Renten und Wehrpflicht: Die Krise des Regierens
Das Prinzip Regierungskoalition muss abgeschafft werden. Das zeigt das politische Geschehen um Renten und Wehrpflicht auf dramatische Weise.

Es ist absurd: Offenbar hat das neue Rentengesetz, das heute zur Abstimmung kommen soll, eine Mehrheit im Bundestag. Trotzdem wird es eine Zitterpartie, weil die einen, die in der Opposition sind, es ablehnen, obwohl sie es richtig finden, und die anderen, die in der Regierungskoalition sind, zwar zum Teil dagegen sind, aber zur Zustimmung mehr oder weniger gedrängt, wenn nicht genötigt werden.
Das Grundgesetz kennt die Begriffe Opposition und Koalition in Bezug auf die Parlamentsarbeit nicht. Es kennt nur die einzelnen Abgeordneten, die nur ihrem Gewissen verpflichtet und an Weisungen nicht gebunden sind. Trotzdem ist die Absurdität, zu der es immer wieder kommt und die uns in dieser Legislaturperiode wohl noch öfter begegnen wird, schon durch das Grundgesetz vorprogrammiert. Es beinhaltet auf der einen Seite den Satz, dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt. Mit Bezug auf die Rentenpolitik würde das heißen, dass er festlegt, wie das Rentensystem in Zukunft funktionieren soll. Das kann er aber nur, wenn er das Parlament, das die nötigen Gesetze „beschließen“ soll, unter Kontrolle hat. Und das wiederum funktioniert eben nur mit einer disziplinierten Koalition.
Aber genau dieses Prinzip setzt die Gewaltenteilung außer Kraft. Das Parlament sollte in einer parlamentarischen Republik die Gesetze, die die Regierung einbringt, nicht nur beschließen, es muss selbst die Initiative haben. Im Parlament sitzen die Volksvertreter, sie müssen in einer solchen Sachfrage um Kompromisse und Mehrheiten ringen – ihrem Gewissen verpflichtet. Dann wäre es gar kein Problem, wenn dabei ein Gesetz herauskommt, das eben eine Mehrheit im Parlament hat und nicht exakt den Vorstellungen von Parteiführungen entspricht.
Die Regierung muss auch mit Gesetzen leben, die beschlossen wurden, bevor sie selbst durch die Wahl des Kanzlers im Parlament ins Amt kam. Umso mehr sollte sie mit den Gesetzen zurechtkommen, die von dem Parlament geschaffen und beschlossen wurden, das sie eingesetzt hat. Leider läuft es im Moment umgekehrt. Ohne so richtig zu verstehen, was hier eigentlich schief läuft, wendet sich das Publikum mit Grauen ab.
Notwendig wäre eine Stärkung des Parlaments. Dort müssen die Gesetze ausgehandelt werden, die Mehrheitsfähig sind. Geheime Abstimmungen sollten der Normalfall sein: Dann können alle Abgeordneten nach ihren Überzeugungen und ihrem Gewissen abstimmen. Auch dann wird es ganz selbstverständlich sein, dass Abgeordnete den Experten ihrer Fraktion vertrauen, aber es wäre auch möglich, dass Gesetze mit wechselnden Mehrheiten zustande kommen. Die aktuellen großen Beispiele zur Wehrpflicht und zur Rente zeigen, dass die Ergebnisse wahrscheinlich nicht schlechter wären als das, was eine Koalitionsführung als Kompromiss auskungelt, und vermutlich käme man sogar schneller zu Ergebnissen.
Leider besteht auch in der Öffentlichkeit wenig Neigung, einmal grundsätzlich über die Fehler des politischen Prozesses nachzudenken. Man kommentiert genüsslich das Scheitern und fordert Führungsstärke und Disziplin, und man merkt dabei nicht, dass man mit dieser Art Kommentierung den falschen Konsens über ein „funktionierendes Regieren“ reproduziert.
Man fragt sich, wie sehr diese Praxis noch scheitern muss, bevor Politik und Öffentlichkeit bereit sind, grundsätzlich über eine Reform des Systems zu diskutieren.
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