5x Hoffnungsvolles im Angesicht der Corona-Krise
An dem Ausnahmezustand der nächsten Wochen und Monate kann eine Gesellschaft zu Grunde gehen, oder auch wachsen. Dabei kommt es auf weitsichtiges Krisenmanagement an, sagt Kolumnist Sören Heim. Keinesfalls darf sich das Narrativ einstellen, dass nur autoritär regierte Staaten mit solchen Herausforderungen zurechtkommen.
Wer mit mir auf Facebook befreundet ist, mag es mitbekommen haben: Ich warne spätestens, seit bekannt wurde, dass mindestens ein Corona-Spreader im Karneval unterwegs war, davor, wie stark sich das Virus noch in Deutschland ausbreiten wird. Ich will heute nicht alles wiederholen, was man in meiner Timeline lesen konnte, nur noch mal die Zahlen bei weiterer ungebremster Ausbreitung und einer großzügig angenommen Verdoppelung der Fälle alle 3,5 Tage (statt real eher 2,5 Tage derzeit):
15.3.: 4000
22.3.: 16000
29.3.: 64000
5.4.: knapp 250000
12.4.: 1 000 000
19.4.: 4 000 000
27.4.:16 000 000
Hier aber möchte ich ein paar hoffnungsvolle Dinge sammeln, die sich mit dem Verlauf der Epidemie verknüpfen könnten.
1) Die nächste Weltwirtschaftskrise wäre gekommen, wahrscheinlich innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre, Deutschland befand sich de facto schon in einer Rezession. Die Menschen verstehen die krisenhaften Entwicklungen des Kapitalismus aber unglaublich schlecht, und da auch die nächste Flüchtlingskrise im Laufen ist (in Wirklichkeit nie richtig vorbei war), ist Europa auch ohne Coronavirus weiterhin in großer Gefahr*1.
Die Pandemie als Krise ist dagegen sehr verständlich. Die Menschen jammern zwar über Veranstaltungsabsagen, aber mittlerweile scheint zu den meisten durchgedrungen zu sein, wie ernst die Lage ist. Diese Krise könnte die sowieso anstehende politisch-ökonomische überdecken, und statt des Kampfes gegeneinander den Kampf aller gemeinsam gegen die Krankheit in den Mittelpunkt rücken. Dazu müssen aber auch demokratische Regierungen zeigen, dass sie der Lage gewachsen sind. Keinesfalls darf sich das Krisennarrativ einstellen, dass nur autoritär regierte Staaten mit solchen Herausforderungen zurechtkommen.
*1 Ein Leser wies mich darauf hin, dieser Satz lese sich so, als seien Flüchtlinge eine Gefahr. Die Gefahr, das sollte durch den Rest des Textes aber deutlich werden, sind nicht die Menschen die kommen, sondern die Erfahrung, dass Europa zwischen Wirtschaftskrise und Wahlsiegen rechtsradikaler Parteien endgültig abgewickelt werden könnte. Der Satz so allein stehend kann allerdings missverstanden werden. Er steht aber nicht allein.
2) Damit zusammenhängend: Westeuropäer heute sind nicht an ernsthafte Krisen gewöhnt. Auch deshalb vielleicht wird jedesmal der Untergang des Abendlandes befürchtet, wenn jemand mit der „falschen“ Hautfarbe beim Bäcker hinter einem steht oder Sparerträge sich nicht entwickeln wie erhofft. Innerhalb aller Krisen spielt neben harten Fakten die Psychologie (die natürlich auch ein Faktum ist, doch ein zum Teil zumindest wandelbares) eine wichtige Rolle. Vielleicht ist die Gesellschaft ein bisschen entspannter, wenn das nächste Mal ein paar hunderttausend Menschen Obdach suchen, wie es angesichts verschiedenster politischer Entwicklungen und des Klimawandels wohl noch öfter passieren wird. Immerhin können wir dann sagen, wir haben auch die Corona-Pandemie gemanagt. Natürlich: Dafür müssen wir jetzt erst einmal dieses Problem auch ernsthaft und zur Zufriedenheit der meisten Betroffenen lösen.
3) Apropos Klimawandel: Auch dahingehend könnte man hoffen, dass die Erfahrung, welche Einschnitte innerhalb relativ kurzer Zeit im Krisenfall möglich sind, ohne dass die Welt untergeht, sich zumindest in Teilen auch auf diese fortdauernde Krise übertragen lassen. Wenn, was jetzt innerhalb weniger Wochen geschehen musste, auf die nächsten 10 Jahre ausgedehnt würde, wäre dem Klima schon viel geholfen, und wir wissen jetzt, dass es geht. Auch eine Entflechtung der globalisierten Wirtschaft könnte anstehen. Nun senkt Regionalisierung nicht zwingend den CO2-Ausstoß, doch auch darauf darf man hoffen. Insbesondere, wenn Staaten (vgl.5) dahingehend nun entsprechende Weichen stellen.
4) Obwohl es immer noch Menschen gibt, die sauer sind, dass ihr Leben Einschränkungen erfährt: Im Moment sind Stimmen der Solidarität lauter, Einkaufsangebote für ältere Menschen, selbstorganisiertes E-Learning usw. – das sind alles Dinge, die ich schon in meinem Bekanntenkreis beobachten konnte; es scheint solches aber im ganzen Land zu entstehen. Exemplarisch auch ein Twitter-Thread aus Österreich. Im Moment scheint die Krise tatsächlich den Effekt zu haben, Menschen zusammen zu schweißen. Ich lese online auch insgesamt derzeit viel weniger Hassreden als sonst.
5) Zumindest kurzfristig scheint das Virus der Wegbereiter für das Ableben der neoliberalen ökonomischen Orthodoxie zu sein. Überall werden Hilfsprogramme aufgelegt, die womöglich sogar noch die zur Weltwirtschaftskrise von 2008 ff. übersteigen werden, und zumindest im Moment auch breiter angedacht sind denn als Hilfe für Großunternehmen, die dann von der Gemeinschaft refinanziert werden müssen. Hongkong hat sogar bereits Helikopter-Geld ausgezahlt, und da die Erfahrung der Entwicklungen nach der großen Rezession gezeigt hat, dass es nicht sonderlich effektiv ist, einfach immer mehr Geld über die klassischen Bankenkanäle in den Kreislauf zu pumpen, weil die, die es bekommen, es nicht ausgeben, könnte uns das durchaus auch noch bevorstehen. Und das ist gut, das ist notwendig. Gerade auf Hilfen für Arbeiter, prekär Beschäftigte, Kleinselbstständige und Künstler wird es ankommen. Die Ärmsten mit Geld zu verorgen ist der beste Konjunkturmotor: Dieses Geld fließt fast zu 100 Prozent unmittelbar zurück in den Kreislauf.
Seit jetzt mittlerweile mehr als einem Jahrzehnt gelingt es den entwickelten kapitalistischen Wirtschaften nicht, ihre Inflationsrate aus dem Keller zu bekommen, weil ohne Einkommenssteigerung in der breiten Bevölkerung die Nachfrage nicht steigt. Die Chance ist einmalig, durch die Pandemie eine Weltwirtschaftskrise nicht nur zu verdecken (vgl. 1), sondern sogar nachhaltig zu überwinden. Auch dafür wird es Kämpfe brauchen. Nämlich gegen das Krisennarativ „Wir haben jetzt in der Krise über unsre Verhältnisse gelebt, und müssen nun den Gürtel enger schnallen“. Was meist bedeutet, dass Sozialkürzungen den Haushalt sanieren sollen.
All das sind Ideal-Szenarien, aber vielleicht darf man hoffen, dass sich zumindest ein kleiner Teil verwirklicht. Keinesfalls soll dabei die Idee gefüttert werden, dass die Welt nun notwendige Verluste hinnimmt, um dann eine bessere zu werden. Nein: Je besser, also auch je weniger verlustreich, diese Krise gemeistert wird, das heißt, je mehr Menschen wir lebend und gesund durch die Pandemie bringen und je nachhaltiger wir das Virus bekämpfen, desto größer ist die Chance, dass die nächsten großen Kämpfe der Menschheit nicht mit dem Abflauen der Pandemie beginnen. Denn auch das ist eine reale Gefahr: Krisen, so etwa auch die große Rezession seit 2008, stärken zuerst das Establishment. Wenn es aber wieder aufwärts zu gehen beginnt, haben radikale Kräfte oft leichteres Spiel. Denn die Bevölkerung ist nun gewillt, wieder Risiken einzugehen und gleichzeitig noch geschädigt von den Erfahrungen einer schlimmen Zeit. Je mehr sich das Establishment in einer Krise selbst diskreditiert, desto größer ist diese Gefahr.
Deshalb ist auch das folgende im Auge zu behalten: China hatte den Lockdown bei 800 nachgewiesenen Fällen beschlossen. Bei 80 000 konnte die Epidemie eingefroren werden. Besiegt ist sie noch nicht, auch wegen der Gefahr von Re-Importen. Deutschland etwa hat die ersten Maßnahmen bei 3500 Fällen eingeleitet. Im besten Fall sieht man den Peak in 12 bis 20 Tagen (Grund ist die Inkubationszeit). Mindestens bis dahin ist also weiter exponentielles Wachstum zu erwarten. Wir könnten also, ehe die Kurve abflacht, noch bis zu 65.000 Fälle sehen, und auch dann wachsen die Fallzahlen noch eine Zeit lang weiter, nur langsamer. Das ist wie gesagt bereits der Idealfall.
Hier bestehen zwei Gefahren. Erstens: In westlichen Staaten könnte der Druck durch die Bevölkerung schon vorher groß werden, die Maßnahmen wieder zu lockern. Tenor: „Es bringt ja sowieso nichts.“ Die Fallzahlen in Großbritannien und in Deutschland dürften sich eben für ca. 2 Wochen noch fast parallel entwickeln, obwohl einer der beiden Staaten nun starke Einschränkungen beschlossen hat, der andere nicht. Gegen dieses Narrativ muss man sich stellen. Ich sagte das bereits in meinen älteren Corona-Posts: Auch wenn wir jetzt schnell handeln, wird es schlimmer, ehe es besser wird.
Die zweite Gefahr besteht darin, dass die Maßnahmen zu schnell gelockert werden, wenn es besser wird. Dann werden die Fallzahlen nach einem zeitweisen Abfall rasch wieder zunehmen, es gibt einen zweiten Peak, wie etwa Erfahrungen mit der Spanischen Grippe zeigen. Also ja: Es gibt durchaus einiges, was auch in dieser schweren Krise Hoffnung macht. Aber wir müssen in ganz verschiedene Richtungen wachsam bleiben.
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