Presse- und Meinungsfreiheit: Artikel 5 Absatz 2 streichen
Wer wissen will, ob die Presse- und Meinungsfreiheit in Deutschland gefährdet ist, muss ins Grundgesetz schauen. Das erlaubt Einschränkungen gleich aus drei Gründen. Der Absatz 2 des Artikel 5 muss gestrichen werden bevor es zu spät ist.

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Wenn man die Frage stellt, wie es um die Presse- und Meinungsfreiheit in Deutschland steht, darf man nicht dabei stehenbleiben, die tatsächlichen Verhältnisse am Wortlaut des einschlägigen Grundgesetz-Artikels 5 zu messen. Vielmehr muss der Verfassungstext selbst, angesichts der Realität im Lande, einer kritischen Analyse unterworfen werden. Für den Kollegen Heinrich Schmitz, der meint, bei der Pressefreiheit gäbe es viele Irrtümer und Missverständnisse, ist der Text des Grundgesetzes selbst heilig. Die Realität muss sich für ihn nur am Wortlaut des heiligen Textes messen lassen. Ich vermute, er würde nicht erwägen, den Artikel 5 des Grundgesetzes im Lichte der Realität selbst auf seine Praxistauglichkeit und seine womöglich kritikwürdigen Nebenwirkungen hin zu untersuchen.
Presse- und Meinungsfreiheit im Vergleich
Dabei sind die Regelungen des Grundgesetzes zur Presse- und Meinungsfreiheit keineswegs sakrosankt. Sie unterliegen auch nicht der Ewigkeitsklausel, können also jederzeit mit den Mitteln der Grundgesetz-Änderung korrigiert werden.
Vergleicht man die Grundgesetz-Aussagen zur Meinungs- und zur Pressefreiheit mit denen anderer Freiheiten, dann fällt auf, dass diese beiden Freiheiten weit schwächer sind als die im selben Artikel folgenden Freiheiten der Kunst, der Wissenschaft, der Forschung und der Lehre sowie die bereits im Artikel 4 festgelegten Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheiten. Diese sind nämlich sämtlich unter keinen Vorbehalt und keine Einschränkung gestellt, lediglich für die Lehre wird, überflüssigerweise, erwähnt, dass sie nicht von der Treue zur Verfassung entbinde.
Für die Meinungs- und die Pressefreiheit gibt es hingegen gleich drei Einschränkungen: Sie „finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“. Das ist eine Menge und man kann sich fragen, was dann für die Meinungs- und die Pressefreiheit überhaupt noch übrig bleibt. Nimmt man den Grundgesetz-Text hier jedenfalls ganz für sich, ohne die bisherige Praxis der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht einzubeziehen, ist klar, dass er fast beliebigen Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit Tür und Tor öffnet. Kann nicht fast jede Meinungsäußerung, wenn sie nicht gerade das Wetter oder das letzte Fußballspiel betrifft, als Verletzung der persönlichen Ehre oder des Schutzes der Jugend aufgefasst werden? Und was hat es mit diesen „allgemeinen Gesetzen“ auf sich, deren Vorschriften die Freiheit der Meinung und der Presse begrenzen können?
Freiheit mit drei hohen Schranken
Nun zeichnet sich das Grundgesetz ohnehin dadurch aus, dass es Begriffe verwendet, die intuitiv zwar verständlich, aber nicht klar definiert sind. Man kann sich z.B. fragen, was die persönliche Ehre hier von der Würde unterscheidet, wo doch diese doch schon in Artikel 1 als wichtigstes schützenswertes Gut genannt ist. Eine Meinungsäußerung oder eine Presseveröffentlichung könnten natürlich die Würde einer Person verletzten. Es wäre einer gesonderten Betrachtung wert, dem Begriff und der Bedeutung von Würde im Sinne des Grundgesetzes nachzugehen. Es ist aber auch schon intuitiv gut vorstellbar, dass durch eine öffentliche Meinungsäußerung die Würde eines Menschen verletzt wird, was dann durch den Staat bereits nach Artikel 1 des Grundgesetzes zu verhindern wäre.
Warum also soll die Ehre noch einmal besonders geschützt werden? Zumal es gerade bei kritischen Presseberichten ja fast immer sein kann, dass da die Ehre einer Person beeinträchtigt wird. Man denke an einen Politiker, der etwas Schändliches getan hat, was durch die Presse ans Licht gebracht wird: Natürlich wird das die Ehre des Politikers beschädigen, jedenfalls kann er sich in seiner Ehre verletzt fühlen, und die letzten Monate haben gezeigt, dass das bei manchen Politikern sehr schnell geht und zur Strafverfolgung führen kann. Denn dem Grundgesetz folgt das Strafgesetzbuch mit den Paragraphen 185-188 zur Beleidigung, üblen Nachrede und Verleumdung – insbesondere mit dem besonderen Schutz von „Personen des politischen Lebens“. Da ist es nun ganz eine Ermessensfrage, wie groß die Schändlichkeit sein muss, damit die Ehre verletzt werden darf. Und jede sarkastische, emotional vorgetragene kritische Meinungsäußerung über einen Politiker kann dieser als ehrverletzend deuten. Man sieht, dass das Grundgesetz da einen Rechtsweg ermöglicht, der von der Meinungsfreiheit in Bezug auf die Bewertung etwa der Standpunkte und Handlungen von Politikern wenig übrig lassen könnte.
Wir müssen dabei bedenken, dass die Praxis der letzten Jahrzehnte bis in die Gegenwart da zwar etwas toleranter gewesen ist, dass aber eben der Text des Grundgesetzes keineswegs sichert, dass es dabei bleibt. Die Frage muss immer lauten: welche schlimmste anzunehmende Praxis ließe sich mit dem Grundgesetz rechtfertigen? Wenn etwa Hendrik Streeck sich durch die Vorwürfe, die Heinrich Schmitz ihm in seiner letzten Kolumne gemacht hat, in seiner Ehre verletzt fühlte – und das ist ja durchaus denkbar –, könnte er sich dann nicht auf die im Artikel 5 festgesetzte Grenze der Meinungsfreiheit berufen? Im Moment ist das vielleicht noch nicht zu befürchten, aber verfassungsrechtlich zulässig wäre es.
Ebenso verhält es sich letztlich mit dem Schutz der Jugend, bei dem die Meinungs- und die Pressefreiheit angeblich ihre Grenzen finden würden. Es mag akzeptable Gründe geben, Jugendlichen den Zugang zu bestimmten Presseerzeugnissen zu verweigern, aber davon ist die Pressefreiheit selbst ja nicht betroffen: Die Herstellung und die Verbreitung des Presseerzeugnisses sind ja gestattet, sie sollen nur nicht in die Hände von Kindern gelangen, so wie auch Alkohol und Tabak. Eine gesonderte Erwähnung des Schutzes der Jugend als Grenze der Pressefreiheit kann nur als ein weiteres Türchen für die Beschränkung dieser Freiheit überhaupt verstanden werden. Denn schließlich muss man dabei nicht nur an Sex und andere Formen ungesunder Lebensführung denken. Vielleicht widerspricht es auch dem Schutz der Jugend, wenn man findet, dass der Klimawandel ertragbar gemacht werden kann, oder dass Terror ein allgemeines Lebensrisiko ist.
Dem jungen Bundesverfassungsgericht der 1950er Jahre ist es zu verdanken, dass es durch eine zwar komplizierte, und dem Laien kaum verständliche, Auslegung insbesondere des Begriffs des „allgemeinen Gesetzes“ wenigstens die Meinungsfreiheit gestärkt hat. Ob diese Stärkung heute, wo die Meinungs- und Pressefreiheit zunehmend unter Druck geraten, noch Bestand hat, muss man leider bezweifeln.
Presse- und Meinungsfreiheit unter Druck
Gern wird bestritten, dass die Meinungs- und die Pressefreiheit gegenwärtig unter Druck gerät, und auch Heinrich Schmitz scheint diese Gefahr nicht zu sehen. Man sagt dann gern, dass doch jeder (fast) alles sagen kann, ich zum Beispiel kann hier, ohne irgendwelche Sorgen haben zu müssen, schreiben und veröffentlichen, dass die Meinungsfreiheit unter Druck gerät. Aber kann ich es wirklich überall sagen und schreiben? Im Prinzip ja, ist da die korrekte Antwort. Ich muss mich allerdings entscheiden: Ich kann, mit anderen Kolumnisten, eine eigene Plattform aufbauen, die dann allerdings eine beschränkte Reichweite hat. Ich kann mir eine Plattform mit einiger Reichweite suchen, die allerdings von anderen als indiskutabel und radikal angesehen wird – und da beginnt schon das Problem: im öffentlichen Kampf um die Meinungsmacht werden einige Medien als außerhalb des Akzeptablen markiert, dort kann man dann zwar „alles sagen und schreiben“, aber für die, die man doch erreichen will, ist es irgendwie unanständig, da zuzuhören. Als drittes kann man versuchen, in die großen Medien der Mitte zu gelangen: da allerdings gibt es oft Redaktionen, die mit gutem Gewissen einen Konsens darüber bilden, wie viele Meinungsbeiträge außerhalb der Mitte ihrem Publikum zumutbar sind, und wann so eine Meinungsäußerung womöglich doch gegen ein „allgemeines Gesetz“ verstößt oder die Ehre von irgendwem verletzen könnte oder gar dem Schutz der Jugend widerspricht.
Absatz 2 des Artikel 5 muss gestrichen werden
Was hat das mit dem zuerst diskutieren Artikel 5 des Grundgesetzes zu tun? In ihm finden alle diese kleinen Bestrebungen der Ausgrenzung und der Verweigerung des Zuhörens, die abwertenden Urteile über die, die die Meinungs- und die Pressefreiheit unter Druck sehen, ihren Heimatboden. In ihm hat der Paragraph des Strafgesetzbuchs zur Beleidigung, Verleumdung oder üblen Nachrede von Politikern sein Fundament. Denn da steht ja: Diese Freiheiten sind begrenzt: Ehrverletzungen und allgemeine Gesetze beschränken sie. Da kann man stolz sagen, dass man diesen Störenfrieden doch schon mehr zubilligt, als man ihnen eigentlich gestatten müsste.
Und aus diesem Boden heraus wächst die Gefahr weiterer Einschränkungen. Um die zu bekämpfen, müsste der Artikel 5 des Grundgesetzes radikal gekürzt werden. Absatz 2 muss gestrichen werden. Es reicht, was Absatz 3 über die Lehre sagt: die Freiheit entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. Das ist eigentlich trivial. Und es genügt.
Anhang (Ergänzung am 21.11.2025)
Da als Reaktion auf diesen Text gefragt worden ist, wie die Situation in anderen Verfassungen demokratischer Länder ist, hier ein Überblick über drei naheliegende Nationen:
USA: Absolute Freiheit der Rede und der Presse im ersten Verfassungszusatz
Am weitesten entfernt von den Einschränkungen, die das Grundgesetz da formuliert, ist wohl die USA, die im First Amendment schlicht sagt:
Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.
Hier wird also jedes Gesetz ausdrücklich verboten, das die Freiheit der Rede oder der Presse einschränkt. Wer meint, man sähe die Gefährlichkeit einer solchen weiten Freiheit ja in der gegenwärtigen Entwicklung der USA, sollte bedenken, dass es den Ersten Verfassungszusatz seit 1791 gibt, die USA also lange gut damit gefahren sind.
Umfassende Einschränkungen entsprechend der EMRK im Vereinigten Königreich
Das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland hat kein eindeutiges Verfassungsdokument, sondern ein Paket von verfassungsrechtlich grundlegenden Dokumenten. Dazu gehört der Humans Rights Act von 1998, in dem die Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bestimmt wird.
Im Humans Rights Act im Artikel 10 finden sich umfassende Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit, sie sind wörtlich aus den sehr weit gehenden Einschränkungs-Möglichkeiten der EMRK übernommen.
The exercise of these freedoms, since it carries with it duties and responsibilities, may be subject to such formalities, conditions, restrictions or penalties as are prescribed by law and are necessary in a democratic society, in the interests of national security, territorial integrity or public safety, for the prevention of disorder or crime, for the protection of health or morals, for the protection of the reputation or rights of others, for preventing the disclosure of information received in confidence, or for maintaining the authority and impartiality of the judiciary.
Die Freiheit der Rede und der Presse können also aus Notwendigkeiten der demokratischen Gesellschaft, im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Integrität, der öffentlichen Sicherheit, zur Verhinderung von Unordnung und Kriminalität, den Schutz der Gesundheit und der Moral, den Schutz der Reputation anderer, der Geheimhaltung und der Wahrung der Autorität der Justiz eingeschränkt werden.
Eine solche Übernahme der europäischen Vorlage wäre natürlich nicht notwendig, sie gibt den Staaten ja nur Möglichkeiten und verpflichtet sie nicht auf diese Restriktionen. Ob sich diese Festlegungen in der Praxis im Vereinigten Königreich wiederfindet, kann ich nicht einschätzen.
Frankreich: Der Klassiker
Frankreich, das sich in seiner aktuellen Verfassung direkt auf die Erklärung der Menschenrechte von 1789 bezieht, in der es im Artikel 11 heißt:
Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte. Jeder Bürger kann also frei schreiben, reden und drucken unter Vorbehalt der Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen. (Offizielle Übersetzung der französischen Regierung)
Man müsste hier genauer darauf eingehen, was die Erklärung der Menschenrechte mit „das Gesetz“ meint, das ist dort auch recht genau aufgeführt, würde hier aber zu weit führen. Der wichtige Unterschied zum deutschen Grundgesetz ist aber, dass es in Frankreich eben eine Missbrauch geben muss, es ist also die Verwerflichkeit des Handelns, die geprüft werden muss, es ist nicht die (behauptete) Wirkung auf Ehre oder Moral anderer.
Eine Antwort von Heinrich Schmutz auf diesen Text findet man hier.
Weitere Überlegungen von mir, die sich daran anschließen , sind hier erschienen.
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