Jetzt bin ich der Tod geworden

Henning Hirsch hat sich zwischen den Jahren den Sommer-Publikumsrenner „Oppenheimer“ angeschaut und findet, dass der Film genremäßig eher in die Kategorie „(sprödes) Biopic“ als „großes Erzählkino“ gehört. Die Jahresende-Blockbuster-Kolumne.

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Es gibt Filme, die muss man im Kino gesehen haben. Wegen Szenen, die nur auf großer Leinwand und in Dolby Surround ihre volle Wirkung entfalten. Das Wagenrennen in „Ben Hur“, die Landung der Alliierten an Omaha Beach in „Der Soldat James Ryan“ und die „Kill Bill“-Schwertkampfduelle gehören in diese Kategorie. Das Finale von „Casablanca“ und manchen James Bond genießt man ebenfalls intensiver im lokalen Cinedom als zu Hause bei Chips & Erdnussflips. Oppenheimer – auch wenn der im vergangenen Sommer gemeinsam mit „Barbie“ das Kino gerettet haben soll – passt nicht unbedingt in diese Rubrik; den kann man sich getrost im eigenen Wohnzimmer auf dem Sofa anschauen, was ich an den Tagen zwischen Weihnachten und Silvester getan habe.

Die Geschichte im Schnelldurchlauf

Prägende Begegnung mit Werner Heisenberg und Professur in Berkeley
Der junge Amerikaner Julius Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) studiert Physik im Cambridge, zeigt jedoch wenig Begeisterung für die Art und Weise, wie dieses Fach an der englischen Eliteuniversität gelehrt wird. Auf Anraten des Nobelpreisträgers Niels Bohr (Kenneth Branagh), der dort einen Gastvortrag hält, packt Oppenheimer kurzentschlossen seine Sachen und reist nach Deutschland, wo er sich in Göttingen, am Institut von Max Born, für theoretische Physik einschreibt. Er begegnet Werner Heisenberg (Matthias Schweighöfer) – seinem späteren Konkurrenten beim Wettlauf um die erste Atombombe – und genießt spürbar den Austausch unter Gleichgesinnten. Speziell die erst vor einigen Jahren aus der Taufe gehobene Teildisziplin „Quantenmechanik“ fasziniert ihn. Zurück in den USA wird er Assistenzprofessor in Berkeley und veröffentlicht zahlreiche bahnbrechende Schriften zu Fragen der Atomstruktur sowie einige astrophysikalische Untersuchungen über den Kollaps schwerer Sterne (= schwarze Löcher). Mitte der 30-er Jahre ist Oppenheimer wissenschaftlich etabliert, erhält einen ordentlichen Lehrstuhl und gründet auf eigene Kosten ein Institut für theoretische Physik.

In dieser Zeit heiratet Oppenheimer die Biologin Katherine/“Kitty“ Puening (Emily Blunt), wird Vater von 2 Kindern und pflegt gleichzeitig eine Beziehung zur jungen Psychiaterin Jean Tatlock (Florence Pugh), die Mitglied der kommunistischen Partei ist. Da er Sympathien für die Gewerkschaftsbewegung hegt, besucht er hin und wieder Parteiveranstaltungen und spendet dort Geld für den spanisch-republikanischen Widerstand gegen Francos Faschisten. Das FBI wird auf ihn aufmerksam und legt eine Akte an.

Wettrennen um die erste Atombombe
Anfang des Zweiten Weltkriegs wächst bei der amerikanischen Regierung die Sorge, das nationalsozialistische Deutschland könnte als erste Nation eine Atombombe bauen. Um dieser Bedrohung zuvorzukommen, wird mit dem Manhattan-Projekt die Entwicklung einer amerikanischen Nuklearwaffe forciert. 1942 – die USA waren nach Pearl Harbour ebenfalls Kriegspartei geworden – wird Oppenheimer die wissenschaftliche Leitung angetragen. Er verlegt das Projekt in die Wüste von New Mexico, wo in Los Alamos in Windeseile eine von der Außenwelt abgeschirmte Forschungseinrichtung entsteht, die nach kurzer Zeit bereits 3000 Menschen beherbergt. Oppenheimer gelingt es, die besten naturwissenschaftlichen Köpfe des Landes in die Wild-West-Hochplateau-Abgeschiedenheit zu locken.

Nach zwei Jahren intensiver Forschung kommt es im Sommer 45 zum praktischen Feldversuch: Am frühen Morgen des 16. Juli wird eine kleinere A-Bombe („The Gadget“) unter dem Codenamen Trinity (Dreifaltigkeit) in der Wüste gezündet. Der Test verläuft erfolgreich.

Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten, …

… diesen Vers soll Oppenheimer (angeblich) sofort danach aus dem indischen Gedicht Bhagavad Gita rezitiert haben. 3 Wochen später machen Little Boy (Hiroshima) und Fat Man (Nagasaki) 2 japanische Städte binnen weniger Minuten dem Erdboden gleich. Das Kaiserreich kapituliert bedingungslos am 15. August.

Vom Macher zum Warner
Oppenheimer ist der Mann der Stunde, sein Gesicht prangt auf dem Cover des Time-Magazins, er erhält zahlreiche Auszeichnungen, wechselt von Berkeley nach Princeton, übernimmt den Vorsitz des Beratungskomitees der amerikanischen Atomenergiebehörde (AEC), setzt sich für Rüstungskontrolle ein und rät vom Bau der Wasserstoffbombe ab. Daraus entwickelt sich ein Konflikt mit dem Vorsitzenden der AEC, Lewis Strauss (Robert Downey jr.). Ende 1953 erfährt Oppenheimer, dass seine Sicherheitsfreigabe erneuert werden muss. Im April 54 findet in Washington eine Anhörung hinter verschlossener Tür statt, die einem Tribunal gleicht. Oppenheimer wird beschuldigt, seit seiner Studentenzeit in Europa offene Sympathien für den Kommunismus zu zeigen und eventuell sogar geheime Informationen an die Sowjetunion weitergegeben zu haben. Außerdem wirft man ihm vor, sich gegen die Entwicklung der Wasserstoffbombe positioniert zu haben, womit er seine Aufgabe als nuklearer Vordenker & Patriot nicht erfülle. Weggefährten aus Berkeley und Los Alamos werden als Zeugen befragt und zeichnen ein vielschichtiges Bild ihres früheren Chefs. Das Votum, das die 3-köpfige Jury nach 6 Wochen und zahlreichen Verhandlungstagen fällt, lautet 2 zu 1 gegen die Erneuerung der Freigabe, was in der Konsequenz den Ausschluss aus geheimen Regierungsprojekten und damit eine massive Reduzierung der politischen Einflussnahme des „Vaters der Atombombe“ bedeutet. Oppenheimer kehrt als gefallener Held nach Princeton zurück. An dieser Stelle endet der Film und ich lege spontan „Enola Gay“ auf den Plattenteller.

Spannendes Drama oder spröde Doku?

Die Kritik war des Lobes übervoll für Christopher Nolans jüngstes Werk, sprach von:

Ein grandioser Film über das moralische Dilemma eines Mannes, der die Welt verändert hat.
© Anna Wollmer im NDR

und:

Das neue Werk von Christopher Nolan erfüllt nicht nur alle Fan-Erwartungen, sondern übertrifft diese mit Cast und Filmmusik noch.
© Maike Karr in film.at

oder:

Mit seiner Bild- und Tongewalt zieht Christopher Nolan das Publikum von der ersten Minute an in die eindrucksvolle Welt der Physik – manchmal ruhig, still und leise, manchmal aber auch brachial und ungestüm.
© Anne Nauditt, in: kino.de

Mich hingegen lässt „Oppenheimer“ mit einem zwiespältigen Gefühl zurück. Ja, es ist „großes Kino“, wenn man die Star-Besetzung betrachtet. Es war zudem aufschlussreich, etwas mehr über das Leben des Vaters der Atombombe zu erfahren als das, was man gemeinhin aus Schulbüchern und Zeitungsartikeln – die zumeist am Jahrestag des Abwurfs auf Hiroshima publiziert werden – eh schon weiß. Die Handlung wird aber zu keinem Zeitpunkt spannend oder gar unterhaltsam. Ich war streckenweise unsicher, ob ich ein Drama oder eine Doku präsentiert bekomme. „Oppenheimer“ bleibt weitgehend blutleer, bar jeglicher emotionaler Tiefe, es fehlen dramatische Wendungen und Schicksalsschläge. Die Handlung, die 3 Stunden lang vor den Augen des Zuschauers abgespult wird, kommt naturwissenschaftlich-nüchtern daher, ähnelt mehr einer Biografie als einer (Helden-) Erzählung. Natürlich steht der Name Nolan für kühle Geschichten – z.B. „Inception“ –; jedoch flog selbst in „Interstellar“ und „The dark knight“ ein Hauch von Romanze durch den Kinosaal, sahen wir Protagonisten, die zwischendurch an ihrem Handeln zweifelten oder gar kurz vor dem Scheitern standen und erst zum Finale hin den Turnaround schafften. Das, was halt Suspense ausmacht. In „Oppenheimer“ herrscht jedoch von all diesen bewährten (Märchen-) Zugaben völlige Fehlanzeige. Der Held ist von Minute 1 an komplett, es gibt kein allmähliches Reifen, keine Brüche, keinerlei Sich-selbst-in-Frage-stellen – Oppenheimer war von Geburt an dazu bestimmt, der Vater der Atombombe zu werden, und er zieht seine Prädestination frei von jeglichen Skrupeln bis zum „Tag des jüngsten Gerichts“ in Nagasaki entschlossen durch.

Wo sind die inneren Dämonen des Bombenbauers?

Wo sind die großen Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Zurverfügungstellung der nuklearen Höllenkraft für die militärische Nutzung stellen? Wer, außer ein paar kurz eingeblendeten Physiker-Kollegen aus Chicago – warnt vor dem möglichen Weltenbrand? Hatte in Los Alamos niemand Angst davor, den Planeten in die Luft zu jagen? Gab’s keine schlaflosen Nächte deswegen im Hause Oppenheimer? Unterhalten sich Physiker abends nach getaner Arbeit nicht über die möglichen Konsequenzen ihres Tuns? Ist der Naturwissenschaftler weniger verantwortlich für Hiroshima als der Pilot, der die Bombe zum Zielort transportiert oder der Präsident, der den Einsatz befiehlt? Eine der verstörendsten Sequenzen im Film ist diejenige, als Oppenheimer seiner Crew vom gelungenen Abwurf in Japan berichtet, und die Mitarbeiter begeistert von ihren Stühlen aufspringen und jubeln. Welcher Teufel treibt uns an, die Zerstörung zweier Städte mit tosendem Applaus zu quittieren? Sieg über den Gegner hin oder her. Hier blicken wir kurz in die Abgründe des menschlichen Herzens.

Wenn wir jetzt mal unterstellen, es gibt 2 Oppenheimers: den bis August 45 und den danach [wird im Film durch unterschiedliche Farbgebung visualisiert = „alt“ in Technicolor, „neu“ in Schwarz-weiß], so bleibt auch der vom Atombomben-Bauer zum Rüstungskontrolle-Befürworter gewandelte Held blass. An keiner Stelle werden wir Zeuge seiner inneren Kämpfe, er führt keine Streitgespräche mit Kollegen oder Freunden, die ihn zum Umdenken animieren, er zeigt von Anfang bis Ende keinerlei Gefühlsregungen [von ein paar Tränen, die er vergießt, als er vom Suizid seiner Geliebten erfährt, mal abgesehen]; er ist, was seine Emotionen betrifft, genauso mathematisch-kontrolliert wie die Formeln, die er mit Kreide auf die Institutstafel kritzelt. Wo bleiben die Wutausbrüche, als er beim inszenierten Tribunal im April 1953 mit konstruierten Vorwürfen konfrontiert wird? Er lässt das alles ohne Gegenwehr einfach über sich ergehen? Richtig erfrischend war da die kleine Szene, in der Ehefrau Kitty ihrem Mann beim Abendessen vorwirft, keine Eier zu haben, die sich schnellstmöglich wachsen zu lassen und vor der Jury zu präsentieren, um aus der Opferposition rauszukommen, was allerdings nicht den gewünschten Effekt beim Gatten bewirkt. Er verharrt stattdessen weiterhin passiv in der Rolle des neutralen Beobachters, der ab und an mit leiser Stimme die an ihn gerichteten Fragen beantwortet, sodass der Urteilsspruch am Ende nicht überrascht.

Ins Schwarze trifft deshalb vermutlich erneut Kitty, als sie zum „gefallen“ nach Princeton heimkehrenden Robert sagt: „Du willst dich selbst bestrafen und leiden, um die Schuld, die du auf dich geladen hast, zu sühnen.“ [oder so ähnlich. Habe den Dialog nicht mit-stenografiert, sondern gebe ihn 3 Tage später aus dem Gedächtnis wieder, das bei Männern in meinem Alter leider nicht mehr das allerbeste ist]. Reicht das aus, um keine Albträume mehr zu haben oder gar mit Prometheus verglichen zu werden [wie es zu Beginn der Geschichte suggeriert wird]? Meine Antworten lauten: Ob Oppenheimer überhaupt je von nächtlichen Dämonen befallen wurde, weiß ich nicht und: nicht alles, was hinkt, ist auch ein zutreffender Vergleich. Die jahrhundertelange Qual des Titanen-Sprösslings, festgekettet an eine Felswand im Kaukasus, ist nun wirklich eine andere Hausnummer als der sich in die kuschelige Studierstube zurückziehende Atombomben-Vater.

Zwischenfazit an dieser Stelle: „Oppenheimer“ ist groß, was die Besetzung angeht, bleibt aber durchgängig kühl bei den Charakteren und lässt streckenweise sogar den Eindruck von Langatmigkeit entstehen.

2 Änderungsvorschläge

Jetzt haben Sie wie immer viel gemeckert, Herr Kolumnist; was würden Sie anders machen, wenn Sie der Drehbuchautor wären? Lassen Sie mal hören, meinen Sie? Jap, Sie haben völlig recht – wer kritisiert, sollte auch Verbesserungsvorschläge auf den Tisch legen. Ich versuch’s.

Vorschlag 1 = unnötiger Ballast über Bord
„Oppenheimer“ deckt eine Lebensspanne von rund 30 Jahren ab: vom Studium in Cambridge & Göttingen, über die Professur in Berkeley, die 24 Monate in Los Alamos bis hin zur Anhörung vor dem Ausschuss in Washington. Erzählt wird überwiegend linear, eingeflochten sind hin und wieder Rückblenden und zeitliche Sprünge nach vorne; das letzte Drittel ist den Wochen der falschen Anschuldigungen und der flügellahmen Verteidigung gewidmet. Das zieht sich SEHR. Hier wäre weniger – iSv. von Verkürzung der erzählten Zeit – durchaus mehr gewesen. Um den geläuterten Physiker darzustellen [und dessen Wandlung stellt ja das eigentlich Interessante an der Geschichte dar], benötigt man keinen 2-stündigen Vorlauf, da hätten ein paar knackige Sequenzen aus dem Hörsaal und vom Testgelände in der Wüste völlig gereicht. Und im Folgenden Konzentration auf den mit sich selbst ringenden Physiker und das Kreuzverhör, dem er sich im Frühjahr 54 stellen muss. Unterfüttert mit den Fragen: Wie weit kann Wissenschaft gehen? Darf man alles entwickeln und zur Serienreife bringen, was technisch möglich ist? Wann muss ein Erfinder „Stopp!“ rufen und sein „Baby“ leise entsorgen? Oder aber andersherum: Sorgen Nuklearwaffen eventuell für (dauerhaften) (kalten) Frieden, weil die Atomstaaten sie zwar (massenhaft) produzieren, jedoch vor ihrer Anwendung zurückschrecken, weil jedem klar ist, dass dann alle sterben? Um für die gesamte Welt begreiflich zu machen, welch furchtbare Auswirkungen der neue Sprengkörper mit sich bringt, benötigte man im August 45 aber erst mal die Demonstration seiner Explosionskraft. Seitdem herrscht Ruhe, zumindest bezogen auf direkte Auseinandersetzungen zwischen den Supermächten [ja ja, ich weiß: die führen stattdessen in Afrika und Asien Stellvertreterkriege]. Aber immerhin für Westeuropa läutete der amerikanische Atomraketen-Schutzschild nach 1945 eine bis heute anhaltende Epoche des Friedens ein.

War der Abwurf zu diesem späten Zeitpunkt des Krieges – die Japaner hatten 4 Monate zuvor bereits ihren letzten vor Kyushu gelegenen Stützpunkt Iwojima geräumt – überhaupt zwingend notwendig? Die Abwehrkraft des Kaiserreichs war nahezu erschöpft. Die Amerikaner hätten Tokio binnen weniger Wochen auch ohne Zuhilfenahme von Little Boy & Fat Man eingekesselt; allerdings drohten große Menschenverluste, um dieses Ziel zu erreichen. Die blutige letzte Schlacht gegen Nazi-Deutschland im Hürtgenwald, die der U.S. Army einen enormen Aderlass beschert hatte, lag erst ein halbes Jahr zurück. Eingedenk dieser Tatsache, und um auf Nummer sicher zu gehen, entschloss sich Truman schließlich für das nukleare Fanal. Von 2 schlechten Möglichkeiten die aus seiner Sicht weniger schlechte wählen. All diese Aspekte hätten deutlicher herausgearbeitet gehört in „Oppenheimer“. Speziell aus dem Mund des Protagonisten würde man gerne solche Fragen vernehmen. Der redet zwar viel, Tiefschürfendes ist jedoch selten darunter. So manifestiert sich am Schluss der Eindruck, dass sich der Vater der Bombe v.a. als Opfer von politischen Intrigen, und nicht als Täter oder gar Massenmörder sieht. Er leidet stoisch wie sein Vorbild Prometheus; bloß hatte der den Menschen das (Lager-) Feuer, und nicht Hiroshima, zum Geschenk gemacht.

Vorschlag 2 = mehr Gefühle zulassen
Eine tragische Liebesgeschichte einflechten = Das Dreieck Robert-Kitty-Jean als zweiten Schwerpunkt der Erzählung präsentieren. Die Ingredienzien – wenig Wärme verströmende & auf den beruflichen Erfolg des Mannes fokussierte Ehefrau, gefühlvolle & emotional instabile Geliebte mit ausgeprägtem Hang zu sozialistischer Utopie, den Gesetzen der Physik verhafteter Wissenschaftler & Weiberheld, der gerne beides, familiäre Stabilität & sexuelles Abenteuer, miteinander vereinen möchte und Suizid 1 Beteiligten als letzter Ausweg aus dem Dilemma – lagen ja alle parat; man hätte als Autor bloß beherzt zugreifen müssen. Stattdessen beschränkt sich der Film auf kleine und lauwarme amouröse Sequenzen, als ob man Angst vor der puritanischen US-Zensur gehabt hat. Als sich sich Robert und Jamie nach ungefähr 90 Minuten Handlung nackt in einem Hotelzimmer gegenübersitzen, hoffte ich kurz auf Besserung iSv. mehr Sex & Emotion; 2 Minuten später war Fräulein Tatlock jedoch praktischerweise tot und der Regisseur von weiteren Liebesszenen befreit.

Für das Gütesiegel „Meisterwerk“ reicht es nicht

Was bleibt bei mir als Zuschauer haften? Ich kenne jetzt den beruflichen Werdegang von J. Robert Oppenheimer, weiß, dass er als junger Dozent lockere Sympathien für den Sozialismus zeigte, habe erfahren, dass es neben Ehefrau Katherine zeitweilig noch eine Geliebte gab, erlebe ihn als genialen Organisator des Manhattan-Projekts und sehe ihn 10 Jahre danach als stoischen Dulder auf der Anklagebank. 3 Jahrzehnte Leben in 3 Stunden nacherzählt [80 Prozent davon kannte ich (leider) schon], ohne ein bisschen was Spannendes dazu zu dichten. So als ob sich Autor und Regisseur [in diesem Fall ist das Nolan in Personalunion] sklavisch an die Oppenheimer-Biografie gehalten und alles darangesetzt haben, bloß keine historischen Fehler zu begehen.

Das kann man machen, wenn man die Geschichte mit dem Label „Biopic“ versieht. Das, was eine gute Erzählung ausmacht – nämlich die Heldenreise mit ihren kaum zu überwindenden Hindernissen, eine überraschende Wendung im letzten Drittel garniert mit einer ordentlichen Portion Liebe (egal, ob die in der Schlussminute happy oder tragisch endet) –, fehlt komplett in „Oppenheimer“. Es ist von allen kühlen Werken Nolans das bisher kälteste. Selbst Emily Blunt – sonst eine sichere Garantin für emotionalen Tiefgang – kann die überwiegend langatmig erzählte Story nicht retten. Kategorie = solide gemacht (aber weit entfernt von faszinierend). Das ist definitiv zu wenig, um das Prädikat „großes Kino“ verliehen zu bekommen.

Von mir gibt’s deshalb auch nur magere 5 Punkte.

Rubrik: schade.
+++

Oppenheimer
 Erscheinungsjahr: (Sommer) 2023
 Länge: 180 Minuten
 Regie: Christopher Nolan
 Drehbuch: Christopher Nolan
 Vertrieb: Universal Pictures
 Besetzung: Cillian Murphy, Emily Blunt, Matt Damon, Robert Downey jr., Florence Pugh, Josh Hartnett, Casey Affleck, Rami Malek, Kenneth Branagh, Jason Clarke, Dane DeHaan, Gary Oldman, Matthias Schweighöfer.

Erhältlich u.a. bei Amazon Prime.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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