Recht, Gesetz und Gewissen

Aus einer Facebook-Diskussion entsteht manchmal eine wichtige Selbstvergewisserung. Eine Betrachtung von Heinrich Schmitz.

Demokratie/Diktatur Demokratie

 

Vor ein paar Tagen gab es eine Diskussion über Antifaschismus. Ich veriwes dabei darauf, dass das Grundgesetz zutiefst antifaschistisch sei. Im Rahmen dieser Debatte wurde auch die Rolle des Gewissens thematisiert. Ein Grund, sich noch einmal vertieft Gedanken über das Zusammenspiel von Recht, Gesetz und Gewissen zu machen.

Das Fundament

Die Begriffe Recht, Gesetz und Gewissen bilden das Fundament des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie sind zugleich Quellen von Harmonie wie auch von Konflikten. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, geschaffen als Antwort auf das komplette Scheitern des Rechts im Nationalsozialismus, ordnete diese drei Dimensionen neu und weist ihnen ein Verhältnis zu, das sowohl juristisch als auch philosophisch von hoher Bedeutung ist. Dabei werden nicht nur formale Rechtsnormen, sondern auch überpositive Prinzipien und die moralische Verantwortung des Einzelnen ausdrücklich anerkannt.

Recht und Gesetz – zwischen Positivismus und Naturrecht

Das Gesetz ist die positivrechtliche, vom Gesetzgeber geschaffene Norm. Es soll für Klarheit, Berechenbarkeit und Sicherheit sorgen. Das Recht hingegen ist ein umfassenderer Begriff: Es umfasst nicht nur positive Gesetze, sondern auch Prinzipien wie Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde. Nicht umsonst sind deutsche Richter an Recht und Gesetz gebunden.

Radbruchsche Formel

Die deutsche Rechtsgeschichte zeigt, dass eine rein positivistische Sichtweise gefährlich sein kann. Gustav Radbruch formulierte nach 1945 die berühmte Radbruchsche Formel: Positives Recht müsse selbst dann gelten, wenn es ungerecht sei – es sei denn, die Ungerechtigkeit erreicht ein unerträgliches Maß, oder die Gesetze verleugnen den Gleichheitsgrundsatz in radikaler Weise. Damit knüpfte er an eine naturrechtliche Tradition an, die schon Kant vertrat, wenn er das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ definierte.

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Das Grundgesetz nimmt diesen Gedanken auf, indem es in Art. 1 Abs. 1 GG die Menschenwürde absolut schützt und die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht formuliert. Gesetze dürfen also nicht willkürlich oder bloß formal sein, sondern müssen sich an Prinzipien der Gerechtigkeit messen lassen.

Das Gewissen – die innere Grenze des Rechts

Das Gewissen ist eine moralische Instanz im Inneren des Menschen. Es kann in Übereinstimmung mit dem Gesetz wirken, aber auch in Konflikt dazu geraten. Philosophisch lässt es sich als Ausdruck praktischer Vernunft verstehen (Kant), als „innere Stimme“, die uns unabhängig von äußeren Normen zu moralischem Handeln verpflichtet.

Das Grundgesetz erkennt diesem Gewissen einen hohen Rang zu. Besonders deutlich wird das in Art. 4 Abs. 1 GG:

Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

Damit wird nicht nur Religionsfreiheit garantiert, sondern auch ausdrücklich die Gewissensfreiheit geschützt. Ein prominentes Beispiel ist das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, das Deutschland zu einem der ersten Staaten machte, in dem dieses Recht verfassungsrechtlich verankert wurde.

Das Gewissen ist somit nicht nur eine private Kategorie, sondern ein rechtlich geschütztes Gut. Es stellt einen Gegenpol zum staatlichen Machtanspruch dar und schützt das Individuum davor, zum bloßen Objekt von Gesetzen degradiert zu werden.

Spannung zwischen Gesetz und Gewissen

Hier offenbart sich  allerdings einDilemma: Einerseits verlangt ein funktionierender Rechtsstaat Gesetzestreue. Ohne die Verbindlichkeit des Rechts würde Ordnung zerfallen. Andererseits können auch Gesetze Unrecht verkörpern – wie im NS-Staat, wo „Gesetze“ der Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung dienten.

Das Grundgesetz zieht aus dieser Erfahrung Konsequenzen:

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Die Grundrechte (Art. 1–19 GG) binden Gesetzgeber, Exekutive und Judikative unmittelbar.

Das Bundesverfassungsgericht ist als Hüter der Verfassung eingerichtet, um Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten zu prüfen.

Das Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG) schützt Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen eine Abschaffung der verfassungsmäßigen Ordnung wehren – eine Art institutionalisierte Gewissensentscheidung gegenüber tyrannischer Herrschaft.

So wird das Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Gewissen zwar nicht aufgelöst, jedoch in eine rechtsstaatliche Form überführt.

Eine Trias der Verantwortung

Das Grundgesetz schafft eine Balance:

Das Gesetz bietet verbindliche, demokratisch legitimierte Regeln.

Das Recht verankert diese Regeln in Prinzipien wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit.

Das Gewissen aber schützt die moralische Eigenverantwortung des Individuums und mahnt zur Korrektur, wenn staatliches Recht in Unrecht umzuschlagen droht.

Damit ist dieses Verhältnis nicht statisch, sondern vielmehr dynamisch. Gesetzestreue bedeutet eben nicht blinden Gehorsam, sondern Treue zu einer Rechtsordnung, die sich an Grundrechten und moralischen Prinzipien orientiert. Das Gewissen ist kein Freibrief zur beliebigen Gesetzesverletzung, sondern ein hohes Gut, das in besonderen Situationen Korrektiv und moralische Grenze zugleich bildet.

Recht, Gesetz und Gewissen bilden im Grundgesetz ein Spannungsfeld, das zugleich die Grundlage der freiheitlich-demokratischen Ordnung ist. Während das Gesetz für Klarheit und Ordnung sorgt, verweist das Recht auf die Idee der Gerechtigkeit und die Orientierung an überpositiven Werten. Das Gewissen schließlich erinnert daran, dass der Mensch nicht nur Untertan der Gesetze, sondern auch moralisch verantwortliches Subjekt ist.

In dieser Verbindung spiegelt sich die Lehre aus der deutschen Geschichte: Nie wieder darf ein bloß formal gesetztes Recht die Menschenwürde verletzen. Der demokratische Rechtsstaat bleibt deshalb auf die ständige Wechselwirkung von Recht, Gesetz und Gewissen angewiesen – zur Sicherung der Freiheit und der Humanität.

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