Das „Dunkle Zeitalter“ Disneys zeichnete sich durch künstlerische Visionen aus. Die „Renaissance“ durch ökonomische.

Kolumnist Sören Heim plädiert für eine Neubewertung der jüngeren Geschichte der Disney-Animationsfilme.


Die Zeit zwischen 1970 und ’88, zwischen Aristocats und Oliver & Company, wird als Disneys Bronzezeitalter (Bronze Age) bezeichnet. Manchmal sogar als das/die Dunkle(n) Zeitalter (Dark Ages). Natürlich wird teilweise anders gewichtet, dann beginnt das dunkle Zeitalter zB erst ab 1981.

Interessant.

Denn genau aus dieser Zeit stammen die Filme, die bei mir schon als Kind den stärksten Eindruck hinterlassen haben. Ich habe ein wenig herumgegoogelt, um herauszufinden, ob ich damit wirklich alleine bin und bis jetzt tatsächlich keinen Text gefunden, der argumentiert, was ich hier argumentieren möchte:

„Wow, Bunt!“

Die Filme aus den sogenannten Dark Ages sind jenen der hochgelobten Disney Renaissance (1989 bis 1999 bzw. Arielle bis Tarzan) bei der optischen Ästhetik überlegen. Dass der neuere CGI-Kram optisch wenig taugt, sollte unstrittig sein. Aber auch die Renaissance-Filme und die Nachzügler in deren Stil sind doch vor allem „hübsch“ (opulent, flashy), und ästhetisch ziemlich austauschbar. Das Biest könnte genauso gut im Glöckner von Notre Dame mitspielen, Arielle im Pool des Sultanpalasts planschen usw. Und was denkt man, wenn man an die prachtvollsten Szenen denkt? „Wow! Bunt!“ Vielleicht sogar „Wow! Viel Bunt!“ Und in den tragischsten Momenten? „Wow! Schwarz mit bunt!“ Freundlich betrachtet: Die Renaissance-Filme sind das Äquivalent dieser mehrstöckigen Torten mit ganz viel unterschiedlichem Zuckerguss. Weniger freundlich: Es handelt sich um ein kindgerechtes Analogon zum Page Three Girl der Regenbogenpresse. Für alle, die nicht wissen, was das ist: Es handelt sich um die zum Glück größtenteils abgeschaffte Praxis, mit Fotos nackter Frauen auf Seite 3 (bei der Bild-Zeitung natürlich auf Seite 1) mehr zumeist männliche Leser ins Blatt zu locken. „Wow! Bunt! Ich meine … Nackt!“

Damit dieser Artikel nicht einfach als Nostalgie für die Filme meiner Kindheit abgetan wird, muss ich hinzufügen: Ich bin 1984 geboren. Mein erster Disney-Film im Kino war Die Schöne und das Biest. Aufgewachsen bin ich mit Aladdin und Der König der Löwen, die ich beide auf Video hatte und die sich meine Eltern deshalb regelmäßig antun mussten. Für den Geburtstag meines kleinen Bruders haben wir ein privates König der Löwen-Theaterstück inszeniert. Ich habe Rafiki gespielt und konnte dessen Zeremonie-Dialoge auswendig. Auch Arielle, die Meerjungfrau habe ich im Kino gesehen (aber nicht zur Premiere) und eine Kindergarten-Freundin hatte die VHS-Kassette. Also auch das ein Film, der immer wieder geschaut wurde. Und trotzdem ist die größere Faszination von anderen Filmen ausgegangen: Bernhard und Bianca. Aristocats. Und, weil nicht von Disney, hier außer Konkurrenz: In einem Land vor unserer Zeit. Allein dessen künstlerische Gestaltung, dieser ausdrucksstarke Dinosaurier-Impressionismus: Als wandle man auf sanftem Tripp durch Munch-Gemälde. Wer mit solchen Bildern groß geworden ist, wird sich nie wirklich vom Disney-Hochglanz-Zuckerguss-Kitsch einfangen lassen. Und da könnten dann auch schon Hund, Katze und Dinosaurier begraben liegen: Die Filme des „Dunklen“ Zeitalters sind die Disney-Filme, die am ehesten den Versuch unternehmen, über diese Zuckerguss-Ästhetik hinauszugehen. Zugegeben, mit wechselhaftem Erfolg und nicht in der andauernden Brillanz von In einem Land vor unserer Zeit oder anderen kürzlich von mir besprochenen Animationsfilmen, die allerdings keine Kinderfilme sind. Dennoch…

Die Ästhetik der Dark Ages

… ziehen wir doch einfach nur einmal die Eröffnungsszene von Bernhard und Bianca heran (Nebenbei: Dass es Leute gibt, die diesen Film einem sogenannten Dunklen Zeitalter hinzuzählen können, hat mich tatsächlich ein wenig schockiert). Dieser verrottende alte Dampfer im Sumpf. Der Zeichenstil, bei dem gerade nur das Schiff ausreichend konturiert hervorgehoben wird, um den Sumpf rundherum mit seinem Nebel, seinen Bäumen, seinem schmutzigen Wasser, dem Wetterleuchten zu einer einzigen Bedrohung verschmelzen zu lassen. Dann der Schnitt aufs Schiff. Das junge Mädchen, das sich nur als Schatten gegen all die Bedrohlichkeit abzeichnet. Das Licht vom Schiff aus, und im Halbschatten die Krokodile. Von dort, nicht vom Sumpf, sagt uns das Bild, geht die größte Bedrohung aus. Dann der Schatten des Mädchens gegen den rosa-blauen Himmel. Ein Hoffnungsschimmer. Perfekt untermalt vom melancholischen Titellied, das mit ganz wenigen Worten auskommt. Der Wurf der Flasche mit dem Hilferuf. Bewegung immer nur dort, wo die Bilder Akzente auf die Bedeutung setzen sollen. Keine Effekte um der Effekte Willen. Die Reise der Flasche durch diese unglaublich expressiv gezeichneten Meeres-Standbilder, die wilder wirken als ein animiertes Meer im Stil der Renaissance je wirken könnte. Dann der Moment, in dem Dampfer auf Flasche trifft: Welche gute, wenn auch vielleicht aus Budgetgründen getroffene, Entscheidung, dieses Schiff allein durch Geräusche und eine Kamerafahrt über das Standbild in „Bewegung“ zu setzen und uns mit einem gewaltigen Schatten und einem einzelnen Licht zu konfrontieren. Und dann das Anlangen der Flasche in diesem herrlichen New Yorker Abendrot, wo die Mäuse den Hilferuf finden. Was für eine Sequenz! Künstlerisch allein auf der Seite von Zeichnung/Animation einer der besseren bis besten Disney-Momente. Natürlich auch, weil hier gleich ganz viel Erwartung auf die nachfolgende Handlung geweckt wird. Das ist ein Film, den möchte ich auch sehen, wenn er nicht von der ganzen Disney-Marketing-Maschinerie begleitet wird. Der König der Löwen, der von Anfang an ganz darauf setzt, dass wir den Film sowieso sehen wollen, weil es eben Disney ist und wir uns auf bunte Savannenbilder und Songs von Elton John freuen, fällt dagegen deutlich ab.

Aber vielleicht ist es unfair, den wahrscheinlich am besten bewerteten Film aus diesem sogenannten Dunklen Zeitalter zu nutzen, um meine Position zu unterstreichen. Doch was ich zeigen möchte:

Die Disneyfilme des dunklen Zeitalters hatten eine ästhetische Vision, ihre Geschichte auch im Stil der Zeichnung Ausdruck finden zu lassen und waren so viel fähiger, die Zeichenkunst zu erden: Das gilt auch für weniger hochgehaltene Filme aus dieser Zeit.

Etwa: Aristocats. Spricht nicht aus jedem Moment dieses Films Paris? Klar, ein Klischee-Paris, aber gibt es überhaupt noch ein anderes? Die Szenen über den Dächern: Das ist doch etwas, das man sich ohne weiteres als Kunstwerk an die Wand hängen könnte, nicht um zu zeigen: Ich bin Fan dieses Films, wie es bei den Renaissance Filmen der Fall wäre. Sondern weil es wirklich schön ist. Aber selbst noch aus der Linienführung im Haus, bei den Katzen, bei den menschlichen Charakteren: Das könnte alles als die etwas mindere Arbeit eines Pariser Bohème-Künstlers durchgehen. Ja, das Paris aus Der Glöckner von Notre Dame ist opulenter und detailreicher. Aber vom Zeichenstil her könnte es eben genauso gut Aladdins Agrabah, das Athen aus Herkules oder Tarzans Dschungel sein.

Und Basil: Die Straßen Londons am Anfang, das ist atmosphärisch ähnlich stark wie Bernhard und Bianca, wenn auch narrativ nicht in gleicher Weise bedeutsam. Ebenso: Der Kampf auf Big Ben und der schwindelerregende Blick hinab in die Straßen. Oder: Die Eröffnung von Oliver & Co. New York liegt als goldene Stadt aus halbabstrakten Blöcken unter uns, wie ein Gemälde aus der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts. Dann die Straßen: Ein wildes Gewimmel von Fußgängern und Verkehr, überzeugend inszeniert. Aus einer kleinen Box heraus werden Katzen verkauft. Es folgt ein scharfer Schnitt auf das gleiche Bild, bei Nacht. Und dieses nächtliche New York ist noch einmal deutlich stärker ausgearbeitet. Düster, verregnet, mit Wasser, das wie Wasser aussieht. Schmutz, der aussieht wie Schmutz. Und dazwischen: Eine kleine Katze, die keiner wollte. Die sich jetzt allein auf den Weg in die Welt machen muss. Das Abenteuer beginnt. Hunde und Gewitter setzen ihr zu. Das ist keine freundliche Welt. Und genau das wird in Bild und Kameraführung deutlich unterstrichen. Und wie viel effektiver dann später die Momente, in denen Oliver doch Hilfe und Freunde findet!

Mag sein, dass diese Filme noch etwas anderes gemeinsam haben, was sie für mich über die Renaissance-Klassiker hinaus hebt: Sie sind, man sollte es an den Beschreibungen erkannt haben, „erwachsener“. Und die etwas erwachsenere Handlung schlägt sich natürlich auch in den Zeichnungen nieder. Allerdings: So empfänglich ich für den Renaissance-Zuckerguss war (und natürlich mag ich die Filme aus dieser Zeit noch immer), es waren eben Filme der Dark Ages, die sich mir schon als Kind langfristiger eingebrannt haben. Vielleicht, wie wenn man einmal die Woche lecker Käsekuchen bekommt, oder eine Nussecke, oder sonst etwas Süßes. Aber manchmal gibt es auch etwas Ungewöhnliches: Feldsalat mit Entenleber etwa. Ein Muschelgericht. Man kann als Kind noch nicht so ganz den Finger darauf legen, aber während der ganze Süßkram rückblickend zu einem netten Brei verschwommen ist, ragen diese Speisen als einzelne Erinnerungen weiter heraus.

Ästhetik mit Unwuchten vs. Happy-Meal-Vorlagen

Ich möchte nicht über die Schwächen hinweggehen, die die Filme aus dem sogenannten Dunklen Zeitalter definitiv haben. Auffällig ist, dass die Nachtszenen um ein Vielfaches gelungener ausfallen als die, die tagsüber spielen. Und zwischen herausragenden Momenten gibt es immer wieder Passagen, die aus jedem Nachmittags-Zeichentrickfilm stammen könnten. Der Flug des Albatros Orvil durch die Standbilder der Stadt mag dem ein oder anderen billig vorkommen. Ich halte hier wie beim Schiff am Anfang die ästhetische Entscheidung für sehr gelungen, statt mit den wilden Kapriolen aufzuwarten, mit denen jüngere Disneyfilme verwirren, die Zuschauer durch impressionistisch wirkende Gemälde mit ausgewählten bewegten Momenten gleiten lassen. Aber gerade manche Szenen im Innenraum, etwa die am Flughafen, lassen sich nicht retten. Sie wirken besonders vor dem Hintergrund der herausragenden Stellen wie Füllmaterial. Und das gilt für praktisch alle Disney-Filme aus dieser Zeit. Die Renaissance-Filme dagegen sind ästhetisch aus einem Guss. Nur ist es eben bereits eine austauschbare Ästhetik, eine, die nicht zuletzt auch davon bestimmt zu sein scheint, dass man ohne großen Detailverlust Action-Figuren für das McDonald’s Happy Meal von der Leinwand direkt ins Kinderzimmer bringen kann.

Das „Dunkle Zeitalter“ sah natürlich auch einige tatsächlich zeichnerisch minderwertige Filme. Etwa Robin Hood, für den teilweise einfach Szenen aus dem Dschungelbuch recycelt wurden (dafür ist Robin Hood einer der am besten erzählten Disneyfilme, und „Nicht in Nottingham“ sowie „Der Königsclown von England“ werde ich als Songs gegenüber dem Renaissance-Musical-Schmalz immer verteidigen). Taran und der Zauberkessel, das ich bis heute nicht gesehen habe, soll wirklich schlecht sein. Ich werde das jetzt einfach einmal glauben, bis ich es geprüft habe.

Neunmal der gleiche Film?

Ich habe bisher nur über die optische Ästhetik gesprochen, denn es scheint, die Renaissance-Filme stehen zumindest narrativ über aller Kritik. Wie sonst hätten sie solch geliebte Klassiker werden können? Es dürfte aber nach Lektüre des Artikels nicht verwundern, dass ich die Filme des dunklen Zeitalters auch inhaltlich für überzeugender halte. Zumindest in ihren Ansätzen. Die Ausführung verblasst natürlich vor der geölten Erzählmaschinerie der Renaissance. Im „Dark Age“ wird jedes Mal eine neue Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die für Disney-Verhältnisse regelmäßig weit ausbricht aus dem klassischen Gut-Böse-Muster glattgebügelter Kindermärchen. Eine Geschichte, die sich auf alltäglichere Charaktere einlässt als Könige und Prinzessinnen. Und in der Liebesgeschichten, wenn sie überhaupt eine Rolle spielen, zwischen normalen Menschen stattfinden können. Weshalb übrigens auch Geschlechterrollen weniger festgeschrieben sind als in den späteren Filmen. Bianca z.B. ist alles, aber sicher keine „Disney-Prinzessin“. Auch nicht im übertragenen Sinn.

Zum Schluss möchte ich zumindest einen Film partiell aus der Kritik der Renaissance Klassiker ausklammern. Disney’s Pocahontas hat im Gegensatz zu den anderen Titeln dieser Zeit einen zwar daran angelehnten, doch relativ eigenständigen Kunststil, den man vielleicht als exotisierend kritisieren mag, der aber dennoch zumindest versucht, die Magie der Erzählung in einzigartige Bilder umzusetzen. Alles in allem aber sollte man die Disney Renaissance vielleicht weniger als den Höhepunkt und Schluss des klassischen Disney betrachten, wie es heute gerne geschieht, sondern als den Beginn der Retorten-Film-Reihungen, die Disney heute praktiziert. Einfaches CGI, von dem sich die Actionfiguren direkt mit dem 3D Drucker ausdrucken ließen und Live-Action-Remakes. Denn es war doch so: Mit Arielle, die Meerjungfrau stieß man auf eine Goldgrube. Und dann drehte man mit unterschiedlichen Lokalitäten den gleichen Film insgesamt 9 Mal. Das ist genau der fehlende Mut zu künstlerischer Innovation, der Disney heute ebenso vorgeworfen wird wie den anderen großen Franchise-Filmern, etwa den „Cinematic Universes“ von Marvel und DC. Und genau dafür lieferte die Disney Renaissance die (sicher nicht erste, aber vielleicht berühmteste) Blaupause: Identifiziere ein Prinzip, das funktioniert (sprich: Geld bringt) und dann melke es solange, bis es nicht mehr funktioniert. Allen Auf und Abs der 70er und 80er Jahre zum Trotz: Hier hat Disney immer wieder versucht, tatsächlich etwas Neues zu schaffen. Natürlich auch nicht einfach aus künstlerischem Altruismus heraus. Man war auf der Suche nach dem einen Ding, das die nächste große Sache werden würde; es wurde dann eben Arielle, und nicht Basil oder Oliver & Co… Zumindest wird es höchste Zeit, das dunkle oder bronzene Zeitalter zu rehabilitieren. Damals sind Filme erstanden, auf die man sich vielleicht etwas mehr einlassen muss, die den Zuschauer nicht von Anfang an umschmeicheln, bis man sich nur noch berieseln lässt. Aber: Es sind auf unterschiedliche Weisen gute bis sehr gute Filme dabei. Filme, die auch ihr junges Publikum ernster nehmen als es das komfortable Renaissance-Schema tut.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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