Rückblickende Reisetagebücher – II – Per Anhalter nach Rimini/Fano (2006)
Kolumnist Sören Heim blickt auf Reisen mit dem Rad und per Anhalter zurück. Im zweiten Teil der Serie geht es per Daumen hoch nach Italien und auf ein absurdes Festival.
Meine erste Reise als Anhalter sollte mich und eine Freundin eigentlich nach Dijon in ein selbstverwaltetes Jugendzentrum führen, wo wir ein paar entspannte Tage verbringen wollten. Wir waren bei den studentischen Protesten gegen die Studiengebühren in Rheinland Pfalz aktiv und wollten nach zahlreichen Demos und Debatten den Kopf ein wenig frei bekommen. Und kostenlose Ferien in Frankreich sowie ein paar nette neue Kontakte schienen uns gerade richtig (Die Fotos stammen, da ich damals keine Kamera besaß, von Pixabay).
Aber wenn man das noch nie zuvor gemacht hat, ist es verdammt schwer mit dem Trampen. Wir hatten uns überlegt, unser Studiticket möglichst gewinnbringend zu nutzen, und so weit wie möglich mit dem sicheren Zug zu fahren. Hatte mir ja bei der Prag-Reise einiges an Zeit und Weg gespart.
Wie man es nicht macht
Das bedeutet: Wir stellten uns dann irgendwo hinter Idar-Oberstein mit einem Schild an eine Landstraße. Unglaublicher Anfängerfehler: Wer trampen will, muss auf die Autobahn. Sonst kommt man nicht weit. Wir wurden manchmal für ein paar Kilometer mitgenommen und übernachteten trotz nominellen Sommers auf einem eiskalten Feld irgendwo im Saarland. Tatsächlich war eine Autobahnraststätte in der Nähe, die man ohne Probleme betreten konnte, und dort sprachen wir am nächsten Morgen einige Trucker an, von denen einer bereit war, uns bis irgendwo in die Schweiz mitzunehmen. Das machte Dijon als Ziel zwar schon recht unwahrscheinlich, aber nach der kalten Nacht schien uns das Mittelmeer sowieso eine noch bessere Option. Wir kamen ab diesem Zeitpunkt dann etwas besser voran, auch wenn es uns noch volle 24 Stunden kosten würde, bis wir endlich das Meer sehen sollten. „Unser“ Trucker hieß Enrico, und erzählte unglaublich gern und viel. Unter anderem behauptete er, früher Geld damit verdient zu haben, Besoffenen Hasenknittel als Haschisch verkauft zu haben. Ich zweifelte ein wenig an dieser Geschichte, allerdings hat die Menschheit ihre Dummheit in den vergangenen Jahren zur Genüge unter Beweis gestellt. Vielleicht ist also doch was dran.
Zwei Typen, die am Steuer einen Joint nach dem anderen teilten, brachten uns bis ins Tessin, von dort brachte uns eine alte Frau, die alleine fuhr und ihre Joints deshalb nicht teilen musste, noch ein Stück weiter. Wirklich, warum kiffen alle Schweizer am Steuer? Ein Architekt auf meiner zweiten Barcelona-Reise war genauso drauf! Verrückt. Wir verbrachten die zweite Nacht halb schlafend, halb wachend an einer Tankstelle im Gebirge, tranken morgens einen Kaffee nach dem anderen und rauchten viel, bis endlich der Verkehr wieder einsetzte.
Schließlich nahm uns dann ein älteres Ehepaar mit, das seinen 50. Hochzeitstag in Rimini feiern wollte. Und dann ging die Sonne auf, und die Landschaft wurde immer mediterraner. Helles Grün, Palmen, statt dem satten schweizer Grün und der finsteren und kühlen Alpennacht. Und dann: Das strahlend blaue Mittelmeer.
Die verbauten Strände
Ich habe vieles, was folgt, schon als Rohmaterial für meine beiden Erzählungen „Italienische Reise I“ und „Italienische Reise II“ verwendet, weshalb ich bei der faktischen Wiedergabe mich etwas kürzer fassen werde. Also: Der überwältigender Anblick des Meeres brachte uns nach den langen Autofahrten nur kurze Erholung. Denn der Strand in Rimini ist vollgepflastert mit zahlungspflichtigen Strandkörben, und obwohl es erlaubt ist, sich dazwischen in den Sand zu setzen, ist das hoffnungslos: Es gibt eigentlich kein Dazwischen, man wird ständig von Hotel-Mitarbeitern ermahnt. Der mittlerweile immerhin schon dritte Tag unserer Reise bestand also in einer langen Wanderung Richtung Süden in der Hoffnung, dass das irgendwann aufhört. Aber: Hotels über Hotels, Strandkörbe über Strandkörbe. Wir stiegen schließlich in einen Zug und im noch weiter südlich gelegenen Fano wieder aus. Hier erkundeten wir eine wunderschöne kleine Stadt mit unzähligen Kirchen, eine dieser Mittelalter/Renaissance Städte, die noch komplett wie aus einem Guss wirken und selbst die Carabinieri auf ihren Vespas wie für die Touristen darin drapiert. Für die Touristen gab es auch ein paar teurere Hotels und Restaurants direkt am Strand, in Fano selbst konnte man sich aber günstig auch mal eine gute Pizza gönnen. Wir saßen abends lang am Strand und tranken Bier aus Plastikflaschen, das Zelt schlugen wir im hohen Gras etwas außerhalb der Stadt auf.
Am nächsten Tag baute in unserer Nähe ein Zirkus sein Zelt auf, und wir bewunderten lange die gähnenden Nilpferde. Zurück in Fano entdeckten wir dann auch eine Art selbstverwaltetes Jugendzentrum, das leider in dieser Zeit geschlossen hatte. Ein Plakat dort verriet uns, dass es irgendwo in der Nähe ein großes Festival der Sozialistischen Partei (was etwa den hiesigen Sozialdemokraten entspricht) geben sollte. Wir machten uns auf den Weg zum Bahnhof und fanden das kleine Dorf und daneben das riesige Festivalgelände. Fragt mich nicht mehr, wo genau das war.
(Das mag auch erst am 2. oder 3. Tag in Fano gewesen sein. Ich habe die Zeit vergessen und weiß, dass wir viel einfach durch die Gegend schweiften, mehr Bier aus Plastikflaschen tranken, badeten, am Strand saßen. Zwischendurch hatten wir die Idee, irgendwie weiter ins Landesinnere zu reisen, doch dann entdeckten wir eben dieses Plakat und machten neue Pläne.)
Das absurdeste Festival aller Zeiten
Das Festival allerdings war eine gigantische Enttäuschung. Wir hatten erwartet: Musik, vielleicht ein paar politische Debatten, leckeres Essen und vor allem noch mehr Musik. Stattdessen gab es Ausstellungszelte italienischer Unternehmer. Das ganze war mehr eine Messe als ein Festival und so steif und wirtschaftsfixiert, man hätte glauben können, Gerhard Schröder persönlich habe es organisiert. Selbst Ferrari war da, und zu essen gab es teure Delikatessen wie Trüffelpfannkuchen.
Musik gab es auch manchmal, aber das war schrecklicher Retorten Pop. Das alles aber verbunden mit einer vollkommen schamlosen Verwendung von Hammer und Sichel und anderer sozialistischer Kraftmeier-Symbolik, sodass man insgesamt den Eindruck bekam, durch eine Art Soviet-Disneyland zu wandeln. Unglaublich befremdlich und eigentlich ein Ort, den man gern gleich wieder verlassen würde. Doch es wurde schon spät.
Immerhin fanden wir einen Supermarkt, wo es wieder Bier in Plastikflaschen gab und irgendwann dann auch das Zelt der Jugendorganisation der Partei, wo man sich mit Menschen in unserem Alter unterhalten konnte. Es wurde dann doch noch ein lustiger Abend, der zugleich auch der letzte des Festivals war. Wir machten uns gar nicht die Mühe, unser Zelt aufzubauen, sondern pennten in einem Straßengraben, wobei wir das Zelt als Plane über uns befestigten.
Am nächsten Tag fanden wir eine Raststätte und trampten ohne größere Probleme heimwärts.
Das Wildschwein und der einsame Kokser
Über eine längere Strecke nahm uns ein bayerischer Jäger und Wirtshaus-Besitzer mit, der uns unter anderem erzählte, ein Freund habe einmal eine Wildsau angefahren und die dann für tot gehalten in den Kofferraum geladen. Zu Hause ausgeladen, sei das Tier aufgewacht, und habe ihm das Wohnzimmer zertrümmert. Ich denke allerdings, es handelt sich hier um eine weit verbreitete Geschichte aus dem Jägerlatein, und viele bayerische Wirtshaus-Besitzer haben Freunde, denen angeblich genau das „wirklich“ passiert ist.
Später gabelte uns dann ein schätzungsweise Mittdreißiger in einem dicken, sehr gepflegten, BMW auf. Ein ungewöhnliches Fahrzeug für Anhalter. Der Typ drückte uns eine lange Kassette ins Ohr, die etwa daraufhin hinauslief: Er sei Trader (oder etwas dergleichen) bei irgendeiner Bank und habe sich vor kurzem von seiner Frau getrennt, bzw. genauer: Sie von ihm. Also habe er kurzerhand die Sachen gepackt und sei nach Kroatien gefahren und habe eine Woche am Strand verbracht. Doch auch dort sei es ihm alleine langweilig geworden. Und jetzt sei er die ganze Nacht unterwegs, und ohne Koks könnte er wahrscheinlich schon überhaupt nicht mehr fahren. Wohin er eigentlich fahre, verriet er nicht. Und wir waren ganz froh, nach ein paar hundert Kilometern aus diesem Auto wieder raus zu sein.
Etwas Bemerkenswertes begegnete uns dann noch in der Nähe von Karlsruhe. Auf einer Raststätte dort stießen wir mit sage und schreibe 6 weiteren Tramps zusammen. Zwei Zweiergruppen, sowie ein junger Mann und eine junge Frau, die jeweils alleine reisten. Man tauschte sich ein wenig aus und war sich schnell einig, dass es kaum etwas gibt, das so übertrieben wird, wie die Gefahren des Trampens. Immerhin: Man sucht sich seine Mitfahrgelegenheiten aus, und es wäre schon ein unglaublicher Zufall, ausgerechnet dabei auf einen Axtmörder zu treffen. Überhaupt zeigte sich mir in Zukunft noch öfter, dass Vorurteile und rasch mobilisierte Ängste einen in der Anspannung auf der Straße eher Situationen gefährlich einschätzen lassen, die in Wahrheit auf einem bloßen Missverständnis beruhen, besonders wenn einem Leute in ungewöhnlicher Weise weiterhelfen möchten, etwa indem sie einen Umweg fahren, um den Mitreisenden näher ans Ziel zu bringen.
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