ist Quatsch, lässt sich jedenfalls mit dieser Studie nicht seriös belegen.

Wo ist denn nun die „enthemmte Mitte“?

Was es mit der Mitte auf sich hat, die angeblich hemmungslos geworden ist, bleibt auch nach Ende der Lektüre ein Rätsel. Das Wort „enthemmt“ kommt in der ganzen Studie fünf Mal vor: Auf dem Deckblatt, auf dem zweiten Deckblatt, auf dem dritten Deckblatt, im Inhaltsverzeichnis und auf einem weiteren Deckblatt nach dem Vorwort. Im laufenden Text ist es nicht zu finden – kein Scherz.

Was lehrt uns das? Wenn eine wissenschaftliche Arbeit damit beginnt, dass sie die „wesentliche Aufgabe“ der Disziplin benennt, zu der sie sich rechnet, sollte man, um die Achtung vor der Wissenschaft nicht zu verlieren, das Werk schnell wieder zuklappen.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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