Freiheit für das Himbeereis
Vegane Ernhährung nimmt in Medien und Öffentlichkeit viel Raum ein. Die gesundheitlichen und ethischen Motive sind umstritten. Dennoch verdient die Einstellung Respekt – so lange Veganer auch die Haltungen Andersdenkender respektieren und ihre Ideen nicht zur Ersatzreligion aufbauschen.
Preußenkönig Friedrich II. wird der Satz zugeschrieben, dass in seinem Staat jeder nach seiner Facon selig werden solle. Dies dürfte den ,Alten Fritz‘ wahrscheinlich von einigen der heutzutage vegan lebenden Menschen unterscheiden, die ihre Art, sich zu ernähren am liebsten in den Kanon der allgemein verbindlichen Regeln aufnehmen möchten. Auf dieser Seite zuletzt so vorgetragen vom Aktivisten und Arzt Ernst Walter Henrich.
Natürlich sollte man jedermanns Überzeugungen respektieren, und natürlich ist es bemerkenswert, wenn sich jemand aus Liebe zur Schöpfung entscheidet, keine tierischen Produkte mehr zu sich zu nehmen. In einem europäischen Land ohne Missionierungsverbot dürfen Henrich & Co. auch offensiv für ihre Überzeugungen werben.
Wissenschaftlich mindestens zwei Meinungen
Bereits da, wo die Medizin ins Spiel kommt, fängt die Angelegenheit an, komplizierter zu werden. Als einst mittelmäßiger Bio-Grundkursler und naturwissenschaftlich grundsätzlich Minderbegabter maße ich mir nicht an, mich in medizinische oder biologische Grundsatzdiskussionen einmischen. Allerdings muss man zur Kenntnis nehmen, dass es zum Sinn veganer Ernährung von ärztlicher Seite mindestens zwei Meinungen gibt. Und die Warnung, dass bei ausschließlich veganer Diät wichtige Stoffe und Vitamine nicht ausreichend aufgenommen werden, klingt zumindest nachvollziehbar.
Die Option, fehlende Vitamine oder Spurenelemente mit Hilfe der Pharmaindustrie nachzujustieren, erscheint wenig konsequent. Wird doch sonst von gleicher Seite – wohl zu recht – angemahnt, natürlichen und regionalen Nahrungsmitteln den Vorzug vor chemischen oder sonst irgendwie künstlich hergestellten Produkten zu geben.
TV-Köchin nennt Veganismus „Mangelernährung“
„Es kann nicht sein, dass wir Nahrung propagieren, mit der uns nur zusätzliche Chemie vor Mangelernährung schützt“, kommentiert etwa TV-Köchin Sarah Wiener den Vegan-Hype. Die Verfechterin artgerechter Tierhaltung stört auch die Einstellung vieler Veganer: „So mancher baut sich da eine Parallelwelt auf“.
Als Beispiel führt sie etwa Fleischersatz aus Soja und Käse ohne Milch an, die industriell in hohem Maße behandelt sind. Unter anderem verweist sie auf den vor einiger Zeit gescholtenen Analogkäse aus Ersatzstoffen – der heute bei Veganern als gefragtes Produkt gilt. Mit dem „vegan“-Label versehen, koste der gelegentlich sogar mehr als frischer Käse aus regionaler und artgerechter Herstellung.
Wiener setzt auf ethische Tierhaltung
Vegan zu leben fördert, meint Wiener, weder die Nachfrage nach Produkten aus einer ethisch vertretbaren Tierhaltung, noch die nach natürlichen, ökologisch erzeugten Lebensmitteln aus der eigenen Region. Im Gegenteil: Auch vegane Industrieprodukte könnten Böden erodieren lassen – oder Klima und Wasser versauen. „Das System, in dem sie entstehen, ist ebenso grundlegend falsch wie das System der Fleischproduktion“, findet die Österreicherin, die auch Bücher zu ökologischer Ernährung geschrieben hat.
Die Köchin hinterfragt zudem ethische Motive der Vegan-Bewegung. Etwa, wenn Veganer Quinoa aus Chile oder Peru – also vom anderen Ende der Welt – zum Kochen verwenden. Das sei zum einen teuer – und damit häufig Privileg besser verdienender Sichten. Andererseits ist es aus Sicht der TV-Köchin nicht im Sinne des Klimaschutzes, Lebensmittel um den halben Globus zu karren oder zu verschiffen.
Es gibt keine allein selig machenden Wahrheiten
Sicher darf man die Meinung einer Küchenchefin aus dem Fernsehbetrieb nicht zum alleinigen Maßstab nehmen. Allerdings sollte es ein natürlicher Instinkt sein, misstrauisch zu werden, wenn sich Menschen – wie im Falle Henrichs – fast schon im Besitz allein selig machender Wahnrheiten wähnen – und sie diese kraft Gesetzbuch und Verboten zur gesellschaftlichen Norm erklären möchten. Einerseits wäre das nicht sonderlich demokratisch, andererseits kann man schnell ganze Sozialstrukturen in eine falsche Richtung manövrieren.
Ironischerweise bauschen Leute wie Henrich den Veganismus jetzt zu einer Art Ersatzreligion mit strengen und allerstrengsten Ge- und Verboten auf, da religiöse Glaubensbekenntnisse und politische Ideologien in unseren Breiten an Bindungskraft verlieren. Wer dem veganen Credo im Alltag komplett gerecht werden will, sollte dessen Regelwerk mindestens so gut kennen, wie orthodoxe Juden ihren Talmud oder strenggläubige Katholiken den Katechismus. Denn überall lauert des Böse! In Nudeln könnten ja Eier, in Kuchen Butter enthalten sein. Und bislang gibt es niemanden im Veganismus, der vom Weg Abgekommenen einen anständigen Ablass verkauft.
Aber die Rigidität dient höheren Werten. Musste der menschliche Leib gemäß den Regeln der mittelalterlichen Kirche ab und an kasteit werden, um den sündigen Körper zu reinigen und dem allergnädigsten Gott zu gefallen, so soll die vegane Entsagung bereits irdischen Segen bringen – oder besser gesagt: der Erde Segen. Die Kirche früherer Epochen und Veganer vom Schlage Henrichs finden offensichtlich in der Verdammung von Genuss ihre Schnittmenge. Dem sündigen Menschen die Fleischeslust auszutreiben, bei Henrich kann man das wörtlich nehmen.
Selbst mittelalterliche Kirche ließ Genuss zu
Anders als Henrich ließ die Kirche jedoch zu gewissen Zeiten – zu Festen und Feierlichkeiten – den Genuss, ja sogar Völlerei zu. Außerdem stand jedem aufrechten Katholiken das Institut der Beichte offen. Ob Henrich und Konsorten bereit wären, unregelmäßigen Fleischessern ähnliches zu konzedieren?
Zweifel sind zumindest erlaubt. Erscheinen inzwischen selbst vatikanische Kurienkardinäle – verglichen mit den Henrichs dieser Welt – geradezu wie weichgespülte Anarchos. Die Päpste, deren natürliches Privileg dies einst war, gehen seit Jahrzehnten sparsam mit Dogmen um. Der als „erzkonservativ“ verschriene Johannes Paul II. rehabilitierte sogar nach über 350 Jahren den als „Ketzer“ verfemten Physiker Galileo Galilei!
Angesichts eines Wandels hin zur Wissens- und Kommunikationsgesellschaft ist es nur konsequent, mit ideologisch motivierten Ge- und Verboten sowie quasi-religösen Dogmen so vorsichtig wie nur eben möglich zu hantieren. Was heute noch für 100 Prozent richtig gehalten wird, kann schon morgen – etwa aufgrund von technischem Fortschritt oder wissenschaftlicher Erkenntnisse – so überholt sein, wie das dreirädrige Fahrrad!
Nichts unter der Sonne hat Bestand
Galt nicht Atomkraft bis Anfang der 70er Jahre über politische Lager hinweg als Zukunftstechnologie? Die Bundesrepublik hielt sich mit Franz-Josef Strauß einen leibhaftigen Atomminister! Und waren es nicht die letzten Verteidiger dieser Art der Energiegewinnung, die Konservativen und die Liberalen, die 2011 – nach dem Ereignis von Fukushima – hierzulande buchstäblich den Stecker aus den AKW zogen? Andersherum warb Joschka Fischer, Mitglied einer aus der Friedensbewegung entstandenen Partei, eindringlich wie kein Zweiter, für den ersten Out-of-Area-Einsatz der Bundeswehr ohne UN-Mandat im Kosovo. Frei nach Adenauer: Was kann einen denn daran hindern, jeden Tag klüger zu werden?
Nihil sub solem perpetuum! Da nichts unter der Sonne Bestand hat, sollten Warnsignale schrillen, wenn irdischen Lehren der Status einer Ersatzreligion zugedacht werden soll. Auch vegane Kost darf uns niemand als heiligen Gral verkaufen, über den Hohepriester mit Argusaugen wachen müssen. Hinterfragt allein schon Sarah Wiener treffend wichtige Säulen der veganen Glaubenswelt.
Man darf sogar Kickers Offenbach-Fan sein
Niemandem sind viele Menschen so treu wie ihrer Lieblingsfussballmannschaft. So gehe ich seit 1978 mit Eintracht Frankfurt durch dick und dünn. Bei Abstiegen habe ich gelitten, über Aufstiege habe ich mich gefreut. Nach dem aktuellen Sieg im Abstiegsduell mit Werder Bremen sind mir gefühlt Mühlsteine vom Herzen gefallen. Und es erscheint mir unverständlich, dass man sich zumindest theoretisch einem anderen Verein verschreiben kann. Dennoch würde ich morgen meine Fanclub-Mitgliedschaft kündigen, sollte die Eintracht beschließen, Anhänger anderer Teams zwangsmissionieren zu wollen. In einem freien Land hat man sogar das Recht, Fan von Kickers Offenbach zu sein!
Ebenso respektiere ich die Einstellung jedes Veganers, will mir von ihnen aber nicht vorschreiben lassen, wie ich leben soll. Die Vielfalt der Lebensentwürfe, warum soll sie gerade für eine der persönlichsten Angelegenheiten überhaupt – das Essen – nicht gelten?
Lasst Guildo Horn sein Himbeereis essen!
Soll Blödelbarde Guildo Horn auf die Idee kommen, sich, wie in seinen Liedern besungen, überwiegend von Nussecken und Himbeereis zu ernähren. Bitte schön, mag er doch seinen Süßkram schlecken, so lange er nicht lautstark „Alle Macht dem Himbeereis!“ ruft. Die Konsequenzen für seine Gesundheit müsste er ebenso selbst tragen, wie die zivilisationsmüden Anhänger des Apothekenhelfers August Engelhardt, die Anfang des 20. Jahrhunderts ausschließlich Kokosnüsse zu sich nahmen. Preise – die Märkte und andere Mechanismen regeln – könnten daneben als Korrektiv dienen – und gegebenenfalls Exzesse in die eine wie andere Richtung zu vermeiden helfen. Ohnehin dürfte gerade in Ernährungsfragen die Kunst, das rechte Maß zu finden ein sinnvoller Wegweiser sein.
In diesem Jahr haben sich hunderttausende Menschen aus dem östlichen Mittelmeerraum, aus Afrika und Mittelasien aufgemacht, um in Europa Wohlstand und Zukunft zu suchen. Entweder, weil in ihrer Heimat Krieg und Verfolgung herrschen oder es ihnen an Einkommen und Perspektiven mangelt. Diese Migranten haben gewiss viele Erwartungen an ein mögliches Leben in unseren Breiten. Eine ausschließlich vegane Ernährung dürfte auf deren Bedürfnis-Rangliste wahrscheinlich weiter unten stehen. Veganismus, so ist zu vermuten, könnte doch ein Phänomen von Wohlstandsgesellschaften sein.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein
Man kann dem ollen Karl Marx sicher viel vorwerfen. Mit der Erkenntnis, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, indes scheint er recht gehabt zu haben.
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