Das Problem der Nationalstaaten in Europa

Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen, sind eine relativ junge Erfindung auch wenn die Gegenwartsfixierung jeder politischen Debatte und die alltäglichen historischen Deutungen den Eindruck erwecken, dass es die paar dutzend europäischen Nationen und ihrer mehr oder weniger klar begrenzten und verteidigten Siedlungsgebiete schon seit Jahrtausenden gäbe.


Erst Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich das Paradigma der Nation, die einen Staat mit klarem Territorium bewohnt, durchzusetzen. Verbunden war die Festigung dieser Staaten sogleich mit großen Kriegen, die sie gegeneinander führten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kamen allerdings die politischen Eliten, die ihre Machtoptionen inzwischen nationalstaatlich klar definieren konnten, auf die Idee, eine Vernetzung von Nationalstaaten zur Basis einer dauerhaften Friedensordnung zu machen. Wirtschaftliche und militärische Bündnisse sollten sichern, dass Nationalstaaten sich nicht mehr gegenseitig den Krieg erklären, zugleich sollte das Prinzip der Souveränität des Nationalstaats und der so genannten Unverletzlichkeit der Grenzen jeder nationalen politischen Elite zusichern, dass sie sich auf ihrem jeweiligen Staatsgebiet weitgehend ungestört einrichten und entfalten konnte. Die Nichteinmischung in die so genannten inneren Angelegenheiten wurde zur moralischen Norm, ebenso wie die politische und moralische Verurteilung jeder Separationsbestrebung, jede Bewegung, die die für sakrosankt erklärten Grenzziehungen und Zugehörigkeiten in Frage stellte. Alle politischen Bestrebungen, die darauf hinauslaufen könnten, einen Nationalstaat in seinen aktuellen Grenzen zu gefährden, werden inzwischen nahezu reflexartig von den Kräften der jeweiligen politischen Mitte, aber auch von weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit abgewiesen.

Kein sakrosankter Wert an sich

Der Nationalstaat ist allerdings keineswegs an und für sich schon ein moralischer Wert, dessen Existenz in der gerade aktuellen Form fraglos hingenommen werden muss. Die Vermutung, dass eine politische Organisation in Nationalstaaten, die wiederum in ein relativ überschaubares, in Europa etwa ein paar Dutzend Mitglieder umfassendes, Wirtschafts- oder Militärbündnis eingebunden sind, Garant für eine dauerhafte Friedensordnung, Demokratie und Wohlstand ist, ist fragwürdig. Das zeigen vor allem die immer wieder aufflammenden Konflikte zwischen nationalen oder ethnischen Minderheiten bzw. zwischen Minderheiten und der von einer anderen ethnischen Gruppe dominierten politischen Macht innerhalb des Staates. Der Konflikt um Nordirland, die Separationsbestrebungen in Schottland, die Autonomiebestrebungen in Katalonien aber auch die Konflikte zwischen den nationalstaatlichen Mehrheiten und den russischen Minderheiten in ehemaligen Sowjetrepubliken zeigen das Konfliktpotential bis hin zum Terror und bewaffneten Aufstand, den das Nationalstaatsparadigma birgt. Der russische Krieg gegen die Ukraine zeigt auch, dass sich solche Konflikte von imperialen Großmachtbestrebungen für Kriege gegen andere Nationalstaaten nutzen lassen.

Angesichts der etablierten politischen Ordnung in Europa fehlt es uns weitgehend an Phantasie, um Alternativkonzepte auf ihre Tragfähigkeit und politische Stabilität hin prüfen zu können. Jede Konfliktlösung zwischen Gruppen innerhalb eines Staates scheint auf den Zerfall dieses Staates in kleinere Einheiten hinauszulaufen. Zur Existenz von ein paar Dutzend stabilen, in ihren Grenzen und Zuständigkeiten unhinterfragten Staaten, die in der EU und der NATO nach bewährten Prinzipien eingebunden sind, scheint es keine plausible Alternative zu geben. Niemand möchte sich eine EU vorstellen, die am Ende vielleicht statt aus knapp dreißig Staaten aus 100 oder 200 Regionen besteht. Zudem sind die aktuellen und auch die denkbaren Bestrebungen zu Eigenständigkeit und Autonomie von ethnischen Gruppen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Deutschland und Frankreich würden wohl bis auf weiteres so erhalten bleiben, wie sie heute sind – und sie sind heute schon die politischen, militärischen und ökonomischen Schwergewichte in Europa. Auch eine Handvoll anderer Nationen blieben wohl bis auf weiteres weitgehend unversehrt. Jeder Staat, der Autonomie- und Separationsbestrebungen nachgäbe, verlöre gegen diese großen stabilen Gebilde an Macht und Einfluss. Ob das für die Menschen und ihren wirtschaftlichen und persönlichen Alltag ein Problem wäre, kann dahin gestellt bleiben, weil diese Argumente ausreichen dürften, um den Widerstand der politischen Akteure gegen eine Tendenz, die sie als Zerfall und Kleinstaatlichkeit verachten würden, hervorzurufen. Dieser Widerstand wiederum macht es fast aussichtslos, sich vorzustellen, dass die Chancen von mehr Autonomie für Gebiete oder Gruppen in Nationalstaaten oder gar transnational ernsthaft zur Option werden.

Autonom und transnational

Dennoch scheinen die Probleme, die das Nationalstaatsprinzip hervorbringt oder verstärkt, groß genug, um über vorsichtige Schritte in Richtung einer Entschärfung dieses Paradigmas nachzudenken. Zwei Wege, die bereits zu Teilen erprobt sind, scheinen gangbar zu sein: Autonomisierung und transnationale Regionalisierung von ökonomischer, alltäglicher und politischer Organisation und Verantwortung. Autonomisierung ist etwas, was etwa in Deutschland unter dem Begriff Subsidiaritätsprinzip sogar im Grundgesetz verankert ist. Interessanterweise hat es allerdings gerade in Deutschland keinen besonders guten Ruf. In der politischen Öffentlichkeit wird es oft als „Flickenteppich“ diffamiert, dabei ist es ein Grundsatz, der es ermöglicht, dass konkrete Herausforderungen nicht weit weg in einer politischen Zentrale, sondern vor Ort unter Berücksichtigung der regionalen und kulturellen Besonderheiten und Möglichkeiten angegangen werden können.

Autonomisierung ist allerdings nicht nur eine Option, die sich an der physischen Geographie orientiert. Sie würde auch gestatten, dass sich Bevölkerunsgruppen nach gewissen Zugehörigkeiten auf dem gleichen Gebiet autonom organisieren. Auch das ist nicht so unerprobt, wie man meinen mag, wenn man sogleich an ethnische Gruppen denkt. Auch die Tarifautonomie in der Wirtschaft ist eine Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips.

Regionen oder regionale Bevölkerungsgruppen mit mehr Autonomie auszustatten, das bedeutet natürlich auch, ihnen Entscheidungsspielräume und Ressourcen zu übertragen, die bisher vom nationalstaatlichen Institutionen verwaltet und zugeteilt werden. Gewisse Erfahrungen gibt es damit bereits an verschiedenen Stellen, man denke an die Kirchensteuer und bereits bestehende Minderheitenrechte. Es käme in dieser Frage nur darauf an, diese Einzellösungen nicht mehr als unerfreuliche und eigentlich überholte Störungen des Idealbetriebs des Nationalstaats zu verstehen, sondern als Paradigmen und Vorbilder überall dort zu prüfen, wo Probleme und Konflikte bereits unübersehbar sind.

Transnationale Regionalisierung geht nun noch einen Schritt weiter – es bedeutet, dass sich autonome Netzwerke von Gebieten oder Bevölkerungsgruppen in Regionen bilden, die sich als gewisse Einheit verstehen, aber von nationalen Grenzen zerschnitten werden. Solche Regionen werden sich oft an ethnischen Zugehörigkeiten orientieren, können aber auch durch kulturelle, landschaftliche und wirtschaftliche Zusammengehörigkeit bestimmt werden. Sie können der Identifikation von Menschen mit einer Region, dem kulturen Austausch und der Stabilität sozialer Beziehungen dienen. Die Vernetzung der Regionen mit den jeweiligen Nationalstaaten kann zur friedlichen Konfliktlösung zwischen politischen Gegnern beitragen.

Transnationale autonome Regionen, das dürfte gegenwärtig das Schreckgespenst für alle politischen Akteure sein, die sich im Nationalstaatsdenken eingerichtet haben und Alternativen nicht denken wollen und können. Es ist eine Utopie, auch wenn es Ansätze und erste Formen davon schon gibt, wie etwa bestimmte Grenzregionen zwischen Deutschland und den Niederlanden – natürlich bisher nicht mit starker politischer Autonomie. Allerdings könnten gerade in Krisenregionen wie auch in Gegenden mit starken Autonomiebestrebungen, die sich auch dadurch definieren, eine transnationale Bevölkerungsgruppe zu einen, der Ansatz von transnationalen Autonomiegebieten friedliche und stabile Perspektiven eröffnen. Am Ende könnte der Nationalstaat womöglich nur ein politisches Organisationsprinzip unter mehreren in einem dichten friedenssichernden Netz sein. Er ist eine junge Erfindung, und er ist vermutlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Europa sollte sich auf den Weg einer stärkeren Regionalisierung politischer Entscheidungen machen – und könnte am Ende Vorbild für andere Weltgegenden sein, in denen ethnische Siedlungsgebiete von Staatsgrenzen geteilt sind und die als Ort unauflösbarer Konflikte bekannt sind.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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