Lost & Kafkas Schloss. Warum die Serie viel besser ist als ihr Ruf.

Über die Serie „Lost“ gibt es viele Missverständnisse. Teilweise wird sogar davon abgeraten, sie überhaupt anzufangen. Ein Fehler, erklärt Literaturkolumnist Sören Heim.


Obwohl ich eigentlich jedes Mal, wenn ich länger in der Stadtbibliothek war, ein Auge darauf geworfen hatte, habe ich lange gezögert, die Komplettbox der einst gefeierten, dann gehassten Serie LOST mitzunehmen. Zu häufig war mir von Freunden online davon abgeraten worden. So kritisch wie ich in der Vergangenheit gegenüber anderen Serien gewesen sei, sei das mit Sicherheit nichts für mich. „Lost“ sei konfus, vor allem zum Ende hin habe es überhaupt keinen Plan und löse dann verschiedenste Dinge qua deus ex machina, während zugleich immer wieder neue Rätsel erfunden werden. Irgendwann habe ich mich dann doch herangewagt und mittlerweile habe ich die ganze Serie gesehen. Und ich muss ganz klar sagen: Auch wenn „Lost“ immer wieder phasenweise seine Schwächen hat, hat es nicht die Schwächen, die ich an modernen Serien etwa ab dem sogenannten Goldenen Zeitalter (Mad Men, Sopranos, Breaking Bad, Game of Thrones usw., usf.) vehement kritisiert habe. Manche Schwächen, die „Lost“ hat, dürften den Kämpfen zwischen Showrunnern und Studios geschuldet sein, andere der Tatsache, dass die Show von ihrer Anlage her, wenn man nicht wagt, ganz radikal gegen die Erwartungen zu erzählen, tatsächlich immer komplizierter werden musste. Weiterhin ist anzumerken, dass sechs Staffeln einfach zu viel sind. Auch hier, wo genau sechs Staffeln geplant waren und die Showrunner dafür gekämpft haben, genau diese sechs Staffeln machen zu dürfen und nicht aus finanziellen Erwägungen mehr machen zu müssen. „Lost“ ist im Ganzen nicht unbedingt stärker als die oben genannten Serien (ich würde sagen, es bewegt sich ganz gut irgendwo im Mittelfeld), aber die Schwächen entspringen noch mehr den Problemen klassischer Serienproduktion fürs Fernsehen als der narrativen Deregulierung und Defokussierung, die im einige Zeit dominierenden Endlosfilm-Prinzip gipfelten, das die Seh- und Produktionsgewohnheiten des Streamings mit sich brachten. Vor allem: „Lost“ ist in vielen Aspekten richtig gut, auf jeden Fall deutlich besser als der schlechte Ruf rückblickend vermuten lässt. Besonders funktioniert, im Gegensatz zu vielen späteren Serien, die Balance Episodenbogen – Staffelbogen – Serienbogen meist ziemlich gut.
Als das Finale ausgestrahlt wurde, war das übrigens zwar durchaus kontrovers, aber wenn man sich Bewertungen und Online-Debatten anschaut, wurde es keineswegs so schlecht aufgenommen, wie es dann im Rückblick gemacht wurde.

Mysterium, nicht „Mystery“.

Man wird „Lost“ freilich, und das könnte man von der ersten Staffel an wissen, kaum genießen können, wenn man es als klassische Mystery-Serie nimmt, die verschiedene Rätsel stellt und zum Schluss hin aufklärt. Man kommt, denke ich, mit „Lost“ sehr viel besser zurecht, wenn man den durch die Welle von Mystery-Serien entkernten Begriff des Mysteriums ernst nimmt, als etwas, das eben nicht Rätsel oder einfach nur Geheimnis ist, sondern:

„…geheimnisvolles, mit dem Verstand nicht ergründbares Geschehen; unergründliches Geheimnis, besonders religiöser Art“.

Faustregel: Rätsel lassen sich lösen, Geheimnisse entdecken oder aufdecken. Mysterien sind in ihren tiefsten Schichten unergründlich. „Lost“ ist immer dort am stärksten, wo es selbst seine Mysterien als Mysterien ernst nimmt und vielmehr die Reaktionen der Figuren auf diese Mysterien sowie die Konflikte, die sich durch unterschiedliche Reaktionen ergeben, in den Mittelpunkt stellt als die Frage nach einer schlussendlichen Lösung.

Das Kafkaeske

Noch interessanter ist „Lost“ aber, wo es nicht nur eine Mystery-Show in genau diesem Sinne ist, sondern wo das Mysteriöse sich in einer Art entfaltet, die dem Mysteriösen bei Kafka nicht unähnlich ist. Ich habe mich im Blog schon öfter mit der Frage nach dem Kafkaesken beschäftigt und mit dem Problem, dass die zeitgenössische Interpretation das für gewöhnlich auf „Armer Underdog steht einem verwirrenden und letztendlich bösartigen bürokratischen Apparat gegenüber“ reduziert hat. Dabei zeigen Kafkas Romane vielmehr eine Welt, in die ein Mensch mit bestimmten Erwartungen hineingeworfen wird, wobei die schwer durchschaubaren Regeln dieser Welt zu einem Ganzen zusammengreifen, das diese Erwartungen immer wieder enttäuschen muss. Aber das Ganze ist nicht gänzlich anders oder absurd, sondern korrespondiert zumindest oberflächlich doch weitgehend mit den Erwartungen, sodass man sich immer wieder zum Handeln aufgefordert (und erneut enttäuscht) sieht. Und zuletzt ist es der Protagonist selbst als Handelnder, genauer gesagt als einer von vielen so Handelnden, die unbewusst daran arbeiten, dass diese Welt so ist, wie sie ist, und sich für ihn wie für andere die Erwartungen nicht erfüllen können. So habe ich etwa hier darauf hingewiesen, wie K, das scheinbare Opfer im Process, wenn man genauer liest, selbst regelmäßig für andere, ebenso schuldig-unschuldige, „Prozesse“ in Gang setzt. Das Kafkaeske entsteht aus diesem Komplex ganz besonders daraus, dass auch die wahrscheinlich vom Autor intendierte Adäquatheit der Haltung dieser Welt gegenüber, die Akzeptanz, angesichts der Welt des 20. Jahrhunderts, in der das Ganze spielt, nicht mehr adäquat wirkt. Oder genauer aus meinem Essay zu Lampings Buch “Kafka und die Folgen”:

„(…) Kafka war einerseits ein Autor mit relativ klaren metaphysischen Vorstellungen. Die Übermacht einer Welt, in die sich der Mensch kämpfend anpassen muss, um nicht unterzugehen, in der aber auf diese Weise durchaus seinen Platz finden kann, ist Grundgerüst aller Werke Kafkas. Eine Haltung, die relativ genau dem von Hacks geprägte Begriff von der „fröhlichen Resignation“ des Goethes der Weimarer Klassik entspricht. Platter, aber durchaus nicht ganz daneben, ist das alte Wort vom Gottvertrauen, mit oder ohne Gott. Genau in dieser Weise gibt es eine Tür im Gesetz, die „nur für dich“ bestimmt ist, in dieser Weise bleibt K. als Führer in den eigenen Tod Sieger. Das Kafkaeske ist genau die Kollision dieser klassisch-klassizistischen Haltung mit einer Welt, in der dieser Haltung absurd, besser noch: verzweifelt, wirken muss. Aber ohne, was wiederum Lamping richtig herausstellt, dass Kafka das Absurde bewusst herausarbeiten würde oder gar eine Philosophie des Absurden in der Denkweise des späteren Existenzialismus anstreben würde. Die Verzweiflung allerdings wird angenommen und trotzig als Notwendiges in den Kampf eingemeindet. Kafkas Schreiben ist das der fröhlichen Resignation in die dieser keinesfalls würdige industrielle verwaltete Welt bei gleichzeitigem ernstem Festhalten an der Würde der Resignation. Kafkas Erzähler ist daher auch niemals Ankläger, seine Figuren keine Opfer dieser Welt, sondern immer wieder: durchaus aktive Mittäter, mindestens aber auf einer grundlegenden Ebene Einverstandene. “

„Lost“ ist, wiederum, in seinen besseren Momenten, in etwa das, für das 21. Jahrhundert und als Gruppenerlebnis. Ein vielleicht noch besserer Vergleich als “Der Process“ ist dabei „Das Schloss“ – die Art und Weise wie K. Zugang zum Schloss sucht, ohne genau sagen zu können, warum und was das eigentlich bedeutet. Haben doch schon nach wenigen Tagen auf der Insel auch alle Figuren irgendwelche Ziele, die teilweise noch relativ eng mit dem Bedürfnis nach Überleben und Rettung zusammenhängen, teilweise aber auch bald immer stärker in das Spirituelle/Metaphysische oder ins Zwischenmenschliche spielen. Der Komplex, in dem das sicherlich am intensivsten ausagiert wird, ist die Angelegenheit mit dem Knopf im Bunker. Die Gruppe bricht einen Bunker auf, in dem Jason einige Jahre gesessen hat und alle 120 Minuten eine Taste am Computer drückt, weil sonst eine große Katastrophe geschehen würde. John, dessen Haltung zur Insel am ehesten der Idee von der fröhlichen Resignation entspricht, nimmt Jason beim Wort und beginnt, Dienste am Computer zu organisieren. Er entwickelt schließlich eine regelrechte Obsession mit diesem Computer. Später wird dann freilich enthüllt, dass diese Station früher, als die Dharma-Initiative noch auf der Insel aktiv war, von einer anderen Station observiert wurde und eigentlich nur ein Experiment darstellte. Woraufhin John eine ebensolche Obsession damit entwickelt, zu beweisen, dass der Computer nichts tut. Aber mittlerweile hat sich ein anderer in die Aufgabe hineingesteigert und verteidigt den Computer. Freilich löst sich das Ganze am Ende auf, und anscheinend hatte der Computer doch die Funktion, eine Katastrophe zu verhindern. Aber metaphorisch gesprochen wurden derweil längst weitere Tasten auf höheren Ebenen platziert, die man drücken kann oder nicht.

Figuren, Beziehungen, Schwächen.

„Lost“ hat seine schwächsten Phasen eigentlich immer dann, wenn Mysterien entzaubert und als lösbare Rätsel neu formuliert werden, etwa wenn die „Others“ oder „Hostiles“ ab der dritten Staffel zu nur einer weiteren Gruppierung auf der Insel mit mondänen Interessen werden. Allerdings löst „Lost“ das Problem auch immer wieder und findet zu neuen Stärken, indem das Mysterium eine Stufe höher geschoben wird und erneut die Verhältnisse der Figuren und ihre Reaktionen auf die absurden Aufgaben schildert, vor die das Leben auf der Insel und abseits der Insel, aber stets irgendwie mit der geheimnisvollen Natur der Insel verknüpft, stellt. Durch diese bis heute meines Erachtens ziemlich einzigartige Konstellation gelingt es der Serie, viele Dinge interessant zu machen, die in den meisten Fällen für eine Erzählung eigentlich nur abträglich sein könnten. Zeitreisen mit all ihren Paradoxa, ein Viele-Welten-Modell, nach den Rückblenden der ersten beiden Staffeln vermehrt Seitwärtsblenden in eine scheinbar alternative Realität, die sich dann als Zukunft enthüllt, sowie später tatsächliche Seitwärtsblenden in eine alternative Realität. Was sollte mich das interessieren? Wenn doch die eigentlich relevante Realität die Realität der Menschen auf der Insel ist? Aber ganz ähnlich wie es im „Schloss“ vor allem darauf ankommt, was all die verwickelten Verhältnisse, die die Gesellschaft rund um das Schloss prägen, mit K. machen, und was K.s Eindringen mit dem Gefüge der Gesellschaft macht, ist es in „Lost“ vor allem entscheidend, was all die verwickelten Verhältnisse in Raum und Zeit, die die Welten rund um die Insel prägen, mit den Figuren und ihren Verhältnissen zueinander, zur Welt und zu den Dingen, die sie im Innersten treiben, machen. Aus diesem Grund sind auch die Liebesgeschichten samt des klassischen (hier mehrfachen) Ross-und-Rachel-Motivs nicht überflüssig, wie manche wenig durchdachte Beiträge online suggerieren. Im Gegenteil sind sie der zwischenmenschliche Kit, und dass die Figuren auch außerhalb der Insel immer wieder zueinander gravitieren, ist wahrscheinlich eine der entscheidenden Aussagen, will man das Weltbild hinter der Serie verstehen.

Nun möchte ich auf keinen Fall behaupten, dass „Lost“ perfekt ist. Die mehrfach wiederholte Phrase „in ihren besseren Momenten“ legt es ja schon nahe: Die Serie hat schwache Momente, zieht sich manchmal wie Kaugummi, dreht vielleicht zwei bis drei Pirouetten zu viel, und hätte nach drei oder vier Staffeln sicher eleganter zu einem Ende finden können. Aber das sind kaum Schwächen, über die sich viel zu schreiben lohnt, da sie sich aus den Produktionsbedingungen fürs Fernsehen und dem Willen, möglichst viel Runtime aus einer Idee herauszuquetschen, leicht erklären lassen. Sie werden vor allem auch nicht als Stärken verklärt, ganz im Gegensatz zu den strukturellen Katastrophen, die viele Serien seit dem sogenannten Goldenen Zeitalter prägen.

Das angeblich gehasste Finale

Was aber denke ich nun über das Finale, bzw. besser wahrscheinlich über die vier bis fünf Folgen, die das eigentliche Endgame der Serie ausmachen? Diese Passagen sind von der Idee her sicherlich nicht ganz dumm. Im Großen und Ganzen sind sie jedoch höchstens gerade so okay, mit einigen wirklich großen Schwächen. Aber: Diese Schwächen sind nicht die, die der Serie heute gemeinhin vorgeworfen werden. Also dass die Show zum Schluss hin immer mehr neue Fragen aufwerfe und die alten nicht beantworte und überhaupt ein enttäuschendes Ende habe. Sondern: Eher beantwortet „Lost“ zu viel, gibt, teilweise gehetzt-kondensiert, zu viel Hintergrundgeschichte und nimmt der kafkaesken Ambiguität damit ihren Punch. Besonders unnötig ist dabei die Folge “Über’s Meer”, die Jacob und den Mann in Schwarz mit einer an Kain und Abel erinnernden Backstory ausstattet, die derart konkret ist, dass das Ganze so lächerlich wirkt, wie die Folge insgesamt langweilig ist. „Lost“ geht dabei zum Glück nicht so weit, Jacob als zweifellos gut und den Mann in Schwarz als zweifellos böse zu markieren. Ihre beiden Haltungen lassen sich durchaus noch durch ihr unterschiedliches Verhältnis zur „Mutter“ und zu den Menschen auf der Insel rechtfertigen. Und natürlich ist nicht gesagt, dass das Befreien der geheimnisvollen Kraft tatsächlich die Welt und die Menschheit zerstört hätte, wie es Jacob behauptet. Vielleicht hätte es nur Veränderungen gebracht, und Veränderung wird ja oft als Zerstörung erfahren. Dennoch, das Ganze wird durch die Backstory ein bisschen zu nah an einen christlichen Gott-Teufel-Dualismus, an einen Lichtbringer und einen Verwalter des Lichts, herangerückt, um nicht abgeschmackt zu wirken. Und nötig war es nicht. Das schwer durchschaubare Wechselspiel von Jacob und dem Mann in Schwarz war interessant genug und hätte ganz ohne „Mutter“ und die Folge “Übers Meer” ebenso funktioniert. Dann aber mit einer radikaleren Offenheit für Interpretationsmöglichkeiten, von solchen, die sich auf die Seite Jacobs oder des Mannes in Schwarz schlagen, über solche, die darin ein ewiges Spiel der Kräfte sehen, die sich immer wieder ausgleichen müssen, bis hin zu solchen, die die Vorgänge auf der Insel als eine Art “Realmetapher” begreifen, die die verschiedenen Verhältnisse der Figuren zur Welt widerspiegelt. Die zusätzliche Backstory hat das nicht ganz weggenommen, aber sich doch sehr einer Mystery-Crowd angebiedert, die Rätsel mit scheinbar tiefgründigen, aber am Ende möglichst eindeutigen, Lösungen verlangt. Die vom Ende einer Serie nicht akzeptieren, dass es uns mit der Frage „Wie ist das eigentlich? Was bedeutet e für mich?“ allein lässt, sondern die die Antwort erwarten: „Genauso und nicht anders ist es!“ Das, was „Lost“ hätte sein können, wurde stark eingeschränkt. Die Parallelhandlung, in der die Figuren in der alternativen Realität Stück für Stück wieder zusammenfinden, mit der Versammlung in der Kirche und der Auflösung ins Licht, rettet einiges davon, aber nicht alles.

Die massiven Backstory-Infodumps in der letzten Staffel haben eine ähnliche Auswirkung, als würde, um zu Kafka zurückzukommen, im „Schloss“ in einem der fehlenden Kapitel das ganze Innenleben dieser Institution beleuchtet. Wer hat es gebaut, wie lauten die Hierarchien, welche Machtkämpfe gibt es unter den Beamten, wer ist im Moment der Anführer, was sind die Prozesse, mit denen man an den Passierschein A38 kommt und so weiter und so fort? Hätte Kafka ein solches Kapitel geplant gehabt, müssten wir uns bedanken, dass das Schloss Fragment geblieben ist.

So viele dumme Fragen

Es ist übrigens durchaus ein großes Faszinosum, dass, wie weiter oben schon mal angerissen, sich die Vorstellung durchsetzen konnte, „Lost“ sei eine zum Schluss total vermurkste Serie gewesen. Ich habe mich durch zeitgenössische Besprechungen der letzten Staffel und des Finales gelesen, und die meisten sind nicht nur positiv, sondern geradezu euphorisch. Ja, es gab Abweichler, und definitiv gab es online schon damals enttäuschte und wütende Fans. Aber die Kunst hat keinen schlechteren Ratgeber als den enttäuschten und wütenden Fan. Ginge es nach dem, Bob Dylan würde heute noch bloß mit Gitarre und Mundharmonika klampfen. Und so sehr ich mich über die vergangenen Jahrzehnte über den ein oder anderen klassischen Dylan-Song gefreut hätte, niemals würde das rechtfertigen, das so reiche Gesamtwerk dieses Künstlers seit 1965 in die Tonne zu kloppen. Man müsste noch genauer untersuchen, warum sich ausgerechnet die wütenden Fans und das negative Narrativ durchgesetzt haben. Meine Hypothese: Die Dinge, die an „Lost“ wirklich gelungen sind, sind genau die Dinge, für die spätere Serien keinen Raum mehr hatten. Unsicherheiten und offene Enden, wie sie in manchem Roman als Zeichen der Güte zählen, wie sie Serien der 80er und 90er kaum gestört haben, werden immer mehr zum Problem. Fiktion wird in einer wechselseitigen Verstärkung durch Fans und Schreibende als Puzzlebox wahrgenommen, wo schwierige Rätsel gestellt werden dürfen, aber irgendwann definitive Antworten geliefert werden müssen. Eine Art erzählerisches Analogon zum Horror Vacui in der Malerei.

Dass hier ein fundamentales Missverständnis von Fiktion zugrunde liegt, wird noch bestärkt, wenn man sich anschaut, welche Fragen eigentlich als die berühmten “offenen Fragen” von Lost moniert werden.

Unter anderem habe ich da gefunden:

Was hat es mit den Eisbären auf sich? – (wird erklärt und außerdem: who cares) War Jakes Vater, als Jake den in einer der frühen Staffeln auf der Insel sieht, real oder nur eine Halluzination? (1 Egal. Wir wissen von einigen Visionen nicht, was ihnen genau zugrunde liegt, aber diese Visionen sagen uns immer etwas über die Figuren. 2 Meine Fresse, wenn ihr nach dem Ende immer noch nicht verstanden habt, was das Verhältnis von Jake zu seinem Vater für diese Serie bedeutet, seid ihr eine Antwort nicht würdig – Hilfestellung: Wann immer ihr Geschehen bezüglich einer Figur nicht versteht, fragt euch: Inwiefern war diese Figur abseits der Insel „lost“?) . Weitere sogenannte unbeantwortete Fragen sind eigentlich sogar zu dumm, als dass man sich mit ihnen überhaupt auseinandersetzen sollte. Was ist mit der Leiche von irgendjemanden passiert? Woher haben die Others ihr Geld? Und … ach, googelt und lest selbst, man regt sich ja nur auf über so viel Ungeist. Es handelt sich im Großen und Ganzen um zwei Hauptarten von Kritik. Entweder arbeitet man sich an sogenannten Plotholes oder kleineren vergessenen Storylines ab, die es einfach in jeder Serie gibt, die unter komplizierten Bedingungen über 6 Jahre produziert wird. Denn bei so einer Serienproduktion hat man immer auch mit äußeren Einflüssen zu kämpfen. Man denke etwa an den großartigen Larry Paul in „Ally McBeal“, gespielt von Robert Downey Jr., und der damit leider einhergehenden Problematik, dass der Schauspieler ständig im Knast war und man Gründe für Larrys Abwesenheit erfinden musste. Oder aber sie kreisen um das zentrale Mysterium und regen sich darüber auf, dass das Mysterium nicht auserklärt wird, sondern man darüber nachdenken muss und sich fragen sollte: Was könnte das für mich bedeuten?
Ich wiederhole das Zitat vom Eingang:

„…geheimnisvolles, mit dem Verstand nicht ergründbares Geschehen; unergründliches Geheimnis, besonders religiöser Art“.

Jede Antwort wäre falsch.

Nein, es ist nicht wichtig, was für eine Quelle von Macht oder Energie genau hinter dem Korken steckt und wer den Korken in die Quelle gestopft hat. Es ist nicht wichtig, wer “Mutter” ist (wie gesagt, man hätte Mutter sogar weglassen können). Es ist nicht wichtig, nach welchen Regeln genau die Insel funktioniert oder warum ihre Örtlichkeiten, wie etwa Jacobs Hütte, wandern können. Ebenso wie im Fall des „Schloss“ oder des „Process“ ist es im Gegenteil genau wichtig, dass diese Fragen nicht beantwortet werden, dass wir nichts von der Gründung des Gerichts 1857 lernen und wie im Detail seine Gesetze niedergelegt wurden, oder von der Erbauung des Schlosses 1623 und wie ein Magier die Beamten des Schlosses verzaubert hat oder ähnlichen Unsinn. Wer so an Fiktion herangeht, löse besser Kreuzworträtsel.

„Lost“ bleibt eine unglaublich ambitionierte und immer wieder auch beeindruckend diesen Ambitionen nahekommende Show. Mit teilweise großen Schwächen einerseits beim Pacing und andererseits, weil manchmal eine Runde zu viel gedreht wird. „Lost“ hat starke Figuren, noch dazu aus unterschiedlichen Lebenssphären und mit so unterschiedlichen Weltanschauungen, wie man das sonst in einer Serie selten realisiert findet. Und um diese Figuren und ihr Verhältnis zur Welt geht es letztlich. Dass diese Welt zumindest in der Haupt-Zeitlinie größtenteils eine einsame Insel mit mysteriös göttlich/magischer Vorgeschichte und schwer zu durchschauenden Bewohnern ist, hilft, existenzielle Fragen in mitreißender Weise zu konkretisieren, aber es ist für das, was die Serie ausmacht, fast peripher. Nachdem ich diesen Text geschrieben habe, habe ich noch ein wenig weiter zum Finale gegoogelt und dieses Statement der Showrunner gefunden, das genau diese Perspektive unterstreicht:

On what the finale was all about: Carlton explained: „Very early on we had decided that even though Lost is a show about people on the island, really, metaphorically, it was about people who were lost and searching for meaning and purpose in their lives. And because of that, we felt the ending really had to be spiritual, and one that talks about destiny. We would have long discourses about the nature of the show, for many years, and we decided it needed to mean something to us and our belief system and the characters and how all of us are here to lift each other up in our lives.“ (Hence, the whole brilliang „Constant“ concept. Swoon x infinity, Desmond and Penny.)

Nun wissen die Produzenten nicht per se mehr über ein Kunstwerk, als die Rezipienten, alles muss sich am Werk erweisen. Aber wenn man das getan hat, darf ein solches Statement, das die eigenen Gedanken stützt, zumindest als starkes hilfreiches Indiz herangezogen werden.

Daher zum Schluss ein Appell an alle, die weder der Serie noch wahrscheinlich diesem Artikel folgen konnten: Liebe Internet-Menschen. Projiziert die eigenen Schwächen nicht auf andere. Ratet Menschen nicht davon ab, sich mit etwas zu beschäftigen, von dem ihr nicht wirklich in der Lage seid, es auf Höhe des Werks zu kritisieren. Recht eigentlich sogar: Ratet nie ab, sondern sagt: Das und das finde ich misslungen, aber mach dir selbst ein Bild. Selbst das misslungenste Werk kann bereichern, indem es das eigene kritische Denken über die Fehler schärft. Und während ich es in der Literatur noch verstehen kann, dass man mit einigen Texten seine Zeit nicht verschwenden möchte, weil es so viel bessere gibt, ist mir in meinem ganzen Leben beim Zeit mit Serien totschlagen noch keine untergekommen, die so viel besser ist als eine andere bzw. so viel schlechter als eine andere, dass man damit ernsthaft Zeit zu Ungunsten eines anderen Werkes, für das man sonst keine Zeit finden würde, verschwendet hätte.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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