Der Nikolaus kommt bald
Der Mann mit dem Bart und die Sache mit der Furcht. Eine Vorweihnachtskolumne von Heinrich Schmitz

Es ist jedes Jahr dasselbe Ritual, das zuverlässig irgendwo zwischen besinnlicher Adventsstimmung und leichtem Familienchaos stattfindet: Der Nikolaus nähert sich. Und damit für viele Kinder ein Problem.
Alarmbereitschaft
Sobald der 6. Dezember in Reichweite rückt, beginnt für viele Kinder eine merkwürdige Mischung aus Vorfreude und Alarmbereitschaft. Man könnte meinen, es handle sich um den Besuch eines prominenten Gastes – was ja streng genommen stimmt –, doch die Emotionen ähneln eher einer Betriebsprüfung durch das Finanzamt.
Eltern tragen in dieser Zeit eine beinahe sportliche Verantwortung: einerseits gute Stimmung machen, andererseits das Haus so weit in Schuss bringen, dass der Nikolaus nicht versehentlich über ein liegengebliebenes Lego-Teil stürzt und die pädagogische Wirkung seines Besuchs in Gelächter verpufft. Gleichzeitig flüstern sie ihren Kindern zu: „Der Nikolaus ist lieb!“, was sie allerdings im selben Satz mit „aber er weiß schon, wenn du wieder heimlich unter der Bettdecke gelesen hast“ relativieren. Manchmal denke ich, der Nikolaus sollte eine eigene PR-Abteilung bekommen, die ausschließlich dafür zuständig ist, solche widersprüchlichen Botschaften einzudämmen.
Furcht
Denn seien wir ehrlich: Viele Kinder fürchten sich. Und zwar kräftig. Der Nikolaus tritt mit Bischofsstab, wallendem Bart und einer Mitra auf, die aus der Perspektive eines Vierjährigen ungefähr die Höhe eines Kirchturms hat. Für manche Kinder ist er nicht der nette Heilige, der Gutes bringt, sondern eher eine Mischung aus Märchenrichter und wandelndem Gewissen. Da hilft auch der Duft nach Lebkuchen nicht, wenn die Knie zittern und man blitzschnell alle potenziell peinlichen Situationen der letzten zwölf Monate durchscannt. In seinem Buch steht jede Verfehlung des letzten Jahres drin. So ein MIst aber auch.
Hans Muff
Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Nikolausbesuch. Bei uns erschien der Nikolaus grundsätzlich in Begleitung eines wilden, unheimlichen Gesellen Namens Hans Muff. Der war sozusagen der Bad Cop, während der Nikolaus den Good Cop mimte. Das erhöhte die Spannung. Den Muff sah ich allerdings nicht, denn mein starker Onkel Willi, ein Schmiedemeister, kämpfte unter großem Lärm auf dem Flur mit Hans Muff und legte diesen in Ketten. Höchst beeindruckendes Spektakel. Dann kam noch der Nikolaus – den ich Jahre später ebenfalls als Onkle Willi indentifizierte – in die gute Stube. Der war superfreundlich und erwähnte die ganzen Untaten nicht, weil er sie gar nicht kannte. Das merkte ich aber erst Jahre später.
Imageproblem
Der Nikolaus selbst hat überhaupt kein Interesse an Einschüchterung oder moralischem Druck. Er hat schlicht ein Imageproblem. Schuld daran ist vor allem die ewige Verwechslung mit dem Weihnachtsmann.
Der Unterschied? Größer, als man denkt.
Der Nikolaus, also St. Nikolaus von Myra, war ein Bischof, der im 4. Jahrhundert lebte und tatsächlich als Wohltäter und Beschützer der Kinder gilt. Kein Drohgebärden-Fan, kein Archetyp des erhobenen Zeigefingers, sondern eher der freundliche Nachbar, der unerkannt Brot verteilt. In seiner Legende taucht weder eine Rute noch ein moralisches Notizbuch auf. Die kamen erst später dazu, von Erwachsenen erfunden, die das pädagogische Potenzial eines übernatürlichen Besuchs offensichtlich als zu verlockend empfanden, um es ungenutzt zu lassen.
Der Weihnachtsmann hingegen ist ein mittlerweile globalisiertes Popkultur-Produkt, freundlich, mollig, immer fröhlich – der perfekte Markenbotschafter des Festes. Er trägt keine Mitra, sondern eine rotweiße Zipfelmütze, keinen Bischofsstab, sondern höchstens mal eine Glocke. Während der Nikolaus also die Rolle des barmherzigen Heiligen einnimmt, ist der Weihnachtsmann mehr der charmante Logistik-Manager, der am 24. Dezember im Eiltempo Geschenke durch unzählige Kamine anliefert, wie der Amazonmann. Er ist das freundliche Maskottchen der Weihnachtszeit, ein wenig wie ein offizieller „Festtags-Botschafter“, der mit Rentieren anreist statt mit pädagogischen Beweisstücken.
Unterschiede
Einfach gesagt:
Nikolaus = historischer Heiliger, Sinnbild für Nächstenliebe, kommt am 6. Dezember.
Weihnachtsmann = fröhliche Kunstfigur, Geschenkebringer, kommt an Heiligabend.
Gemeinsamkeit: Bart. Sehr viel Bart.
Vielleicht sollten wir also den Kindern wieder einfach ohne den ganzen Zirkus vermitteln, wofür der Nikolaus wirklich steht: für Güte, Großzügigkeit und das Überraschende im Alltag. Er ist nicht die institutionalisierte Furcht der Vorweihnachtszeit, der rote Rächer, sondern der freundliche Bischof, der Gutes tun wollte – und der völlig zu Unrecht öfter zur pädagogischen Großmacht stilisiert wird, als ihm lieb sein dürfte.
Und wenn wir das alle ein wenig ernster nehmen, könnten Kinder dem Nikolaus irgendwann genauso entspannt entgegenblicken wie dem Weihnachtsmann. Schließlich bringt er nicht nur Nüsse, Äpfel und Schokolade – er bringt die Erinnerung daran, dass Großzügigkeit weniger mit Bestrafung und viel mehr mit Freude zu tun hat.
Lasst uns froh und munter sein.
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