Wehrdienst und Ersatzdienst

Noch ist der Wehrdienst nicht wieder zur Wehrpflicht geworden – aber die Diskussion hat begonnen. Damit kommt auch die Frage nach Sinn und Ausgestaltung von Ersatzdiensten wieder auf die Tagesordnung.


Mit der Reaktivierung des Wehrdienstes kehrt auch der Ersatzdienst wieder in die Diskussion zurück. Spätestens, wenn die Wehrpflicht wieder aktiviert wird, stellt sich die Frage, was diejenigen tun sollen, die nach Art. 4(3) Grundgesetz den Kriegsdienst an der Waffe verweigern.

Wehrdienst und Ersatzdienst im Grundgesetz

Die Situation im Grundgesetz zur Regelung von Wehr- und Ersatzdienst ist etwas komplexer, als man gemeinhin annimmt. Nicht zufällig ist der Wehrpflicht-Artikel nach dem Artikel 12 eingeschoben. Er ist dort eigentlich ein Fremdkörper, denn der ganze Abschnitt des Grundgesetzes von Artikel 1 bis 19 behandelt „Die Grundrechte“, in Artikel 12a geht es aber um Pflichten. Genau besehen ist er ein Artikel, der den Artikel 12 einschränkt oder konkretisiert. Dort heißt es in Absatz 1 „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ Und im Absatz 2 folgt das Entscheidende: „Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.“ Und Absatz 3 ergänzt „Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.“

Dies wird nun in Artikel 12a konkretisiert, allerdings nicht ganz schlüssig. Man könnte den Wehr- und den zugehörigen Ersatzdienst als „herkömmliche allgemeine, für alle gleiche öffentliche Dienstleistungspflicht“ auffassen. Aber das sind sie offenbar nicht, denn sie gelten nur für Männer. Sicherlich ist es längst geboten, hier eine Gleichbehandlung von Männern und Frauen herbeizuführen. Aber auch dann, wenn Artikel 12a nicht mehr zwischen Männern und Frauen unterscheiden würde, bliebe mit Blick auf die bisherige Praxis des Ersatzdienstes ein Widerspruch zwischen Artikel 12 und 12a, denn das, was Ersatzdienstleistende im Allgemeinen gemacht haben, war keine „öffentliche Dienstleistung“. Zumeist verrichteten sie Hilfsarbeiten in Krankenhäusern, Altenheimen, Kindergärten, sozialen und kulturellen Einrichtungen. All das war sicherlich ehrenwert und sinnvoll, aber keine „öffentliche Dienstleistung“.

Was sind „öffentliche Dienstleistungen“?

Es lohnt sich, an dem Begriff der „öffentlichen Dienstleistung“ festzuhalten, weil durch ihn überhaupt der Sinn der Einschränkung der Berufs- und Arbeitsplatzfreiheit, die durch Artikel 12 garantiert werden, deutlich wird. Recherchiert man diesen Begriff, bekommt man, etwas vereinfacht gesagt, den Eindruck, öffentliche Dienstleistungen seien ungefähr das, was der öffentliche Dienst macht. Es wäre aber überraschend, wenn es dafür eine allgemeine Pflicht zur Dienstleistung gäbe. Jedoch kann es Dienstleistungen geben, die in bestimmten Situationen notwendig sind, damit der Staat, der die Freiheiten garantieren soll, überhaupt existieren kann und damit er in der Lage ist, diese Freiheiten zu garantieren. Der Staat ist nicht aus sich heraus in jeder Situation in der Lage, den Bürgern alle Freiheiten zu sichern, es kann Bedrohungen von außen oder aus dem Inneren geben, zudem Naturkatastrophen oder technische Unglücke großen Ausmaßes, die den Staat in seiner Leistungsfähigkeit einschneidend beeinträchtigen. Der Sinn der allgemeinen Pflicht zur öffentlichen Dienstleistung besteht darin, dass die Bürger verpflichtet werden, dafür zu sorgen, dass ihre Freiheiten in solchen Situationen verteidigt, geschützt oder wiederhergestellt werden.

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Es versteht sich von selbst, dass es sich bei den Situationen, für die diese Dienstleistungspflicht besteht, um Ausnahmesituationen handeln muss, Katastrophen und kriegerische oder terroristische Angriffe, sonst wäre die eigentliche Berufs- und Arbeitsplatzfreiheit obsolet. Allenfalls die Ausbildung, das Training der notwendigen Fähigkeiten für diese Ausnahmefälle könnte für normale Zeiten als Pflicht angesehen werden, wenn man annimmt, dass eine Leistung im Ernstfall nur ausreichend erbracht werden kann, wenn sie vorher geübt wurde.

Aufgaben, die der Staat in normalen Zeiten außerhalb gravierender Krisen zu erfüllen hat, Leistungen, die er entsprechend des Grundgesetzes im Alltag zu erbringen hat, können und dürfen aber nicht über eine allgemeine Dienstpflicht sichergestellt werden. Das würde die Berufs- und Arbeitsplatzfreiheit, die Artikel 12 GG garantiert, zu sehr einschränken. Deshalb besteht auch keine Dienstpflicht bei der Polizei, die tagtäglich die Ordnung und Sicherheit im Innern sichert, sondern nur in den Streitkräften, die einen militärischen Angriff abwehren sollen. So kann auch nicht die Altenpflege, das alltägliche Funktionieren von Krankenhäusern sowie kulturellen und sozialen Einrichtungen von einer allgemeinen Dienstpflicht abhängen. Würde man solche Pflichten zu allgemeinen öffentlichen Dienstleistungen zählen, dann wäre bald auch die Sicherstellung des öffentlichen Nahverkehrs und der täglichen Lebensmittelversorgung eine solche allgemeine öffentliche Dienstleistung, zu der alle Bürger verpflichtet werden können.

Was sollte ein Ersatzdienst beinhalten?

So gesehen muss man sich fragen, welcher Art ein Ersatzdienst überhaupt sein kann. Wenn man darüber nachdenkt, fällt vor allem auf, dass sich Wehr- und Ersatzdienst vor allem in einem Punkt unterschieden haben: Wehrdienst war vor allem Ausbildung für und Vorbereitung auf den Ausnahmefall – den Verteidigungsfall. Auch wenn die Grundausbildung nur einen gewissen Teil der Grundwehrdienstzeit ausgemacht hat, diente die ganze Zeit vor allem dazu, die Wehrdienstleistenden für den Ernstfall einsatzfähig zu machen – jedenfalls war das ihr langfristiger Sinn. In Zukunft, wenn der Wehrdienst gegenüber früheren Jahren weiter verkürzt wird, wird das noch mehr so sein: Es geht in ihm nicht darum, bereits einen Dienst zu leisten, sondern darum, dazu ausgebildet zu werden, einen Dienst leisten zu können, der hoffentlich nie in Anspruch genommen wird.

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Anders war es bisher bei den Ersatzdiensten. Nicht nur waren sie gar keine öffentlichen Dienstleistungen, nach kurzer Einarbeitungszeit haben die jungen Leute dort schlicht gearbeitet, als Helfer in der Pflege, als Mitarbeiter in sozialen Einrichtungen und so weiter.

Ausbildung und Ernstfall

Nehmen wir das Grundgesetz mit seinen Artikeln 12 und 12a ernst, dann muss der Ersatzdienst in Zukunft ganz anders aussehen als früher. Er muss, wie der Wehrdienst, Vorbereitung und Ausbildung für den Ernstfall sein: für den Verteidigungsfall ebenso wie für den Katastrophenfall oder die Situation eines großangelegten Terrorangriffs. Für all diese Fälle gibt es viel zu tun, nicht nur den Dienst an der Waffe. Der Artikel 12a nennt schon einige dieser Tätigkeiten, ohne sie aber in die Dienstpflicht vom Charakter des Wehrdienstes einzubeziehen – nämlich da, wo er die „zivilen Dienstleistungen zum Zwecke der Verteidigung“ behandelt, zu der dann auch Frauen herangezogen werden können. Allerdings tut der Text hier so, als ob es für diese Dienstleistungen keiner Ausbildung oder Einübung bedürfen würde. Die Fähigkeit, in Katastrophen und Unglücksfällen, aber auch beim Zivilschutz im Verteidigungsfall, diszipliniert, organisiert und effektiv zu handeln, Verletzte zu bergen und zu versorgen, Infrastrukturen mit einfachen Mitteln aufrechtzuerhalten, Hilfsbedürftige zu versorgen – all das muss aber genauso gelernt und geübt werden wie der Dienst in den Streitkräften. Eine Gesellschaft, die die Freiheiten ihrer Bürger auch in Krisensituationen verteidigen, bewahren, schützen und schnell wiederherstellen will, braucht dazu viele vorbereitete und ausgebildete Kräfte.

Überhaupt mangelt es dem Grundgesetztext hier an der ausdrücklichen Klarstellung, dass die Dienstpflicht sich auf eine zeitlich begrenzte Ausbildungspflicht in „Normalzeiten“ und auf eine Einsatzpflicht im Ernstfall bezieht. Streng genommen könnte man nach dem Grundgesetztext, wie er ist, auch die Kriegsdienstverweigerer zu einem Grundwehrdienst einziehen – denn der ist kein Kriegsdienst, es ist ja kein Krieg.

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Um hier Klarheit zu bekommen und zugleich die überholte und längst nicht mehr zeitgemäße Unterscheidung von Männer-Diensten und Frauen-Diensten endlich zu verabschieden, sollte Artikel 12a des Grundgesetzes in etwa folgende Regeln enthalten:

Er sollte klar sagen, für welche Art von öffentlichen Dienstleistungen die Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl eingeschränkt werden kann. Er sollte die Verwandtschaft von Wehrdienst und zivilem Dienst sowohl bei der Ausbildung als auch beim Einsatz im Ernstfall deutlich machen. Und er sollte den Unterschied von Ausbildung un tatsächlichem Dienst im Ernstfall klarstellen:

Alle erwachsenen Deutschen können für begrenzte Zeit zur Ausbildung für Dienstleistungen herangezogen werden, die benötigt werden, um im Ausnahmefall von militärischen Bedrohungen oder Angriffen oder von nationalen Katastrophen die Freiheiten, die dieses Grundgesetz garantiert, zu verteidigen, wiederherzustellen und zu erhalten.

Wer entsprechend Artikel 4 GG den Kriegsdienst an der Waffe aus Gewissensgründen verweigert, wird zu einer entsprechenden, organisatorisch gleichartigen Ausbildung im Bevölkerung-, Zivil- und Katastrophenschutz oder für zivile Dienstleistungen in den Streitkräften herangezogen, im Übrigen wird sie in den Streitkräfen geleistet.

Bei Eintritt eines Verteidigungs- oder Katastrophenfalls können alle erwachsenen Deutschen zu den notwendigen Dienstleistungen, für die sie ausgebildet wurden, herangezogen werden.

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