Wissenschaftsfreiheit als Kunstfreiheit
Welche Gemeinsamkeiten haben Wissenschaftsfreiheit und Kunstfreiheit? Können Wissenschaftler auf dieselbe Weise frei sein wie Künstler?

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Der Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes ist der Freiheits-Artikel. Hier geht es um Meinungs-, Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Man muss keine lange philosophische Debatte um den Begriff der Freiheit führen, um diesen Grundgesetzartikel zu verstehen. Es genügt, festzuhalten, dass hier offenbar die Abwesenheit von Zwang und Bevormundung, von Einschränkungen, Verboten und Reglementierung gemeint ist.
Die Freiheiten sind im Grundgesetz nicht in einem Atemzug genannt. Wissenschaftsfreiheit steht mit der Kunstfreiheit zusammen. Das ist ein guter Anlass, einmal über die Verwandtschaft der beiden nachzudenken.
Inhaltsverzeichnis
- Wissenschaftsfreiheit im Artikel 5 Grundgesetz
- Wissenschaftsfreiheit als institutionelle Freiheit
- Kunstfreiheit ist Freiheit von Personen
- Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit
- Methodisch strenge Wissenschaft
- Eine andere Welt ist denkbar
- Einschränkungen trotz Freiheit
- Peer Review und Wissenschaftsfreiheit
- Wissenschaftler als Privatgelehrte
- Die Wirklichkeit der Wissenschaftsfreiheit
Wissenschaftsfreiheit im Artikel 5 Grundgesetz
Die Freiheit bezieht sich zunächst sowohl auf die Betätigung selbst, auf die verwendeten Mittel und Methoden, als auch auf die Möglichkeit der öffentlichen Präsentation, Publikation und Diskussion der Ergebnisse.
Im Artikel 5 werden die vier Freiheiten nicht gemeinsam behandelt, im ersten Absatz geht es um die Meinungs- und die Pressefreiheit, dabei erscheint die Pressefreiheit als Erweiterung der Meinungsfreiheit. Der Absatz 2 benennt einige Einschränkungen. Erst in Absatz 3 werden Wissenschaft und Kunst genannt, wobei, merkwürdig genug, diese nicht als Freiheiten von Personen genannt werden:
Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
Artikel 5 Absatz 3 GG
Freiheit wird als Attribut der Wissenschaft und der Kunst selbst zugeordnet, genauso wie den hinzugesetzten Elementen Forschung und Lehre.
Die Freiheit der Wissenschaft wird oft als verwandt mit der Meinungsfreiheit angesehen. Wissenschaftliche Aussagen sollen demnach genauso frei sein wie Meinungen, vielleicht sogar noch ein bisschen freier, weil sie wissenschaftlich begründet und damit zuverlässiger sind als Meinungen, vielleicht auch, weil man hofft, dass den Wissenschaftlern mehr an der Wahrheit ihrer Aussagen gelegen ist als den anderen Menschen, die einfach ihre Meinung sagen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob das zutrifft, weil wissenschaftliche Aussagen ohnehin beanspruchen, etwas anderes zu sein als bloße Meinungen, sie sollen gerade nicht persönliche Ansichten sein, sondern systematisch gewonnenen Erkenntnisse. Sie benötigen, so könnte man sagen, ohnehin nicht den Schutz der Meinungsfreiheit.
Zudem geht es bei der Freiheit der Wissenschaft auf den ersten Blick weniger um die Aussagen, die als Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit präsentiert werden und die frei geäußert werden sollen – es geht vor allem um die Freiheit der wissenschaftlichen Betätigung, die Auswahl der Themen und Gegenstände sowie der Methoden. Erst in zweiter Linie geht es dann darum, dass die Resultate dann auch frei publiziert und dargestellt werden dürfen, dass sie frei mit anderen Wissenschaftlern diskutiert werden dürfen und dass sie ungehindert in der interessierten Öffentlichkeit publiziert werden.
Wissenschaftsfreiheit als institutionelle Freiheit
Zumeist wird die Wissenschaftsfreiheit heute als eine institutionelle Freiheit aufgefasst. Es geht nicht so sehr um die Freiheit der Betätigung der einzelnen Person, die wissenschaftlich arbeitet, sondern um die der wissenschaftlichen Einrichtungen, der Universitäten und Forschungsinstitute oder des Systems dieser vernetzten Einrichtungen überhaupt, und zwar wiederum gegenüber dem Staat oder der Politik, die „der Wissenschaft“ nicht vorschreiben sollen oder dürfen, woran sie arbeitet, wie sie forscht, welche Ergebnisse sie publiziert. Hier wird Wissenschaftsfreiheit wie Pressefreiheit aufgefasst, die ja im Alltag auch nicht die Freiheit einer einzelnen Journalistin ist, sondern die Freiheit der Zeitungsredaktionen und der Rundfunksender.
Ähnlich wie bei der Freiheit der Presse wird auch bei der Wissenschaft oft angenommen, dass ihre Institutionen dafür sorgen würden, dass die Freiheit nicht missbraucht würde. Genau genommen wird damit die Freiheit in der Praxis nicht bedingungslos gewährleistet, der Staat gewährt sie unter der Bedingung, dass die Institutionen, seien es die Redaktionen oder der Presserat, die Universitäten und Forschungseinrichtungen oder interinstitutionelle Verfahren der Prüfung und Begutachtung, dafür sorgen, dass mit der Freiheit kein Schindluder getrieben wird.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland findet sich allerdings die Sicherung der Wissenschaftsfreiheit zwar im gleichen Artikel wie die der Meinungs- und der Pressefreiheit, sie wird aber im dritten Absatz dieses Artikels gemeinsam mit der Kunstfreiheit sowie der Freiheit der Lehre und der Forschung genannt. Für die Autoren des Grundgesetzes ist also die Wissenschaftsfreiheit eher der der Kunst verwandt als etwa der Meinungs- und Pressefreiheit, die gemeinsam im ersten Absatz des Artikels aufgeführt werden. Es ist deshalb naheliegend, die Freiheit der Wissenschaft eher als etwas Ähnliches wie die Kunstfreiheit anzusehen.
Kunstfreiheit ist Freiheit von Personen
Die Freiheit der Kunst ist primär die Freiheit der einzelnen Person, die als Künstlerin anerkannt ist. Niemand käme auf den Gedanken, dass es eine Institution geben müsse, die zunächst mal prüft, ob denn das Werk nach den Regeln der Disziplin zustande gekommen wäre und ob es sich als Ergebnis des künstlerischen Schaffens denn auch in ein Gesamtwerk der Kunstwelt korrekt einordne. Das gilt ganz selbstverständlich auch, wenn ein Künstler an einer Kunstakademie wirkt, es gilt auch für die Kunststudentin an der Akademie. Das etwas Kunst sei, wird nicht dadurch festgestellt und akzeptiert, dass es auf eine vorschriftsgemäße Weise nach den Regeln des Kunstbetriebes zustande gekommen ist, sondern dadurch, dass es von einem Künstler geschaffen ist und dass er es als sein Werk deklariert und dass das von anderen – aus welchen Gründen auch immer – akzeptiert wird.
Selbstverständlich gibt es Schwierigkeiten bei der Akzeptanz eines Werks als Kunst. Die Versuche der Beantwortung der Frage, was Kunst ist oder als Kunst gilt, füllen philosophische Bibliotheken. Wir machen es uns hier einfach, indem wir sagen, dass wenigstens das als Kunst gilt, was eine ausgebildete Künstlerin, die an einer Kunstakademie erfolgreich studiert hat, als ihr Kunstwerk bezeichnet. Natürlich kann auch jeder andere etwas herstellen und als sein Kunstwerk bezeichnen und es ist möglich, dass es als Kunstwerk von der Kunstwelt, von der Öffentlichkeit oder vom Publikum akzeptiert wird. Denken wir uns eine Person, die Gedichte oder einen Roman schreibt: ob die Ergebnisse als künstlerisch angesehen und akzeptiert werden, hängt womöglich vom Geschmack des Publikums oder vom Urteil der professionellen Kritik ab, wobei sich beide irren können. Zu diesem Urteil kann beitragen, dass die Autorin ein Germanistikstudium absolviert oder Literaturwissenschaft studiert hat, es ist aber nicht notwendig. Eine bildende Künstlerin mit einem abgeschlossenen Studium der freien Kunst wird es auf jeden Fall leichter haben, eine Installation, eine abstrakte Skulptur oder eine Zeichnung, die sie hergestellt hat, gegenüber der Öffentlichkeit erfolgreich als ihr Kunstwerk zu präsentieren, als jemand, der nicht auf dieses Studium verweisen kann, insbesondere, wenn das Ergebnis nicht den Sehgewohnheiten und Erwartungen der Rezipienten entspricht.
Auf jeden Fall gibt es aber für Künstler keine formalen Überprüfungsverfahren wie etwa ein Peer Review (auch wenn das ja durchaus denkbar wäre), welches verbindlich festlegt, ob ein Werk als künstlerisch akzeptiert werden sollte. Insbesondere würde wohl niemand auf die Idee kommen, dazu ein anonymisiertes Verfahren durchzuführen, bei dem nur das Werk und nicht seine Autorin oder Produzentin gesehen wird.
Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit
Keineswegs geht es in der Kunstfreiheit zuerst um Inhalte oder Aussagen. Die sind nämlich bereits von der Garantie der Meinungsfreiheit gedeckt. Wenn Kunst eine Aussage hat, dann ist diese die Meinung des Künstlers. Es bedarf also keiner gesonderten Betonung der Freiheit der Kunst, soweit es um eine mögliche Botschaft, eine Behauptung, eine Forderung, eine Warnung geht, die mit dem Werk zum Ausdruck gebracht wird. Kunstfreiheit besteht gerade darin, dass jede Künstlerin ihr Werk als Kunst deklarieren kann, unabhängig davon, wie es zustande gekommen ist, welche Verfahren sie angewandt hat, welche Mittel sie wählt und welches Resultat schließlich als Werk entstanden ist.
Stellen wir uns Wissenschaftsfreiheit als Kunstfreiheit vor, also als Freiheit einer jeden Person, Aussagen über die Realität, die sie mit mehr oder weniger großem Aufwand hervorgebracht hat, als wissenschaftliche Einsicht zu deklarieren. Das klingt nach Chaos und Anarchie. Allerdings würden das Publikum und die Öffentlichkeit, aber auch die professionelle Kritik sowie die Institutionen, die Wissenschaftler als Forscher und Lehrer beschäftigen, schnell nach Kriterien suchen, nach denen sie für sich gerechtfertigt urteilen können, ob sie etwas als Wissenschaft akzeptieren oder nicht. Dazu würde dann etwa die wissenschaftliche Ausbildung gehören, auch wenn es sein kann, dass ein Autodidakt oder ein Laie durch fleißiges Selbststudium und intensive methodische Arbeit ebenfalls zu einer wissenschaftlichen Einsicht käme. Sodann würde man auf das Urteil von Leuten setzen, die Erfahrung in der professionellen kritischen Prüfung wissenschaftlicher Leistungen haben. Vielleicht würde sich so etwas wie eine Wissenschaftskritik herausbilden, so, wie es Kunstkritiker gibt, Leute, die nichts anderes tun, als Monographien und Paper auf Plausibilität und Originalität zu durchleuchten.
Methodisch strenge Wissenschaft
Man könnte sogleich einwenden, dass der wesentliche Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft doch darin besteht, dass letztere methodisch streng vorgeht und reproduzierbares und damit allgemeines Wissen über die Realität erzeugt, welches sozusagen nicht mehr an die einzelne Person gebunden ist, sondern ein Baustein im Gebäude der Wissenschaften ist, der zum Teil des Fundaments wird, auf dem andere später aufbauen werden. Ist dann nicht eine Prüfung nötig, die die Freiheit der einzelnen wissenschaftlich tätigen Person begrenzen muss?
Dagegen kann man allerdings folgendes vorbringen: Es liegt in der Freiheit jedes Wissenschaftlers, die Fundamente seiner eigenen Arbeit zu prüfen. Wer die Resultate anderer Wissenschaftler in das eigene wissenschaftliche Werk einbauen will, tut gut daran, diese auf Zuverlässigkeit nach eigenen Ansprüchen zu prüfen. Dazu kann er verschiedene Kriterien und Verfahren nutzen, der Nachvollzug des methodischen Vorgehens wäre nur eine, sehr aufwändige Möglichkeit. Die Zuverlässigkeit kann eben auch durch das Zeugnis anderer, durch Erfahrung, durch das Wissen über den wissenschaftlichen Weg des Anderen und anderes mehr bestätigt sein. Letztlich sind all das bereits heute etablierte Wege, die rege genutzt werden und die zwar fehlbar, aber doch effektiv sind.
Weiterhin kann man einwenden, dass Wissenschaftler ohnehin nur selten allein arbeiten, dass also Wissenschaftsfreiheit immer eine kollektive Freiheit sein muss und dementsprechend auch kollektiver Mechanismen der Sicherung bedarf. Das hängt allerdings von der Art der wissenschaftlichen Betätigung ab, es kommt nicht mal so sehr auf die Disziplin an. Auch eine Physikerin, die eine Theorie der Elementarteilchen, der kosmologischen Entwicklung oder der Supraleitung entwickelt, kann dies ganz allein tun, sie kann das in ihrer Freizeit und am Wochenende machen und ihren Lebensunterhalt als Kassiererin im Supermarkt verdienen, so, wie es viele Schriftstellerinnen und bildenden Künstler tun. Was sie vermutlich braucht, ist eine solide mathematische und physikalische Ausbildung, einen ruhigen Arbeitsplatz und Zugang zu Fachliteratur und aktuellen Forschungszeitschriften. Hilfreich wäre womöglich auch der regelmäßige Gedankenaustausch mit Leuten, die etwas von dem verstehen, was sie da umtreibt, mit denen sie ihre Ideen produktiv diskutieren kann.
Eine andere Welt ist denkbar
Wir sehen hier schon, dass eine andere wissenschaftliche Welt denkbar ist als die, die wir heute sehen, die sich im Wesentlichen in geregelten wissenschaftlichen Instituten mit Antragsverfahren, Berichtspflichten und Veröffentlichungsdruck abspielt. Wenn wir einmal beginnen, Wissenschaftsfreiheit als Kunstfreiheit zu denken, entstehen ganz neue Vorstellungen von wissenschaftlicher Freiheit und vom wissenschaftlichen Leben.
Auch bestimmte Kunstwerke entstehen bekanntlich in kollektiver Arbeit. Zuerst ist da das Theater und der Film zu nennen, in denen eine funktionale Ausdifferenzierung wie in einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut zu finden ist. Großprojekte der Bildenden Kunst benötigen Teams, manchmal tun sich Künstler verschiedener Richtungen für gemeinsame Vorhaben zusammen. Und selbst ein Roman braucht, auch abgesehen vom Vertrieb, nicht nur eine Autorin, sondern auch einen Lektor, einen Setzer, eine Person, die den Umschlag gestaltet und andere.
Dennoch unterscheidet sich die Idee von Kunstfreiheit hinsichtlich der Methoden der künstlerischen Arbeit und hinsichtlich der akzeptierten Ergebnisse nicht danach, ob ein Kollektiv am Werk ist, oder eine Einzelperson. Ein Theater kann ein Stück mit allen möglichen Mitteln inszenieren und damit die verschiedensten Aussagen an die Öffentlichkeit bringen, all das ist von der Kunstfreiheit gedeckt.
Einschränkungen trotz Freiheit
Dabei sind selbstverständlich auch Künstler in ihren Möglichkeiten eingeschränkt, ohne dass dies ihre Kunstfreiheit beschränkt. Auch eine bildende Künstlerin muss die statischen und physischen Eigenschaften ihres Materials kennen und beachten, sie kann nichts schaffen, was diese Eigenschaften nicht zulassen. Auch ein Theater ist an die räumlichen Gegebenheiten des Aufführungsortes gebunden. Zudem brauchen auch Künstler Ressourcen, die finanziert werden müssen, also brauchen sie Geldgeber, also müssen sie andere Leute, sei es das zahlende Publikum, sei es ein Publikationsunternehmen, seien es private Mäzene oder seien es staatliche Stellen, vom Sinn und Wert ihres Tuns überzeugen.
Niemand aber würde auf die Idee kommen, für ein Kunstprojekt ein Peer Review zu fordern, in dem andere Künstler oder Kunstkollektive den künstlerischen Wert zu bewerten hätten, bevor eine Finanzierungszusage gegeben wird. Dass die Sache künstlerischen Ansprüchen genügt in dem Sinne, dass das Ergebnis als Kunst zu gelten habe, wird durch die künstlerische Biographie des Künstlers oder des Kollektivs verbürgt, die Ausbildung, die bisherigen Werke, zudem durch die Überzeugungskraft des Vorhabens.
Stellt man sich nun Wissenschaftsfreiheit nicht analog zur Pressefreiheit vor, sondern wie die Kunstfreiheit, dann ergäbe sich auf lange Sicht ein ganz anderes Wissenschaftssystem, eine andere Existenzform der Wissenschaft, als wir sie heute kennen.
Es gäbe kein Peer Review Verfahren mehr, nach dem zu beurteilen ist, ob das Ergebnis einer wissenschaftlichen Arbeit oder ein wissenschaftliches Vorhaben als Wissenschaft zu gelten hat, oder nicht. Grundsätzlich würde man davon ausgehen, dass das, was Leute als Wissenschaft publizieren, die eine solide wissenschaftliche Ausbildung abgeschlossen haben, auch Wissenschaft sei.
Peer Review und Wissenschaftsfreiheit
Man könnte sofort einwenden, dass dann aber die Qualitätssicherung des Peer Review entfallen würde. Ob das Peer Review, wie es heute tatsächlich gelebt wird, die Ansprüche einer guten Qualitätssicherung erfüllt, ob da wirklich Fehler aufgedeckt werden, kann dahingestellt bleiben. Zu guter wissenschaftlicher Praxis würde nämlich ohnehin gehören, dass sich der Wissenschaftler mit Leuten zusammentut, die seine Ergebnisse prüfen. So, wie eine gute Autorin gern mit dem Lektor im Verlag zusammenarbeitet, so, wie sich gute Künstler während ihres Schaffensprozesses der Kritik von Freunden stellen, so suchen auch Wissenschaftler Korrektur und Kritik – diese würde vermutlich fruchtbarer und reichhaltiger sein, wenn die Leute im Wissenschaftsbetrieb nicht durch die zeitfressenden Verfahren des Peer Reviews und ähnlicher Begutachtungsprozesse davon abgehalten werden würden.
Es gäbe überhaupt eine viel größere Vielfalt von wissenschaftlichen Lebensweisen. Niemand käme auf die Idee, nur diejenigen als Künstler anzusehen, die in staatlichen oder großen privaten Kunstinstituten und -Akademien arbeiten. Es ist ganz selbstverständlich, dass Künstler sich Stipendien suchen oder einem Teilzeitjob nachgehen, um den nötigen Freiraum für ihr Schaffen zu haben. Das klingt nach prekärem Leben, ist aber zugleich Preis und Ermöglichung der künstlerischen Freiheit.
Bezüglich der Wissenschaft, so glaubt die Öffentlichkeit und vermutlich die ganze Gesellschaft, ist das Arbeiten fast ausschließlich innerhalb der wissenschaftlichen Institutionen möglich. Das liegt weniger daran, dass wissenschaftliche Arbeit nur als Team möglich wäre. Es liegt daran, dass die Ansicht verbreitet ist, dass Wissenschaftlichkeit dadurch gesichert werden würde, dass sich der einzelne Wissenschaftler in das System der Wissensproduktion einbringt, dass er an einem kleinen Rad im ganzen Mechanismus einer Wissensmaschine drehen würde und dass nur so überhaupt Wissenschaft entstünde. Mit Freiheit hat ein solcher Apparat aber nichts zu tun.
Wissenschaftler als Privatgelehrte
Gerade einmal dem Philosophen wird heute zugestanden, dass es wohl prinzipiell möglich sei, dass er als Privatgelehrter agiert. Oben hatte ich aber schon erwähnt, dass auch eine Physikerin durchaus, wenn sie ihr Studium abgeschlossen hat, an einer neuen Theorie der Elementarteilchen oder des Universums arbeiten könnte, ohne dass sie dazu in einem Forschungsinstitut oder einer Universität angestellt wäre. Natürlich täte es ihr dafür gut, sich hin und wieder mit anderen, die in der Sache ebenfalls bewandert sind, auszutauschen, wie auch ein Romanautor während des Schreibens Rückmeldungen aus dem Lektorat oder von Freunden erhält. Sie muss dazu nicht an einem Forschungsinstitut arbeiten. Der einzige Grund, weshalb sie es doch tut, ist, dass sie ohne diese Integration kaum eine realistische Chance hätte, in der Öffentlichkeit und in der Kunstwelt mit ihrer Theorie wahrgenommen zu werden. Wer ist sie denn, an welchem Institut arbeitet sie, ist sie Professorin?
Wissenschaftsfreiheit als Kunstfreiheit hieße, dass sich diese Fragen nicht stellen, weil selbstverständlich wäre, dass Leute, die wissenschaftlich arbeiten und wissenschaftliche Resultate erzielen, in ganz unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsmodellen unterwegs sind. Das würde die Vielfalt und Kreativität der Forschungsansätze und -ziele enorm vergrößern. Das Eingespanntsein in einen wissenschaftlichen Betrieb und eingefahrene Forschungsprogramme wäre nicht mehr der Standardfall des wissenschaftlichen Arbeitsmodells, sondern nur eine von vielen Möglichkeiten.
Selbstverständlich wäre das auch kein Paradies für Wissenschaftler, so, wie das Leben des freien Künstlers kein Paradies und oft prekär ist, hätte auch der freie Wissenschaftler kein sorgloses Dasein. Aber es bestünde wenigstens da Möglichkeit für kluge, innovative Köpfe, sich aus dem Betrieb der wissenschaftlichen Institutionen herauszulösen und auf eigene Faust zu forschen – und mit den Ergebnissen auch öffentliche und gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen, so, wie es in der freien Kunst möglich ist. Informelle Netzwerke würden sich bilden zwischen Privatgelehrten und auch zu den Institutionen, die mit den freien Wissenschaftlern gemeinsame Projekte zum gemeinsamen Nutzen machen würden.
Die Wirklichkeit der Wissenschaftsfreiheit
Weit ist ein solches wissenschaftliches Leben von der derzeitigen Praxis entfernt, und genau besehen entfernt sich der Wissenschaftsbetrieb immer weiter von der Möglichkeit einer solchen Welt. Das liegt nicht nur an der mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung wirklich freier Wissenschaft und freier Wissenschaftler, es liegt auch daran, dass sich die Finanzierungsmodelle der Publikationswege inzwischen genau gegen diese freie Wissenschaft entwickeln. Die wissenschaftlichen Publikationen sollen nicht mehr von ihrem Publikum, sondern vom Autor bezahlt werden. Diesen Trend gibt es im wissenschaftlichen Publizieren schon lange, Stichwort Druckkostenzuschuss, wird aber heute unter dem schönen Label „Open Access“ zum generellen Standard. Man könnte meinen, das hätte auch Vorteile für den freien Wissenschaftler, kann er doch am Ende alle wissenschaftlichen Journale und Monographien frei lesen. Ob das tatsächlich der Fall sein wird, ist fragwürdig. Bisher bestünde wenigstens die Möglichkeit, in Bibliotheken an die gewünschte Literatur recht günstig heranzukommen. Ob sich das durch Open Access wirklich für den einzelnen verbessern wird, bleibt fraglich. Nun aber wird eine hohe Publikationsschranke geschaffen: wenn der freie Wissenschaftler seine Resultate nur gegen Geld publizieren kann, entspräche das dem Selbstverlag des Romanautors, oder eben dem Druckkostenzuschussverlag. Ein freier Wissenschaftler muss sich einen finanzkräftigen Sponsor suchen, der ihm die Publikation in einem anerkannten Wissenschaftsverlag finanziert.
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