Erinnerung an eine fast vergessene Radsport-Pionierin
„Die Rebellion der Alfonsina Strada“ erzählt nicht nur eine interessante Lebensgeschichte. Es handelt sich auch um einen starken Roman, der sich gut lesen ließe, lehnte er sich nicht an eine „wahre Geschichte“ an. Literaturkolumne von Sören Heim
Ich gebe zu, ich habe mir Die Rebellion der Alfonsina Strada zuerst näher angeschaut, weil mich das wie aus der Zeit gefallen wirkende Cover aufmerksam hat werden lassen. Dann dachte ich, „Alfonsina Strada“ sei vielleicht ein bisschen zu sprechend als Name für eine Radrennfahrerin. Bis ich feststellte, dass es diese Sportlerin tatsächlich gab und sie wirklich so hieß.
Und das ist natürlich bemerkenswert: Ich verfolge zumindest die wichtigsten großen Radrennen, also nicht nur die Tour de France, noch immer halbwegs regelmäßig und bin früher selbst viel gefahren, wenn auch nicht in Wettkämpfen. Und ich schwöre: Der Name Alfonsina Strada wurde noch in keiner Live-Übertragung erwähnt, und das obwohl die Kommentatoren gern und notorisch viel zu viel von der Vergangenheit erzählen. Okay, ich höre seit vielen Jahren nicht mehr zu, ich beschränke mich auf Bergankünfte, und wenn ich zuschaue, läuft normalerweise statt Kommentar ein Hörbuch. Trotzdem habe ich die Geschichte von Frederico Bahamontes, wie er aus Angst vor der Abfahrt auf seine Kollegen gewartet hat, oder die Geschichte von Eugène Christophes gebrochener Gabel unzählige Male gehört. Und nichts von Alfonsina Strada.
Biographische Romane gelingen selten
Nun ist es strategisch wahrscheinlich eine gute Idee, einen Roman über eine halb vergessene Radfahrpionierin zu schreiben und kein Sachbuch. Romane werden einfach von mehr Menschen gelesen. Literarisch ist es aber schwierig und gelingt selten, über Personen der jüngere Zeitgeschichte in Romanform zu erzählen. Meist wirkt der Roman wie das, was er oft genug eigentlich auch ist: ein Alibi. Entweder, um eine Biografie besser zu verkaufen oder um einen Literaturpreis abzustauben. Also habe ich allzu viel nicht erwartet, sondern einfach einen leicht zu lesenden Text mit mehr Informationen, als sie Wikipedia bereitstellt.
Aber Die Rebellion der Alfonsina Strada ist angesichts all der Fallstricke, die solche Texte bieten, tatsächlich ziemlich gut. Der Roman wird relativ zwanglos auf drei Ebenen erzählt: Die chronologische Lebensgeschichte Alfonsinas, ihre Erlebnisse als Ehrengast auf einem Radrennen 1959 und eine späte Rückkehr des Erzählers in die Ortschaft, in der Alfonsina gelebt hat in Form von Tagebucheinträgen 2017. Dabei verknüpft die mittlere Ebene Bilder des Mondes, Gedanken an die Mondlandung der Luna 2 und die Sehnsucht, etwas zu tun, einfach weil es möglich ist mit Erinnerungen an die Jugend der Rennfahrerin und zeigt gleichzeitig, wie Alfonsina schon wieder halb vergessen wird und ihr nicht die gleichen Ehren zuteil werden wie anderen Radfahrern ihrer Zeit. Auch die Jugend ist überzeugend gestaltet und taucht tief in das Familienleben einer armen kinderreichen Familie ein. Ein etwas drastischer, aber für das Narrativ doch kluger Griff wertet die Erzählung auf: Alfonsina wird am Fuß ihres Bettes immer wieder von ihren vielen verstorbenen Geschwistern und den Waisenkindern besucht, die ihre Eltern aufnehmen, um staatliche Förderungen abzugreifen. Diese Toten begleiten sie ihr ganzes Leben und bilden eine Art Reflektor-Ebene, in der sich Alfonsinas Stimmungen spiegeln.
Vom noch jungen Radsport wird, soweit ich das beurteilen kann, relativ kenntnisreich geschrieben, die Hürden, die Alfonsina in den Weg gelegt werden, aber auch die Unterstützung, die sie von einem Teil der Kollegen und von ihrem Ehemann erfährt, werden überzeugend ausgebreitet und nie, als würden nur Punkte einer Biografie abgearbeitet. Radsport steht aber nicht in einer Weise im Vordergrund, die den Roman unlesbar machen würde für Nicht-Radsportfreunde.
Dieser ist größtenteils gelungen
Dennoch hätte ich mir tatsächlich gewünscht, der Roman hätte länger in der Jugend verharrt, über die doch am freiesten erzählt werden kann, da am wenigsten bekannt ist und die Verhältnisse sicherlich am interessantesten. Und auch wenn das meiste glaubhaft vermittelt wird, ausgerechnet diese Entscheidung, unbedingt Radrennfahrerin werden zu wollen, sie hängt etwas in der Luft. Klar: Diese junge Frau fährt gerne Rad, und sie leidet unter beengten Familienverhältnissen und dem Leben im Dorf. Es ist einerseits ein logischer Schritt, andererseits eben doch etwas ganz und gar Unerhörtes Und die Geradlinigkeit, mit der die Entscheidung reift und auch prompt umgesetzt wird, wirkt etwas hastig. Das ist wieder eines dieser Probleme mit Fiktion und Realität sowie Fiktion, die Realität abbilden will. Vielleicht war es ja genau so. Vielleicht dachte sich Alfonsina eines Tages: Okay, ich möchte Radrennfahrerin werden. Dafür brauche ich ein besseres Rad. Sie sucht sich einen Job und findet sofort einen Mechaniker, der nach kurzer Diskussion, in der sie gewisse Kenntnisse zeigt, bereit ist, einer einfachen Arbeiterin ein gut erhaltenes, gebrauchtes Bianchi auf Raten (!) zu verkaufen. In der Realität mag das so gewesen sein, im Roman überzeugt es nicht wirklich.
Trotzdem. Für solch einen Text, der das Leben einer Beinahe-noch-Zeitgenossin fiktionalisiert, ist Die Rebellion der Alfonsina Strada ein starker Roman, den man auch dann mit Gewinn lesen kann, wenn man sich weder sonderlich für Radsport, noch für die Person interessiert. Der Text ist gut aufgebaut und viel mehr als eine Biografie in Romanform.
Historisch ist es sowieso ein wichtiges Unterfangen, Alfonsina Strada wieder in die Öffentlichkeit zu ziehen. Denn dass eine für den Sport so bedeutende Persönlichkeit, die als bis heute einzige Frau auf einer der Grand Tours mit den Männern fuhr und relativ selbstverständlich regelmäßig bei „gemischten“ Rennen antrag, heute bei Radsportübertragungen praktisch nicht mehr erwähnt wird, ist schon heftig. Besonders, wenn man bedenkt, dass der Radsport vor dem Ersten Weltkrieg anscheinend offener war als heute. Denn heute existiert bekanntlich strikte Geschlechtertrennung.
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