Zauberformel Kindeswohl

Das Wohl des Kindes ist das wichtigste Kriterium für Sorgerechtsentscheidungen. Aber was ist das Kindeswohl eigentlich?


Allen Menschen gemeinsam ist die Notwendigkeit mitmenschlicher Solidarität. Kein Mensch ist in der Lage, sich nach seiner Geburt selbständig am Leben zu halten. Ohne die behütende und nährende Zuwendung anderer Menschen, wäre ein neugeborener Mensch in Kürze tot. Die angeblichen Fälle von Säuglingen, die von Dschungeltieren am Leben erhalten wurden, lassen wir jetzt mal beiseite.
Kein anderes Säugetier ist bei der Geburt so hilflos wie Menschenbabys. Bis in die Neuzeit hinein war die Säuglings- und Kindersterblichkeit hoch, zeitweise lag sie bei 50%. Heute, bei bester medizinischer Versorgung sterben in Deutschland nur noch wenige Kinder bis zum 5. Lebensjahr. Das bedeutet nun aber nicht, dass es allen Kindern in Deutschland prima geht, dass es um ihr Wohl bestens bestellt wäre. Und das hat die unterschiedlichsten Ursachen.

Die Kindeswohllotterie

Die weitaus meisten Kindern wachsen bei ihren Eltern oder wenigstens einem Elternteil auf. Da fängt die Kindeswohllotterie schon an. Schließlich kann sich niemand seine Eltern aussuchen. Eltern sind unterschiedlich und so ist auch der Umgang mit ihrem Nachwuchs. Nicht nur die Frage, wo Sie geboren wurden ist purer Zufall, sondern auch die Frage, auf was für Eltern sie stoßen. Es kann sein, dass die Eltern sich von Herzen ein Kind wünschten und bereit sind alles für dieses zu tun, es kann aber auch sein, dass ein Mensch seine Existenz einem schnellen Fick unter einem Biertisch verdankt und alles andere als erwünscht war. Und trotzdem kann es dann sein, dass das Volksfestprodukt später in seinem Leben mehr Wohl erfährt, als das durchgeplante Wunschkind.

Juristisch spielt bei familienrechtlichen Auseinandersetzungen um das Sorgerecht, aber auch bei Inobhutnahmen – ja, ein blödes Wort, es handelt sich darum, dass ein Kind seinen Eltern weggenommen wird und in ein Heim oder zu Pflegeeltern kommt – durch das Jugendamt, der Begriff des „Kindeswohls“ eine überragende Rolle.
Zunächst mal haben Kinder das Recht, von ihren Eltern erzogen zu werden und nicht etwa durch den Staat. Dass sie dabei vielleicht die intellektuelle Arschkarte gezogen haben, weil Papa nur die 20 Bierflaschen abzählen und nur mit Mühe seinen Namen schreiben kann und Mama auch nicht die Hellste ist, spielt erst mal keine Rolle.
Es gibt keinen Anspruch auf optimale Eltern oder optimale Erziehung. Gäbe es so etwas, dürfte kaum jemand bei seinen Eltern aufwachsen, denn die perfekten Eltern gibt es so wenig, wie das perfekte Fußballspiel.

Das Grundgesetz schützt die Familie

In Art. 6 GG heißt es:
1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Karlsruhe pfeift zurück

Leiblichen Eltern das Kind wegzunehmen, ist an strenge Voraussetzungen geknüpft. Das Bundesverfassungsgericht hat das in vielen Entscheidungen immer wieder klargestellt:

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts, ohne die die Elternverantwortung nicht ausgeübt werden kann. Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt diesen Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen.
Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Dabei berechtigen nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen . Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“ https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2014/11/rk20141119_1bvr117814.html

Es ist ganz erstaunlich, dass das Bundesverfassungsgericht ein ums andere Mal die Familiengerichte zurückpfeifen muss, wenn es um die Frage der Herausnahme eines Kindes aus seiner Familie geht. Vermutlich hängt das mit dem ausschlaggebenden Begriff des „Kindeswohls“ zusammen, dem es als unbestimmtem Rechtsbegriff an einer eindeutigen gesetzlichen Definition mangelt. Deshalb hat jeder eine recht unterschiedliche Vorstellung davon, was dem Kindeswohl dient bzw. was das Kindeswohl gefährdet.

Jugendamt in der Zwickmühle

Bei allen familiengerichtlichen Entscheidungen, die etwas mit Kindeswohl zu tun haben, spielt auch das jeweilige Jugendamt eine gewichtige Rolle. Oft kommen solche Verfahren dadurch zustande, dass dem Jugendamt von Dritten Dinge mitgeteilt werden, die den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung aufkommen lassen. Es ist auch gut und wichtig, wenn aufmerksame Nachbarn melden, wenn ein Kind verprügelt oder nackt auf den Balkon gestellt wird. Es sind aber auch nicht immer zwingend zuverlässige Informationen, die da weiter gegeben werden, sondern gar nicht so selten auch wilde Spekulationen. Manchmal sind es auch Erzieher/-innen oder Lehrer, die von Auffälligkeiten berichten. Und dann muss das Jugendamt nun einfach mal nachsehen, ob da ein Kind gefährdet ist.
Falls der zuständige Sachbearbeiter das meint, muss er entscheiden, ob das Kind sofort aus der Familie genommen wird, ob der Familie mit Hilfsangeboten unter die Arme gegriffen werden kann oder ob das Familiengericht eingeschaltet werden muss, um den Eltern die elterliche Sorge zu entziehen.
http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbviii/8a.html
Da haben wir dann das nächste Problem, das wieder mit dem Kindeswohlbegriff zusammenhängt.

Dreck scheuert den Magen

Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem ich als Verfahrensbeistand – also als Anwalt des Kindes – tätig war, bei dem die Kinder häufig mit schmutzigen Klamotten in der Schule erschienen und das Jugendamt eingeschaltet wurde. Häufig sind die Sachbearbeiter bei den Jugendämter junge Sozialpädagoginnen aus bürgerlichem Hause, die in ihrem eigenen Leben nie mit Schmutz und Dreck zu tun hatten. Wenn die nun einen Hausbesuch machen und ihnen schon an der Tür massive Gerüche entgegen strömen, kann es unter Umständen für die Eltern schon eng werden. Hinter dem Haus türmte sich der Schrott. Dazwischen liefen Hunde herum. Der Vater war offenbar seit Jahren dabei in dem Haus zu renovieren, was aber nicht recht voran ging.
Der eine sieht in einem solchen Umfeld eine Kindeswohlgefährdung aufgrund von Hygienemängeln oder der Verletzungsgefahr durch den Schrott, der andere erinnert sich an seine Kindheit und sieht einen privaten Abenteuerspielplatz. Es geht mir nicht darum, die ein oder andere Beurteilung für richtig oder falsch zu erklären, sondern nur darum, die Krux des Begriffs der Kindeswohlgefährdung zu verdeutlichen.

Kindheitserinnerungen

Ich bin in einem Baumschulbetrieb aufgewachsen und habe viel Zeit im Freien verbracht. In den 60er Jahren war es nicht ungewöhnlich, dass sich die Kinder aus der Nachbarschaft nach dem Mittagessen und den Hausaufgaben trafen und jenseits jeglicher Überwachung der Eltern irgendeinen Blödsinn machten. Wir sind mehr als einmal in den Bach gefallen und völlig dreckig und durchnässt nach Hause gekommen. Solange ich in der Dämmerung halbwegs heil wieder vor der Türe stand, war das alles okay. Es mag sein, dass so eine Kindheit in Freiheit heute kaum noch möglich ist, aber Kindeswohl gefährdend war das garantiert nicht. In ihrem Wohl gefährdet waren viel eher die Beamtenkinder – nicht gegen Beamte, aber es waren nun mal die Kinder von Lehrern und anderen Beamten – die den größten Teil ihrer Kindheit in totaler Überwachung durch die Eltern verbringen mussten. Vielleicht in einer schöneren Wohnung, mit einer besseren Stereoanlage und einem volleren Bücherregal, aber eben aus lauter Angst der Eltern es könne ihnen etwas passieren in einer Art Einzelhaft. Mit denen zu spielen ging nur in deren Wohnung oder im verriegelten, verrammelten Garten. Irgendwie laut sollte es auch nicht werden. Für manche war die Schule, zu der sie von der Mutter gebracht wurden, die einzige Möglichkeit den Elternknast mal zu verlassen. Dass da mal jemand eine Kindeswohlgefährdung gesehen hätte, glaube ich nicht. Gut, bei uns auch nicht.

Das staatliche Wächteramt

Selbstverständlich muss der Staat eingreifen, wenn Kinder misshandelt, sexuell missbraucht oder wirklich so vernachlässigt werden, dass sie verwahrlosen. Aber nicht jedes abweichende Erziehungsverhalten führt zu einer Kindeswohlgefährdung. In besonders krassen Fällen wird da häufig Einigkeit bestehen, in weniger krassen Fällen greifen die Gerichte zu Sachverständigengutachten. Die sind aber ebenfalls nicht unproblematisch, weil die Kriterien einer Kindeswohlgefährdung eben stark von der persönlichen Sichtweise der Gutachter geprägt sind und die Gefährdung – sofern sie nicht bereits eingetreten ist – schwer zu prognostizieren ist. Standardisierte Verfahren zur Beurteilung des Kindeswohls gibt es (noch) nicht.
Die meisten Kinder wollen auch bei eher suboptimalen Eltern bleiben und auch dieses Recht des Kindes verdient angemessene Beachtung, zumal auch der Beziehungsabbruch zu den Eltern nicht ohne Folgen bleiben kann.

Gefahr Verfahrensbeistand

Dazu bekommen die Kinder im Verfahren einen Verfahrensbeistand, der ihren Willen und ihre Interessen vertreten soll. Laut § 158 FamFG  soll der Verfahrensbeistand das Interesse des Kindes festzustellen und im gerichtlichen Verfahren zur Geltung zu bringen. Er hat das Kind über Gegenstand, Ablauf und möglichen Ausgang des Verfahrens in geeigneter Weise zu informieren. Wenn das Kind Glück hat, erwischt es einen Verfahrensbeistand, der genau das und nur das tut. Wenn es Pech hat, hält der Beistand sich für berufen, auch noch seine eigenen Kriterien von Kindeswohl in den Ring zuwerfen. Mir persönlich sind die Beistände lieber, die sich wirklich nur als Anwalt des Kindes verstehen und versuchen, dessen Willen Gehör zu verschaffen und nicht meinen, sie seien geeignet und in der Lage, selbst zu beurteilen, was „das Beste“ für das Kind ist. Selbst wenn sie es wären, es ist nicht ihre Aufgabe. Wie jeder andere Mandant muss auch ein Kind „seinem“ Anwalt vertrauen und sich darauf verlassen können, dass er ihm nicht in den Rücken fällt.

Mit dem Zauberwort Kindeswohl kann man nahezu jede Entscheidung begründen und das macht diesen unbestimmten Rechtsbegriff so gefährlich für das Kindeswohl.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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