Rechtsstaat – Ein missbrauchter Begriff
Der Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl hat bei LTO einen lesenswerten Beitrag über die „Gefährliche Rede vom „Rechtsstaat“ und die Verkehrung dieses Begriffs in sein Gegenteil geschrieben. Ein Grund für eine neue Debatte.
In den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass der Begriff des „Rechtsstaats“ immer häufiger in politischen Diskussionen auf eine Art und Weise verwendet wird, die seinen eigentlichen Gehalt ins Gegenteil verkehrt.
schreibt Maximilian Pichl und trifft damit ins Schwarze.
Wann immer Politiker in den letzten Jahren vom Rechtsstaat gesprochen haben, ging es ihnen um schärfere Gesetze, härtere Strafen oder stärkere Überwachung. In Wirklichkeit geht es also um mehr Macht für den Staat, um mehr Eingriffsmöglichkeiten und um mehr Überwachung. Mit Rechtsstaat hat das alles gar nicht zu tun.
Ein Rechtsstaat ist kein rechter Staat, sondern ein solcher, der auf der einen Seite durch seine Gesetzgebungsorgane Recht in Form von Gesetzen schafft und auf der anderen Seite seine Exekutive, also die ausführende Gewalt, auf die Einhaltung dieser Gesetze, insbesondere die Verfassung verpflichtet und das durch unabhängige Gerichte überprüfen lässt.
Ist Ihnen zu abstrakt?
Dann fangen wir mal ganz klein an. Das Grundgesetz sagt in Art. 20 Abs. 3
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
Das ist die Basis unseres Rechtsstaats. Der Rahmen in dem die drei Gewalten sich bewegen können liefert Art. 1 Abs. 3 GG
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Innerhalb diese gesteckten Rahmens gibt Art. 2 GG den Takt vor. Dort heißt es:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Das bedeutet nichts anderes, als dass jeder tun kann, was ihm beliebt, solange das nicht durch ein verfassungsmäßiges Gesetz verboten ist. Ob Gesetze verfassungsmäßig sind, überprüft wiederum ein Gericht, nämlich das Bundesverfassungsgericht. Der Bürger darf also zunächst einmal tun was er will, sofern er sich im Rahmen der Gesetze bewegt. Und diese Gesetze dürfen ihn nur in seiner Freiheit einschränken, wenn diese Einschränkung nicht verfassungswidrig ist, weil sie in unzulässiger Weise in die Grundrechte der Bürger eingreift.
Gerade die wortgewaltigen Politiker, die so gerne den Rechtsstaat beschwören, sind häufig dieselben, deren „großartige“ Gesetze dann vor dem Verfassungsgericht scheitern.
Diese Freiheit zu tun, was man will, hat aber nur der Bürger und nicht etwa auch der Staat. Der darf, ganz egal, ob nun als Polizei oder als sonstige Verwaltung, nur die Dinge tun, die ihm ausdrücklich durch das Gesetz eingeräumt wurden. Der braucht für sein Handeln eine sogenannte Ermächtigungsgrundlage. Macht der Staat etwas, für das es an einer solchen Ermächtigungsgrundlage fehlt, dann kann der Bürger dagegen klagen und dann wird der Staat durch ein Gericht zurückgepfiffen.
Wenn Politiker meinen, sie würden den Rechtsstaat stärken, indem sie z.B. immer mehr die rechtlichen Möglichkeiten im Asylverfahren einschränken wollen, dann ist das im Gegenteil eine massive Schwächung des Rechtsstaats. Der Rechtsstaat lebt davon , dass auch gerichtliche Entscheidungen einer weiteren Kontrolle durch den Instanzenzug unterliegen. Je mehr man diese Möglichkeiten beschneidet, gefährdet man die Gewähr dafür, dass am Ende eine richtige Entscheidung getroffen wird.
Nein. All diese Politiker, die – wie z.B. Herr Dobrindt – Anwälten vorwerfen, sie seien Bestandteil einer „Anti-Abschiebe-Industrie“ und „Abschiebe-Saboteure“, die den „Rechtsstaat von innen heraus bekämpfen“ haben nicht verstanden, was der Rechtssaat ist. Wer sagt „Diejenigen, die durch Klagen kriminelle Asylbewerber weiter im Land halten, missachten dieses Recht.“ beleidigt nicht nur ein Organ der Rechtspflege, sondern er macht auch deutlich, dass ihm eine ungebremste „Abschiebeindustrie“ wichtiger ist, als die Grund- und Menschenrechte der Betroffenen. Was für ein Verständnis vom Recht und vom Rechtsstaat muss wohl ein Politiker haben, der so eine verfassungswidrige Politik verfolgt?
Maximilian Pichl weist zu recht darauf hin, dass dieser Missbrauch des Begriffes Rechtsstaat, nicht nur in der Politik mittlerweile gang und gäbe ist. Auch vereinzelte Richter scheinen diesem neuen Rechtsstaatsbegriff zu frönen.
Ein schlechtes „Zeichen“
Richter Peter Königsfeld, Richter am Amtsgericht Kerpen, verurteilte eine Hambach-Aktivistin zu 9 Monaten Jugendstrafe ohne Bewährung, weil er der Meinung war, der Rechtsstaat erwarte ein deutliches Zeichen. Dann meinte er noch „Dieses Urteil ist auch ein Verdienst der hier anwesenden Sympathisanten“, um sich mit seiner mündlichen Urteilsbegründung endgültig ins rechtsstaatliche Abseits zu schießen. „Der Rechtsstaat“ hat keine andere Erwartung an den Richter, als ein an Recht und Gesetz orientiertes Urteil. Gerade im Jugendstrafrecht, dass ein Erziehungsstrafrecht ist, haben solche Erwägungen nichts, aber auch gar nichts verloren. Was der Richter vermutlich meint, ist, dass das „Volk“ in dessen Namen er sein Urteil spricht, ein deutliches Zeichen erwartet. Aber auch das hat in einem Jugendstrafverfahren keine Rolle zu spielen. Bereits 1960 – also schon so lange her, dass der ein oder andere Jugendrichter das nicht mitbekommen haben könnte – hat der BGH dazu gesagt:
Vor allem darf der Strafzweck der Abschreckung anderer (BGH JR 1954, 149; BGH GA 1954, 309; 1955, 364 – jeweils bei Herlan -) keine Rolle spielen. Denn dieser Gesichtspunkt berücksichtigt nicht das Interesse des Jugendlichen, das, wie hervorgehoben, das Jugendgerichtsgesetz beherrscht.
Dieses Urteil, das keinen Bestand haben kann und wird, zeigt, wie der Begriff des Rechtsstaats zu einem Synonym für Härte und Unnachgiebigkeit geworden ist, obwohl dieser Begriff doch ein Synonym für Gesetzlichkeit, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz sein sollte. Rechtsstaat bedeutet auch, sich nicht vom „Volk“ und seinem meist ungesunden „Volksempfinden“ jeck (allen Karnevalsfreunden ein dreifaches Alaaf, meinetwegen auch Helau oder Aloah) machen zu lassen.
Es fällt seit Jahren in der Politik auf, dass Politiker wie Gerhard Baum, Burkhard Hirsch oder Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, also Personen, die sich für Bürgerrechte, Freiheit und Gerechtigkeit einsetzten (und dies trotz z.T. hohen Alters auch noch tun) kaum Nachfahren gefunden haben. Eine Bürgerrechtspartei ist zur Zeit im Bundestag nicht erkennbar. Das ist tragisch für unsere Demokratie, auch und gerade im Hinblick auf den Rechtsstaat. Der heutige Liberalismus, so wie er von der FDP und vor allem von Christian Lindner verkörpert wird, ist vor allem ein Liberalismus, der der Wirtschaft freien Lauf lassen will. Von Bürgerrechten ist da nicht viel zu sehen. Bei den anderen demokratischen Parteien sieht es nicht besser aus.
Lautsprecher
Stattdessen diese elenden Lautsprecher, diese krähenden Vögel, die bei jeder schweren Straftat nach schärferen Regeln gieren, wohl und gerade auch, um von eigenen Versäumnissen abzulenken. Was in Lügde passiert ist, ist keine Niederlage des Rechtsstaats, es ist eine Niederlage der Politik, die seit Jahren lieber die schwarze Null anbetet, statt die Polizei und die Justiz mit hinreichend Personal auszustatten. Ein Straftäter kann die Sicherheit gefährden, aber er gefährdet nicht den Rechtsstaat. Wie sollte er auch. Dieser Rechtsstaat ist u.a. dazu da, Verbrecher angemessen zu verurteilen. Er ist aber auch dazu da, unschuldigt Angeklagte freizusprechen und damit eine falsche Anklage der Exekutive in Form der Staatsanwaltschaft zu korrigieren. Und er ist dazu da, den Beschuldigten und Angeklagten eine effektive Verteidigung zu gewähren.
Ja, der Rechtsstaat ist in Gefahr, aber weniger durch böse Asyl“betrüger“ oder schlimme Verbrecher, sondern vielmehr durch die, die sich stets auf ihn berufen, wenn sie wieder einmal Freiheitsrechte der Bürger einschränken oder gar völlig abschaffen wollen. Der Begriff Rechtsstaat verkommt zur Kampfvokabel für Politiker und verliert zunehmend seinen eigentlichen Sinn.
Maximilian Pichl dazu:
Der Rechtsstaat entstand in den Auseinandersetzungen des liberalen Bürgertums gegen die Feudalgewalt und sollte auf der einen Seite die eigene ökonomische Herrschaft in Form des Privateigentums absichern, aber zugleich – und hier liegt sein emanzipatorisches Moment – das erstarkende staatliche Gewaltmonopol einer umfassenden Kontrolle unterwerfen. Zu diesem Zweck entstand sukzessive ein engmaschiges rechtsstaatliches Netz aus Gerichten, Rechtsverfahren, subjektiven Rechten und Rechtsbeiständen, die Einzelne vor staatlicher Gewalt schützen sollten.
Rechtsstaat meinte in diesem Sinne gerade nicht „Law&Order“.
Kontrolle
Rechtsstaat bedeutet Kontrolle der Staatsgewalt, nicht deren willkürliche Ausweitung. Rechtsstaat bedeutet Rechtsweg, ständige Überprüfung der gewonnenen Ergebnisse. Rechtsstaat bedeutet Rechtsmittel und effektiven Rechtsschutz, nicht deren permanente Einschränkung. Rechtsstaat bedeutet Schutz des Einzelnen vor der Macht des Staates. Rechtsstaat bedeutet Gewaltenteilung und -kontrolle und nicht das Palmersche Ideal von Opfer, Polizist, Richter in einer Person.
Nichts davon haben die Seehofers, Dobrindts, Wendts und Gnisas im Sinn, wenn sie vom Rechtsstaat sprechen. Bei denen bedeutet Rechtsstaat vor allem mehr Recht für den Staat und weniger für den Bürger.
Pichl meint:
Wenn der Rechtsstaatsbegriff, die Sicherheit und das Gewaltmonopol immer wieder in einen Topf geworfen und bis zur Unkenntlichkeit vermischt werden, dann ist einer Aushöhlung des Rechtsstaatsprinzips der Boden bereitet.
Da hat er Recht.
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