Von Nachbarn und anderen Menschen
Über Umzüge, Beziehungen, Nachbarschaft und die Flutkatastrophe. Eine Kolumne von Uwe Fischer
Luftveränderung
Wenn man aus einer dahinsiechenden 500.000 Einwohner zählenden Stadt im Ruhrgebiet in ein Kaff mitten in den Wäldern der Eifel zieht, dann ist das schon eine gravierende Veränderung. 170 Einwohner – da treffen sich an der Tanke in Duisburg – Marxloh abends mehr Menschen, um den tieffliegenden Proletenkarren beim Rennen über die innerstädtische B8 zuzusehen. Die Einkaufsmöglichkeiten bestanden in einem Zigarettenautomaten, der einem Nichtraucher nichts nützt und einem Imbisswagen, der nach wenigen Wochen schon wieder weg war und zu Entzugserscheinungen führte, sind doch Pommes für einen im Ruhrpottler das erste feste Nahrungsmittel gleich nach der Muttermilch. An einem Hofladen gab es noch Äpfel und je nach Jahreszeit auch Erdbeeren zu kaufen, der nächste kleine Laden befand sich im übernächsten Kaff hinter den Bergen bei wer weiß wie vielen Zwergen. Aber genau so sollte es in einer chaotischen Lebensphase mit etlichen Veränderungen auch sein, ich wollte mich neu sortieren und einen Neubeginn starten, die mystische Eifel war dafür der richtige Ort und das schamanische Forsthaus ein paar Meter weiter passte perfekt dazu. Jeden Morgen und jeden Abend kletterte ich von meiner Terrasse auf das Dach des angrenzenden Stalls und hatte morgens einen unvergleichlichen 360° Blick auf den umgebenden Wald, abends auf einen unglaublichen Sternenhimmel ganz ohne den sonst gewohnten Lichtsmog.
Im Frühling und im Sommer war die Veränderung der Natur täglich an den Wiesen und Wäldern zu beobachten, mein erster Eifelwinter bescherte mir etliche Wochen mit Schnee wie in einem Wintermärchen, Rehe und Wildschweine grüßten im Wald, mein Trinkwasser konnte ich mir an einer nahen Quelle besorgen.
Das war mein neues Leben und es war schön. Fast perfekt, denn da gab es noch zwei Frauen.
Untrennbar verbunden mit dieser Zeit ist die irre Fernbeziehung zu einer Frau, durch die ich in diesen wunderschönen Ort gekommen bin. Bei einem unserer Treffen habe ich diese Ansammlung von Häusern kennengelernt und schnell eine Wohnung gefunden, noch während ich mein Leben in der alten Heimat auflöste und den Umzug mitten in die Eifelwälder organisierte, lag diese Beziehung schon in den letzten Zügen. So sehr ich ihr auch dankbar sein muss, in meinem neuen Leben gelandet zu sein, so sehr bin ich mir auch des Glücks bewusst, dass ich diesen Irrtum schnell genug beenden konnte. Den Begriff „Schwurbler“ gab es damals noch nicht, zumindest ist er mir so nie begegnet. „Querdenker“ war durchaus positiv konnotiert und kein Synonym für „Leerdenker“, „Quarkdenker“, „Nazisnichtsehende“ oder „rechtsdriftende Vollpfosten mit der Sehnsucht nach Reichsbürgertum“. Sie war so etwas wie eine Blaupause dieser heutigen Freunde von Freiheit und Grundgesetz, sie war obendrauf die Reinkarnation aller möglichen berühmten Frauen der Geschichte (sie war zum Beispiel in einem früheren Leben Morgaine le Fay, während ich mich in diesem Leben mit ihr manchmal nur so alt fühlte wie König Arthus), sie war diejenige, die bei einer Brandschutzübung in ihrer Firma nicht nur als Letzte das Büro verließ, sondern auch noch gemütlich durch das Gebäude spazierte, während der Rest der Belegschaft sich längst draußen befand. Unbeugsam war sie also, „denen da oben“ musste man es zeigen, dem System ständig misstrauen und dagegen halten. Was sie für die Wahrheit hielt, wurde von den Mächtigen verschwiegen und dieses Schweigen war die unmissverständliche Bestätigung ihrer Wahrheit. Was sie heute so treibt weiß ich nicht, ist sie ihren Weg konsequent weitergegangen, müsste sie längst an dem Punkt angelangt sein, an dem sie Leerdenker & Co. als spießige, schafschlafende Systemlinge verachtet, die sich von der Lügenpresse täuschen lassen. Da solche Menschen gerne im Kreis denken statt quer, ist sie jetzt vielleicht sogar eine militante Impfbefürworterin, man weiß es nicht. Und das beruhigt mich sehr. Wie so viele aus dieser Szene war sie grundsätzlich recht intelligent und in einem gut bezahlten Beruf unterwegs, sie entsprach so gesehen dem Klischee der Mitte der Gesellschaft, die es kaum noch gibt, die poröse Membran nach Rechtsaußen. Menschen, die etwas neben der Spur sind, fand ich immer schon faszinierend, sie aber war eine ideologische Geisterfahrerin, schlicht und ergreifend völlig durchgeknallt. Eher noch mehr. Wenn nicht sogar noch mehr.
Sichtbare Aussichten und unsichtbare Schilder
Allzu lange war ich leider nicht der 171. Bewohner des Dörfchens, in dem Kontakte nur zu den ebenfalls Zugezogenen möglich waren, die auf dem gleichen umgebauten ehemaligen Bauernhof lebten. Die waren fast genauso schnell wieder weg wie ich, wenn auch nicht wie ich in die nächste Beziehungsfalle tapsend. Liebe macht nicht nur blind, manchmal macht sie auch verdammt blöd und so gab ich meine über alles geliebte Wohnung in der wunderschönen Natur auf und zog zu ihr.
(Funfact: einer umziehenden Nachbarin gab ich meine frisch ausgepackten Umzugskartons, auf denen noch die Adresse meines Bruders stand und es stellte sich heraus, dass sie mit ihm befreundet ist. Ganz egal, wo man auch landet, man sollte immer einen guten Eindruck hinterlassen, auch ohne gechipt zu sein hat das System die totale Kontrolle über uns).
Die Strafe für meine Torheit war eine zwar tolle neue Wohnung, statt des 360° Blickes auf die wunderschöne Natur der Eifel jedoch der unverbaute Ausblick auf die qualmende Industrie von „Bad“ Wesseling und Godorf, den sie faszinierend fand, während ich davon schlechte Laune bekam und am liebsten die Fenster mit Brettern vernagelt hätte. So hätte ich mir in der Voreifel noch ein wenig Heimatfeeling erhalten, mit Duisburg-Bruckhausen-und-Hochfeld-Hinterhof-Flair. Wir waren eindeutig nicht für einander bestimmt, aber da war es schon zu spät und ich ohne eigene Wohnung bei ihr.
Zelt, Isomatte, Schlafsack und Campingkocher sollten zwingend zur Grundausrüstung eines jeden Mannes gehören, Sgt. Prepper wusste das schon immer.
Anders als in dem kleinen Eifeldorf fielen hier die Kontakte leicht, leider nicht so, ich sie mir gewünscht hätte.
„SIEDÜRFENHIERNICHTPARKEN!!!“
„Warum nicht, das ist doch nicht Ihr Grundstück sondern öffentliche Straße?“
„Trotzdem, sie stehen direkt vor unserem Haus!!!“
„Aber ihr Haus liegt doch 50 Meter von der Straße entfernt?“
„SIEDÜRFENHIERNICHTPARKEN!!!“
Ja ne, is klar, und hier auch nicht und da nicht und dort nicht. Für Fremde standen überall unsichtbare Parkverbotsschilder. Überall. Hatte das Kennzeichen den gleichen Vornamen wie das des Autos der Nachbarn, war Parken erlaubt. Überall. Dagegen sind die lebenden Überwachungskameras auf den Balkonen in Duisburg-Meiderich, mit Lockenwicklern im Haar, Flusenbademantel im verwaschenen Prinzessinenrosa, Kippe in der einen und die angeschlagene Kaffeetasse in der anderen in Signalfarben lackierten Krallenhand ein herzallerliebster Verbund von Samaritern*innen, wenn die halb aus dem Fenster hängend mit Joe Cocker Stimme über die Straße röcheln: „Hörn se ma, hier dürfen se nich parkn, hier is Parkverbot! Ich ruf gleich die Pollezei!“ Aber wenn es drauf angekommen wäre – von diesem Kampfgeschwader hätte man noch in der härtesten Parkdiskussion eine Zigarette schnorren können und ein Pinneken Doppelkorn vonne Trinkhalle dazu bekommen, einen Klosterfrau Melissengeist vielleicht oder einen Eckes Edelkirsch. Ruhrgebiet halt, die Heimat der Menschen mit dem Herzen auf der Zunge und dem grauen Feinrippunterhemd auf der Wäscheleine.
Doch mal zum Friseur
Der nächste Umzug stand also an, es musste schnell gehen. Eine ganz andere Ecke in der Region, in einer ruhigen Siedlung mit durchweg schicken Häusern fand ich mein nächstes Zuhause. Nachbarn kennenlernen – fast unmöglich, nur die Besuche in der Kneipe bei Pils und Schnitzel Klotzkopf (Schnitzel Wiener Art mit Speck und Spiegelei) vermittelten mir das Gefühl, nicht gänzlich unwillkommen zu sein. Der einzig gesprächige Mensch im Ort war die Friseuse (ach was), so oft wie in einem Jahr dort war ich in den nächsten 15 Jahren nicht mehr in einem Friseursalon. Was man nicht alles auf sich nimmt, um dem Gefühl der Einsamkeit zu entgehen, ich wäre sogar zum Zahnarzt gegangen.
Eigentlich war es ein recht angenehmes Wohnumfeld, für menschenscheue Misanthropen mit Niveau auf jeden Fall nicht verkehrt. In dieser Zeit bin ich gependelt zwischen diesem Ort und dem Wohnort meiner nächsten und zum Glück erhalten gebliebenen Freundin, ganz ohne Frau ist es auf Dauer nicht weniger doof wie mit der falschen. Diese zog schon bald innerhalb ihres Städtchens um in eine Neubausiedlung. Edel, sehr edel! Oben auf einer Kuppe über dem Rhein, vom Esszimmer aus der freie Blick auf die unverbaute Landschaft, mit dem ersten Dachs, den ich in freier Wildbahn sah, dummerweise auch mit Nachbarn.
Jesses und Maria, und was für Nachbarn! Rollrasenwettrüsten, lässige Angeberei mit dem Sonnenschirm (nicht der Markise) zum Schnäppchenpreis von knapp 1.000 Euro, sonst 1.700 Euro, also echt ein Schnäppchen, mit dem „Du verdienst doch wohl nicht mehr als ich?“ Scanner in den Augen, die Gärten wie auf dem Schachbrett angeordnet und immer sehen könnend, welche Wurst der Nachbar gegenüber auf dem Frühstücksbrot hat. Weizenmischbrot oder Roggenvollkorn, Mohn- oder Sesambrötchen – Geheimnisse solcher Art gab es nicht. Hätte ich zur Freundin gesagt: „Du hast da Marmelade im Mundwinkel!“ hätte sich unter Umständen die Nachbarin den Mund mit der Serviette abgetupft und gefragt: „Besser so?“.
Dass dann das Nachbarkind mit der falschen Hautfarbe von der Straße verscheucht wurde weil es dort nichts zu suchen hat, rundete das Bild der ehrenwerten Siedlung ab. Wie schön es doch mit 170 unsichtbaren Nachbarn war und auch in Misanthropenhausen!
Angekommen
Der nächste Umzug ergab sich dann aus beruflicher Notwendigkeit, unsere Arbeit ließ sich nicht mehr mit den jeweiligen Wohnorten vereinbaren und wir begaben uns auf die Suche. Zwei der Optionen, die wir hatten, wären am 14.7.2021 gleich meinem vorigen Zuhause der Flutkatastrophe zum Opfer gefallen, das letztendlich bezogene Haus blieb bislang von jedem Unwetter verschont. Aber nicht nur das, wir waren auch frei von Nachbarn in ehrenwerten Häusern, Udo Jürgens hätte unbesorgt ein paar Flaschen griechischen Wein mitbringen und mit den besungenen Familien bei uns einziehen können. Aber: die Kontakte zu den ca. 850 Menschen im Dorf waren stark eingeschränkt.
Es ist ein einfaches, kleines Dorf, unterteilt in Ober- und Unterdorf, mit einem Bäcker, einem kleinen Lebensmittelladen mit Metzger, einem ehemaligen Hotelrestaurant, einem Jugendheim mit Gemeindesaal, hin und wieder mit Pfarr- oder Schützenfest. Dann machten Bäckerei und Onkel Emma zu und für uns hatten sich die letzten spärlichen Kontaktmöglichkeiten erledigt. Wir fuhren ohnehin recht früh zur Arbeit und kamen zurück, wenn beide Läden nicht mehr geöffnet waren, die Einkäufe wurden auf den üblichen Fahrwegen bei Edeka & Co. getätigt, wir lebten auch vor der Schließung schon in einem klassischen Wohn- und Schlafdorf. Damit ergaben sich lediglich Kontakte zu den wenigen Nachbarn in unser winzigen Straße und zu einer handvoll Menschen, die wir auf beruflichen Wegen kennengelernt haben. Ungefähr 12 Familien bzw. Einzelpersonen kannten wir über viele Jahre hinweg, mehr nicht. Wer in anderen Häusern in Sichtweite wohnte, 50 oder 100 Meter entfernt, war uns nicht bekannt. Das lag nicht an dem Klischee, dass Einheimische die Zugezogenen nicht akzeptieren, dafür ist der Ort zu sehr durchmischt mit Bewohnern, die schon immer dort leben und solchen, die erst seit wenigen Jahren angekommen sind. Die Infrastruktur ergab das halt nicht und Traditionsveranstaltungen auf Dörfern gehören irgendwie nur den Eingeborenen.
Dann kam die Flut.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 wurde alles anders. Wir kamen ganz entspannt von der Arbeit nachhause, folgten irritiert dem Rat des guten Nachbarn R., unseren Keller zu räumen und wichtige Dinge nach oben zu bringen, schüttelten aber leicht erstaunt den Kopf, weil bislang jedes Unwetterchaos an unserem Dorf vorübergezogen war. Der Spruch der Rheinländer, et hätt noch immer jot jejange.
In dieser Nacht aber nicht, das genaue Gegenteil war der Fall, auch Rheinländer können sich irren.
Das Rauschen der nahen Erft war gut zu hören, das hatten wir in dieser Intensität noch nie. Sie war zu riechen, das kannte ich nur von Duisburg und dem Rhein. Dann fiel der Strom aus und ich ging nach draußen zu den Nachbarn, die auf der Straße schon versammelt waren. Erst da sah ich, wie nah die Erft schon war und dass sie immer näher kam. Hier bekannte Nachbarn, da unbekannte, die waren natürlich in der Mehrheit. Die Hauptstraße entlang noch mehr Nachbarn. Gespräche mit einer Familie, andere kamen hinzu, alles traf sich auf den Straßen, Irritation und Besorgnis und die sich immer weiter ausbreitende Erft. Gegen 1 Uhr morgens war für mich der Spuk vorbei, die Hauptstraße war überflutet, es gab kein Durchkommen mehr runter Richtung Stadt. Nirgendwohin eigentlich, Autofahrer aus anderen Gegenden hatten alle eine Irrfahrt ohne Ausweg hinter sich und mussten umdrehen. Der Strom war weg und kam nicht wieder, aber das Wasser stieg nicht mehr und blieb einige Schritte von unserem nur wenig höher gelegenen Haus stehen. Glück gehabt, wie viel Glück wir hatten, zeigte sich am nächsten Tag. Die Arbeit entfiel, alle Wege in die Stadt waren gesperrt oder verstopft mit Autos, weil viele Straßen aufgerissen oder restlos überflutet waren. Es war unbeschreiblich, wie es überall aussah, kaum ein Durchkommen, kein Strom, kein Internet, kein Handyempfang, später kein Trinkwasser. Der Begriff „Luxus“ erforderte eine neue, eine lebensnahe Definition.
https://diekolumnisten.de/2021/07/19/herr-e-und-die-flut/
Geschichten dazu gab es genug, es verbleiben andere, die nicht verloren gehen sollten, schon gar nicht in diesen Zeiten, in denen der Spaltpilz wiederholt zur Pflanze des Jahres gewählt werden könnte. Die Geschichten von Nachbarn, die unverzichtbar wurden.
Gerade von Spaltpilzen, Bildlesern, Dauernörglern und notorischen Klugscheißern wurde immer und immer wieder auf das vermeintliche Versagen der Politik in dieser Notsituation hingewiesen, darauf, dass die einfachen Bürger so vieles von der Last der Hilfe tragen mussten, dass „wir“ den Politikern die Arbeit abnehmen und diese nur schwadronieren würden. Es mag in wenigen Einzelfällen ein Versagen von Verantwortlichen gegeben haben, das taugt nur keineswegs als Pauschalurteil. Am lautesten beschwert haben sich ohnehin die Gestalten, die von der Flut überhaupt nicht betroffen waren, die typischen Kommentarspaltenbewohner mit wenig Ahnung und ganz schön viel Meinung.
Fehlplanungen der Vergangenheit wie fehlender Hochwasserschutz, Versiegelung von Sickerflächen, Neubausiedlungen an ungeeigneter Stelle, zig Kilometern an begradigten Bachläufen sind ein anderes Thema, das muss zwingend aufgearbeitet und korrigiert werden, die Aktivitäten während der Katastrophe halte ich nicht ansatzweise für so kritikwürdig wie gerne dargestellt wurde. Es gab nicht nur den lachenden Laschet, es gab eben auch die anderen. Und irgendwer muss schließlich die Hilfe koordinieren und sich mit unzähligen Stellen und Ansprechpartnern abstimmen, das geht nicht mit der Schüppe in der Hand im schlammgefluteten Keller.
Kaum jemand weiß einzuschätzen, wie viele der Gescholtenen nicht nur ihrer bezahlten Arbeit nachgingen sondern bis in die Nacht hinein Hilfe jeglicher Art organisiert haben. In ihrer Freizeit und oftmals selbst von der Flut betroffen.
Dass wir den Politikern Arbeit abnehmen (sollen wir nicht besser von Eigenverantwortung sprechen?), lässt sich auch als demokratischer Prozess bezeichnen. Schade nur, dass wir das nicht dürfen in so einer doofen Diktatur, in der sogar Diktatoren mittels einer Wahl abgewählt und durch andere Diktatoren ersetzt werden können. Danke Merkel!!! Und weder demonstrieren noch unsere Meinung sagen dürfen wir, nur Massenspaziergänge und aggressives Pöbeln sind uns noch erlaubt. Danke Scholz!!!
Jetzt geht es wieder um Nachbarn.
Hömma! Hol mir ma ’ne Flasche Bier
Dass der gute Nachbar R. uns abgefangen und vor der Flut gewarnt hat, war nur der Anfang, den Rest habe ich aus der Sicht des Glücklichen erlebt, der von der Flut kaum betroffen war. Privat gar nicht, beruflich mit geringen Sachschäden und gut 3 Wochen an Umsatzausfall. Gemessen an dem, was anderen widerfahren ist, also ein Geschenk des Schicksal mitten im Irrsinn.
Ich fuhr täglich am Treffpunkt in unserem Dorf vorbei, habe aber erst in anderen Straßen, dann im Haus unserer Praxis und in dem dortigen Keller geholfen. 180 qm bis zur Decke unter Wasser, mit Schlamm und Wasser vollgesogener Sperrmüll, den anzumelden ich über Monate vergessen habe als der Aufzug noch funktionierte, waren ein überschaubares Maß an Stress (auch hier einen großen Dank an tolle Helfer!), dass die Innenstadt komplett erledigt war ist ein anders Thema. Die Situation im Dorf ist mir dabei nicht so wirklich bewusst gewesen. Klar, man sah die Schutt- und Sperrmüllhaufen auf der Straße, im Vergleich zu anderen Bereichen in der Stadt schien es halbwegs glimpflich ausgegangen zu sein. Schien, denn was sich hinter den Fassaden offenbarte, sprach eine ganz andere Sprache, die Geschichten von persönlichen Dramen am Rande des Todes und den tatsächlichen Verwüstungen erfuhr ich erst nach und nach.
Das ergab sich, als ich aus Neugier mal dem Treffpunkt einen Besuch abstattete, es sah ja ganz gemütlich aus mit einem offenen Pavillon, Bierzeltgarnituren, einer Essensausgabe unter der großen Linde.
Menschen kennenlernen ist ganz einfach und Nachbarn sind ja auch irgendwie Menschen. Man schlendert langsam an eine Gruppe heran, nickt freundlich hierhin und dorthin, während die Augen nach Bier trinkenden Personen Ausschau halten. Da bleibt man zufällig kurz stehen und stellt sich höflich vor: „Tach, ich bin der Uwe, wo gibbet denn hier Bier?“. Schon kennt man C. und P. und weiß: wer dir den Weg zum Bier zeigt, ist ein Guter. Und es waren gleich zwei Gute auf einmal! Ein wenig Smalltalk, die Erklärung, woher man ursprünglich kommt und ein „Schantall!!! Der kommt auch aus Düsburch!!!“ Zack, der dritte gute Mensch in zwei Minuten, alles Nachbarn (wobei Schantall in Wirklichkeit nicht Schantall heißt). Duisburger trifft man übrigens überall auf der Welt, so wurden die wichtigsten Errungenschaften der Menschheit um den Erdball getragen: das Feuer, das Rad, der Fuchsschwanz an der Antenne des Opel Manta, Feinrippunterhemden, das Bier (Braumeister aus Duisburg-Beeck haben vor ca. 6.000 Jahren die Sumerer in die Geheimnisse der Baukunst eingeweiht, das ist den wenigsten bekannt und der Clemens sagt da sowieso immer „Mein Name ist Haase, ich weiß von nichts!“). Nur mit dem Fußball hat es nicht so recht geklappt, vielleicht lag das auch an der übermäßigen Beschäftigung mit den Erzeugnissen der Braukunst. Warum dann aber England als Mutterland des Fußball gilt… egal, es geht ja um die Nachbarn.
Ja, dann sitzt man so am Tisch, kommt mit immer mehr Nachbarn ins Gespräch und stellt fest, dass Nachbarn
a) nicht immer unsichtbar sind und
b) echt in Ordnung sein können.
Aus dem spontanen Besuch wird ein regelmäßiger und die nachbarschaftlichen Strukturen in dieser Lage werden sichtbar. So nebenbei war das auch eine gute Gelegenheit, um Vorurteile abzubauen, selbst die liebgewonnen. Massen an Hilfsgütern wurden angeliefert und verteilt, Kaffee und Kuchen standen bereit, es gab täglich warmes Essen. Kuchen und das warme Essen wurde i.d.R. von verschiedenen Nachbarn, oft im Haus Hardtberg etwas oberhalb des Dorfes zubereitet. Dort konnten die durch die Flut geschädigten Bewohner auch duschen oder ihre Wäsche waschen, Mitglieder der dortigen Gemeinschaft waren im Dorf unterwegs, halfen, organisierten, plauderten, leisteten wichtige moralische Aufbauarbeit. Nicht nur die, viele andere Nachbarn und Freunde von Nachbarn waren daran beteiligt, wer irgendwie konnte, brachte sich auf jede erdenkliche Weise mit ein.
Hand aufs Herz: woran denkt Ihr, wenn der Begriff Opus Dei fällt, seid Ihr etwas skeptisch und voreingenommen? Ich sehe es euch nach, so ging es mir doch auch. Im Wahlkampf um Armin Laschet war das ein Thema, sein Berater Nathanael Liminski und Armin Laschets Schwager galten schon fast als alleiniger Grund, ihn nicht zu wählen, letztlich war es mehr der Humor zur falschen Zeit.
Das Opus Dei betreibt die Tagungsstätte Haus Hardtberg und die Menschen von dort waren in dieser Krise ein unverzichtbarer Bestandteil des leidenden dörflichen Lebens. Religiöse Themen? Nie. Hilfsbereitschaft und Humor? Immer. Auch mal bei einem Fläschchen Bier und Gesprächen über Comedians.
https://opusdei.org/de-de/article/solidaritaet-in-kreuzweingarten/
oder
https://www.haushardtberg.de/geschichte/villa-becker/
Neben Mitarbeiter*innen des Opus Dei waren da noch der mit den Tattoos, die ihn unverkennbar als recht Rechten auswiesen, der mit dem „FCK GRN“ T-Shirt, die Muslime, die Familie aus Afrika, die Mennoniten, die Langhaarigen, die älteren Menschen, die Kranken, die Kinder, die Gutbetuchten und die weniger Gutbetuchten, Religiöse und Gott gegenüber sehr Gleichgültige. Ich habe keine Situation erlebt, in der religiöse, politische oder sexuelle Überzeugungen ein Thema waren, es ging um die Lage vor Ort, vor allem aber um ungezwungenes Geplauder und Beisammensein. Um Hilfe. Um Gemeinschaft. Um das, was die Menschen ganz losgelöst von der Politik auf die Beine stellen können. Um den Gemeinschaftssinn, den zu erwecken erst eine solche Katastrophe möglich gemacht hat.
Noch während dieser Treffen wurde eine WhatsApp Gruppe eingerichtet, unglaublich, was über diese Gruppe an materieller Hilfe und an tatkräftiger Unterstützung geleistet wurde. Als der tägliche Treffpunkt aufgelöst wurde, stellte sich eine Familie aus der Gemeinde der Mennoniten mit ihrem Grundstück zur Verfügung, damit die Treffen wenigstens einmal in der Woche möglich blieben, das sogar an einem Tag, als sie selbst nicht anwesend sein konnten. Das Haus durften die Nachbarn während der Abwesenheit nutzen, was für ein Vertrauen! Das Essen hat die Familie gekocht, gespendet wurde es von der Gemeinde der Mennoniten. Beruflich bedingt waren mir etliche Treffen nicht möglich, die Vorsicht wegen Corona kam erschwerend hinzu (die Treffen fanden aber alle im Freien statt). Jetzt haben wir Winter, jedenfalls das, was um diese Jahreszeit Winter heißt und die Begegnungen werden weniger. Mag sein, dass nach diesen intensiven Monaten auch das Bedürfnis nach ein wenig Ruhe Einkehr gehalten hat. Ich habe allerdings die Hoffnung, dass die Begegnungen unter Nachbarn mit dem Frühling wieder an Fahrt aufnehmen, dass etwas gewachsen ist, was bleibt. Der Grundstein ist gelegt und den Wert einer funktionierenden Nachbarschaft haben alle schätzen gelernt. Das konnte nur entstehen, weil Menschen sich nicht zurückgelehnt und auf Politiker gewartet haben, damit die ihnen die Verantwortung über ihr Schicksal und das der Nachbarn abnehmen.
Ein Dorf wie unseres ist kein Einzelfall, überall da, wo es darauf ankam, sind solche kleinen Gemeinschaften entstanden, ob auf den Dörfern oder in der Stadt. Das und die beeindruckende Welle der Hilfsbereitschaft von Menschen aus allen Teilen des Landes, die Zusammenarbeit von freiwilligen Helfern, Politikern, Polizei, THW, DRK, Maltesern, Bundeswehr, Landwirten, Firmen, Vereinen, Glaubensgemeinschaften u.v.m. sollten uns Mut machen, wenn wir in den Nachrichten in einer Dauerschleife von dem hören und lesen, was derzeit den Keil immer tiefer in unsere Gesellschaft treibt. Vielleicht ist es um die Menschheit doch besser bestellt als befürchtet, wir sollten uns nicht die Deutungshoheit darüber nehmen lassen, worin Einigkeit und Zusammenhalt wirklich bestehen. Auf keinen Fall darin, dass wir gemeinsam jammern, gemeinsam aus Prinzip dagegen sind, gemeinsam Politiker und Ordnungskräfte anpöbeln und gemeinsam ohne jede Rücksicht auf andere durch das Leben spazieren.
Nachbarn haben gezeigt, worauf es ankommt, lernt Eure Nachbarn doch einfach mal kennen. Es kann sein, dass sich Gründe finden, sie mal zu loben.
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