Strafbefehl: Gerechtigkeit im Schnelldurchlauf
Verurteilt ohne vor Gericht zu müssen? Hauptsache schnell. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz .

Das deutsche Strafrecht kennt viele Wege, Menschen zu bestrafen. Manche davon sind pompös, mit Roben, Gerichtssaal, Zeugenaufmarsch und einem Urteil, das mit Pathos im Namen des Volkes verkündet wird.
Und dann gibt es den Strafbefehl: leise, unspektakulär, fast schon schüchtern. Ein Schreiben vom Amtsgericht, ein paar nüchterne Zeilen, eine Summe X als Geldstrafe – und das war’s. Kein Zeuge, keine Verteidigungsrede, keine Tränen im Publikum. Der Strafbefehl ist das Instant-Menü der Strafjustiz: heißes Wasser drüber, umrühren, fertig.
Wie funktioniert das?
Der Strafbefehl ist in den §§ 407 ff. Strafprozessordnung geregelt. Er wird vom Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft erlassen, wenn die Sache einfach erscheint und eine Hauptverhandlung nicht nötig ist. „Einfach“ heißt: kein Mord, kein millionenschwerer Betrug, sondern eher die kleinen Sünden des Alltags. Klassiker: Schwarzfahren, Trunkenheit am Steuer, Beleidigung. Das Gericht entscheidet alleine nach Aktenlage. Die Akte erzählt, was passiert sein soll – und daraus bastelt die Staatsanwaltschaft den Strafbfehlsantrag, der dann vom Strafrichter erlassen wird..
Die Strafen sind typischerweise Geldstrafen, in seltenen Fällen auch Fahrverbote oder Freiheitsstrafen auf Bewährung. Komplexe Strafrahmen sind hier nicht vorgesehen, es geht um Übersichtlichkeit und Geschwindigkeit.
Die Vorteile – Justiz als Fließbandproduktion?
Vorteil Nummer eins ist die Effizienz. Gerichte und Staatsanwaltschaften sind notorisch überlastet.
An meinem ersten Tag als Referendar bei der Staatsanwaltschaft Bonn landete ich in der Verkehrsabteilung. Klingt unspektaklär und ist es auch in den meisten Fällen. Da ein Staatsanwalt krank war, setzte mein Ausbilder mich in dessen Büro und meinte, machen sie mal. Also machte ich, wie ich es gelernt hatte und war stolz wie Oskar, dass ich nach vier Stunden drei Anklagen geschrieben hatte. Der Ausbilder kam vorbei und meinte: „So wird das nichts. Greifen Sie mal links in die Schublade.“ Und da fand ich dann den Turbo für Staatsanwälte: vorbereitete Formulare für Strafbefehlsanträgeund Einstellungsverfügungen.
Damit ging das ratzfatz und am Abend hatte ich ca, 25 Akten erledigt. In der Folgezeit schaffte ich auch noch mehr. Wenn man eines in der Verkehrsabteilung lernt, dann ist das effektives Akten erledigen
.Mit dem Strafbefehl kann ein Richter in einer halben Stunde erledigen, wofür sonst eine mehrstündige Hauptverhandlung anberaumt würde. Für die Justiz ist der Strafbefehl also so etwas wie das Förderband in der Fabrik, viele kleine Fälle, schnell bearbeitet, damit das Lager nicht überquillt.
Vorteil Nummer zwei: Schonung für den Beschuldigten. Wer erwischt wird, wie er ohne Fahrschein fährt, möchte ungern vor Publikum im Gerichtssaal Rede und Antwort stehen. Der Strafbefehl erlaubt eine diskrete Abwicklung. Keine Schaulustigen, keine Presseberichte, kein öffentlicher Pranger. Der Beschuldigte zahlt, und die Sache ist erledigt.
Vorteil Nummer drei: Kalkulierbarkeit. Die Geldstrafe wird nach Tagessätzen berechnet, also nach Einkommen. Damit wird verhindert, dass der Millionär für die gleiche Tat weniger empfindet als der Student. Dabei wird das Einkommen in der Regel gar nicht konkret ermittelt, sondern pi mal Daumen angenommen. Da kann man richtig Glück haben. Wird es zu hoch angenommen, kann man den Einspruch ja auf die Höhe der Tagessätze beschränken. Geht auch schriftlich und flutscht. Auch der Verteidiger weiß schnell, was Sache ist.
Die Nachteile – Recht ohne Richtergesicht?
So charmant das alles klingt: Der Strafbefehl hat auch Schattenseiten. Er basiert allein auf den Akten der Staatsanwaltschaft. Zeugen werden vom Gericht nicht mehr gehört, der Beschuldigte nicht persönlich befragt. Das Risiko von Fehlentscheidungen steigt. Die Verteidigungsmöglichkeit liegt allein im Einspruch. Zwei Wochen Zeit – dann ist der Strafbefehl rechtskräftig. Wer den Brief nicht ernst nimmt, übersieht oder schlichtweg überfordert ist, hat Pech gehabt.
Und hier lauert eine Falle: Viele Betroffene wissen gar nicht, dass sie Einspruch einlegen können. Wer liest denn schon die Rechtsmittelbelehrung am Ende des Strafbefehls? Sie zahlen, weil sie glauben, der Staat habe schon recht. Manchmal akzeptieren sie eine Strafe sogar, obwohl sie unschuldig sind, schlicht weil sie keinen Prozess wollen. Das Recht auf Verteidigung wird damit in die Ecke der Bequemlichkeit gedrängt.
Hinzukommt, dass ein Strafbefehl kein „Bußgeldbescheid light“ ist, sondern eine echte strafrechtliche Verurteilung. Steht er im Raum, landet er im Führungszeugnis – mit allen Folgen für Job, Ansehen, Auslandsvisa. Wer „mal eben“ eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen akzeptiert, hat auf einmal ein Problem: über 90 Tagessätze hinaus gilt man als vorbestraft.
Der Strafbefehl im Spannungsfeld
Rechtsstaatlich ist der Strafbefehl ein zweischneidiges Schwert. Einerseits entlastet er die Gerichte und beschleunigt die Verfahren. Andererseits läuft er Gefahr, das Prinzip der mündlichen Verhandlung auszuhöhlen. Das deutsche Strafrecht basiert eigentlich auf dem Unmittelbarkeitsgrundsatz und dem Mündlichkeitsprinzip. Der Richter soll den Angeklagten sehen, die Zeugen hören, sich einen persönlichen Eindruck verschaffen. Beim Strafbefehl fällt all das weg.
Befürworter sagen: Besser ein schneller Strafbefehl als ein Verfahren, das sich über Jahre hinzieht. Kritiker entgegnen: Geschwindigkeit darf nicht wichtiger sein als Gerechtigkeit. Der Strafbefehl steht damit sinnbildlich für das Dilemma einer überlasteten Justiz: schnelle Lösungen auf Kosten von Substanz.
Ein Vergleich – Instantnudeln der Justiz
Man könnte sagen, der Strafbefehl ist wie ein Fertiggericht, eine Tütensuppe. Für den schnellen Hunger reicht es. Es spart Zeit, macht satt und verhindert, dass man verhungert. Aber wenn man nur noch Fertiggerichte isst, geht irgendwann die Substanz verloren. So ähnlich ist es auch mit der Strafjustiz: Wenn zu viele Fälle im Eilverfahren abgewickelt werden, wird die Öffentlichkeit des Verfahrens, das Ringen um Wahrheit, das Ritual der Gerechtigkeit zur Ausnahme.
Der Strafbefehl ist ein nützliches Instrument. Ohne ihn würde die Justiz noch schneller im Chaos versinken als sie es gerade ohnehin schon tut. Er ist pragmatisch, schnell, kostengünstig und schont alle Beteiligten. Aber er ist auch bequem – manchmal zu bequem. Wer ihn akzeptiert, entscheidet sich oft nicht für Wahrheit, sondern für Ruhe. Für das kleine Alltagsdelikt mag das genügen, für den Rechtsstaat als Ganzes bleibt ein fader Beigeschmack: Wird hier Recht gesprochen – oder nur die Aktenlage verwaltet und Akten weggeballert?
Vielleicht sollte man den Strafbefehl also nehmen wie eine Tiefkühlpizza: ab und zu praktisch, aber man sollte sich bewusst sein, dass er nicht die Haute Cuisine der Gerechtigkeit ist.
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