Ein Leben
Kolumnist Philipp Mauch meinte auf seiner Facebookseite, das Problem der Obdachlosigkeit sei leicht zu lösen. Uwe Fischer hat da seine Zweifel.
Am 14.12.2018 schrieb Kolumnist Philipp Mauch auf seiner FB-Seite folgendes:
Unsere Regierung kann es schaffen, die ca. 1 Mio Obdachlosen Deutschlands in das System zu re-integrieren. Sie kann die Bereitstellung von genügend Wohnungsraum und genügend Mittel für die Grundsicherung schaffen. Wer auf der Straße sitzt, bekommt einen Platz in einer Unterkunft angeboten, wer in einer Unterkunft ist, bekommt einen Job angeboten, wer einen Job hat, bekommt eine Wohnung angeboten. Im Übrigen waren 2017 laut der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe mehr als die Hälfte aller Obdachlosen Flüchtlinge. Dieses Land braucht also keine identitätsbeladenen Spurwechsel, sondern Aufstiegsmöglichkeiten für alle.
Wer die Integration ausschlägt, wobei für Migranten natürlich härtere Bedingungen gelten als für deutsche Staatsbürger, ist dafür selbst verantwortlich. Das bedeutet Sanktionen und/oder Abschiebung.
Mit den Aufstiegsmöglichkeiten muss natürlich auch eine Prävention des sozialen Abstiegs verbunden sein, also die Möglichkeit für Geringverdiener, Vermögen aufzubauen. Bekanntlich hat Deutschland die mit am wenigsten vermögendste Bevölkerung Europas (Medianwert). Hierzu habe ich schon einmal vorgeschlagen, für Familiengründer bis zum Alter von 35 Jahren die Haushaltseinkommen bis zu 36 k im Jahr steuerfrei zu stellen. Dadurch werden Anreize geschaffen, schnell eine gute Ausbildung zu durchlaufen und Familien zu gründen, was wiederum Wachstum schafft und somit gut für die nachhaltige Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ist.
Dazu folgende wahre Geschichte aus meinem Leben:
Ich habe B. auf dem Gymnasium kennengelernt, wir befanden uns in der gleichen Jahrgangsstufe , teilten Geburtsjahr und Geburtsmonat, hatten einige Schnittmengen bei unseren Freunden und verstanden uns ohne besonders engen Kontakt gut. B. war das, was Udo Ulfkotte mit seinem rechtslastigen Lob als blonde, intelligente, rein deutsche Frau hätte bezeichnen können, allerdings bewegte sich B. weit entfernt von antisemitisch-esoterischen Gedanken oder von einem völkischen Frauenbild derer, der dieses Lob zugedacht war. Sie war eine tolle Frau und ein ebensolcher Kumpel, humorvoll und lebensfroh, beliebt und beruflich erfolgreich, mit scharfer Zunge und mit Gefühl. Nach der Schule trennten sich unsere Wege, allerdings begegneten wir uns in größeren Abständen immer wieder. Ihr Leben verlief so, wie man sich das Leben einer solchen Frau vorstellen konnte, Langeweile – Fehlanzeige. Wenn am Wochenende mal nichts anderes auf dem Plan stand, flog sievielleicht mal spontan mit ihrem Freund zum Tennisturnier an den Hamburger Rothenbaum, hatten beide Lust auf Party, konnte es mit dem nächsten Flieger nach Ibiza gehen.
Alles war da
Alles war da, so viel war möglich, an einem solchen Leben hält man doch fest, wenn keine einschneidenden Erlebnisse das Glück trüben, oder? Während B. dieses Leben führte, brachte ich Familie, Beruf und meine wüste Clique unter einen Hut, durchlebte eine friedliche, nichtsdestotrotz schmerzhafte Trennung, die Krankheit und das qualvolle Sterben meines Vaters, den damit verbundenen, lange währenden Absturz meiner Mutter (die heute mit ihren über 80 Jahren das blühende Leben ist und den entgegengesetzten Weg von B. ging), den plötzlichen Tod des besten Freundes in meiner unmittelbaren Nähe, dazu diverse Kleinigkeiten am Rande dieses Irrsins und wusste auf die Frage eines guten Freundes, warum ich mir nicht einfach die Kugel gebe bei all diesen Dramen, keine wirkliche Antwort. Irgendwie war es ein Lernen, ein Reifen an den Nackenschlägen, eine Entwicklung. Hätte man mir zuvor eine solche Lebensquase prognostiert, ich hätte mich nicht da gesehen, wo ich am Ende herauskam. 5€ in das Phrasenschwein – es kommt halt immer anders, als man denkt. So auch bei B. Die traf ich irgendwann inmitten ihres perfekten Lebens wieder. Sie war gut gelaunt wie immer, allerdings seit kurzer Zeit von ihrem Freund getrennt und vorübergehend arbeitsunfähig, Dank eines eingegipsten Beines. Und wenn Mann getrennt ist und Frau auch, sich beide gut verstehen, dann lässt sich bei einem Kaffee oder einem Wein unkompliziert plaudern und sich gegenseitig stützen. Aus diesem Geplauder heraus ergab sich ein Besuch des Weihnachtsmarktes Münster und der sich daraus ergebenden Frage: „In der Weihnachtszeit die Fassade der Galerie Lafayette in Paris so toll gerschmückt, sollen wir nicht mal dahin fahren?“
Paris und eine Flasche Bier zum Frühstück
Und so fuhren wir ein paar Tage später los. Gepäck für ein paar Tage im Kofferraum, dazu eine Kiste Bier und vorne wir, zwei Flaschen Sekt und zwei Gläser, man lebt ja nur nur einmal. Der erste Abend war schön, wenn auch begleitet von einem diffusen Gefühl der Irritation, das ich damals gar nicht zuordnen konnte. Im Rückblick war es der für mich spürbare Beginn einer Geschichte, die tragisch enden sollte. Am nächsten Morgen dann: „Steh auf, wir gehen frühstücken.“ „Geh erst ans Auto und hol mir ein Bier!“ „Wie Bier? Wir gehen jetzt frühstücken.“ „Erst brauche ich Bier!“ „Nein!“ „Doch“ „Nein!“ usw. Dann: „Verdammt nochmal, ich brauche jetzt ein Bier, ich bin Alkoholikerin!!!“ „Du bist keine Alkoholikerin, du bist bekloppt! Ich gehe jetzt frühstücken“ Der Tag konnte aber nicht beginnen, ohne dass ich tatsächlich nach dem alleinigen Früstück zum Parkplatz ging und eine Flasche Bier auf das Zimmer brachte. Die Tage in Paris verbrachten wir in einem Wechsel aus angenehmen Erlebnissen und merkwürdigen Verhaltensweisen von B. Der Eiffelturm, Montmartre. Boule‘ Mich‘, Galerie Lafayette. Als Kontrastprogramm die wohl seltsamste Kneipe, die ich je sah. Die frawürdige Fassade mit Balken abgestützt (ich musste da rein, B. weigerte sich zuunächst), der Boden mit Sägespänen übersäht wie in einem alten Western (Spucknäpfe sah ich keine), die beste rockige und jazzige Musik aller Kneipen, das Publikum zwischen Düsseldorfer Lackschühchen mit Goldketten und Mohairpullover und am anderen Ende des Spektrums abgerissenen Freaks, denen man keinen rostigen Nagel zur Aufbewahrung anvertraut hätte. An einen dieser Freaks gerieten wir. Natürlich. Zwei ahnungslose Touris und ein abgezockter Typ, der uns abenteuerliche Geschichten erzählte, die wir mit Bier und Essen bezahlten. Ob seine Begegnungen mit den prominentesten aller Promis, seine abenteuerliche Rettung aus dem von Terroristen in den Libanon entführten Flugzeug, seine Geschichten über längst verstorbene Magiere – jeden Bissen, jeden Schluck war er wert. Dreisprachiges Kauderwelsch, neue Story, neue Bestellung – wtf is Claas Relotius? Am Ende der Begegnung schrieb er den Namen eines Magiers auf einen Zettel und beschwor uns, dessen Grab auf dem alten Teil des Pere Lachaise zu besuchen, es würde sich lohnen. Wir würden Erstaunliches erleben, dieser Mann hätte mit Aleister Crowley verkehrt (stimmt nicht) und wäre ein wirklicher Zauberer gewesen (wer weiß). Ich war begeistert, B. erwartungsgemäß nicht, wir machten uns am nächsten Tag dennoch auf, schließlich wartete auch noch Jim Morrison auf uns. Und niemand, der nicht bei Jim Morrison vorbeigeschaut hat, kann jemals wirklich in Paris gewesen sein. Anderslautende Behauptungen sind Fakenews.
Allan Kardec, so hieß der Magier, existierte tatsächlich, sein Grab befindet sich auf dem alten Teil des Pere Lachaise, gefunden haben wir es allerdings nicht. Der Name war von den Hinweistafeln gestrichen, die Friedhofswärter reagierten auf meine Nachfrage mit passagerer Taubheit. B. war komisch, ein Tag im dezemberlichen Nieselregen auf einem riesigen, alten Friedhof schien ihr nicht gut zu tun, aber auch andere Reaktionen irritierten sehr. Zurück in Deutschland tranken wir noch ein letztes Gläschen Sekt, bevor wir ohne konkrete Verabredung auseinandergingen. Hin und wieder telefonierten wir, aber der Zauber der ersten Begegnungen war erloschen und machte einer behutsamen Distanz Platz. Klar war nur, dass es B. nicht gut ging und unsere gelegentlichen Kontakte neben allen freundschaftlichen Phasen immer unpersönlicher wurden. Die merkwürdige Atmosphäre von Paris hatte auch im vertrauten Umfeld Bestand.
Der Umzug
Eines Tages dann rief sie mich an und verkündete überraschend, dass sie umziehen würde, raus aus dem Zentrum unseres großen Stadtteils mit bester Infrastruktur in die Einsamkeit eines Vorortes, das Umfeld ihrer aktuellen Wohnung sei ihr zu hektisch. Arbeit hätte sie jetzt auch keine mehr, da müsste sie ohnehin nicht mehr so zentral wohnen. In diesem Gemütszustand war das für mich keine gute Idee, aber die Entscheidung stand und jegliche Widerrede bestärkte sie umso mehr. Hilfe beim Umzug? Sie würde sich melden. Diese Meldung kam, allerdings hatte sie den Umzug da bereits hinter sich gebracht, ich solle sie doch mal in der neuen Wohnung besuchen. Gesagt – getan. Es war eine sehr schöne Wohnung, viel kleiner als die letzte, etwas dunkler, da im Souterrain gelegen und wirklich weit ab vom Schuss. Unsere Gespräche schleppten sich dahin, wirkten gezwungen und ohne persönliche Note. Paris? Ja, war toll, sollten wir wiederholen. Aber nicht mehr in diese ätzende Kneipe und so etwas Morbides wie ein Friedhof ist ja auch doof. Klar, machen wir, gibt ja genug zu sehen, was schön ist, wir machen gelegentlich mal was aus, muss ja nicht zur Weihnachtszeit sein, demnächst mal, wieder ganz spontan. Der nächste Anruf war anstrengend. Ich hatte eine Arbeit, bei der ich zu einer unmenschlichen Zeit aufstehen musste – um 2 Uhr in der Nacht war der Schlaf für mich vorbei. Wenig Schlaf gehörte damals zu meinem Leben, wenn ich nicht alles verpassen wollte, was mein großer Freundeskreis erlebte, aber ab und zu ging ich gleich nach der Arbeit ins Bett und stand erst zur nächsten Arbeitsrunde wieder auf. Der Anruf von B. kam zur falschen Zeit. Sie brauchte dringend Bier, bei ihr im Ort gäbe es um diese Zeit nichts mehr, ich sollte doch mal eben etwas holen und ihr vorbeibringen. Quer durch die Stadt, raus aufs Dorf und zurück – mehr als zwei Stunden Matratzenkontakt in der eigenen Wohnung wären mir nicht geblieben, ich sagte „Nein!“ Das folgende Gespräch wechselte zwischen Small Talk und Gequengel, ich blieb konsequent und war mächtig stolz auf diese für mich damals noch recht ungewohnte Härte, musste man doch sonst nur die richtigen Knöpfe drücken und ich konnte einer solchen Mitleidsmasche nicht widerstehen. Die Belohnung erhielt ich schnell, irgendwann im Gespräch hörte ich ihre Türklingel, das Gespräch wurde mit einem hektischen „Oh, A. ist gekommen, der bringt mir Bier!“ beendet. Der Kontakt zu B. brach ab. Eines Tages wählte ich wieder ihre Nummer, der Anschluss existierte nicht mehr. Gefangen in den Klärungen meiner eigenen Belange dieser Zeit begab ich mich auf eine nur halbherzige Suche nach ihr und blieb ohne Erfolg.
Absturz
Nur ein Gerücht drang zu mir vor, B. sei total abgestürzt, mehr erfuhr ich zunächst nicht. Hatte sie nicht weitere Freunde? Eine intakte Familie? Viele Menschen aus der Zeit der immer gut gelaunten B.? Dann wird das schon und ich bin nicht zwingend gefragt. Dann aber hörte ich von einem guten Freund, dass B. tatsächlich völlig abgestürzt war, obachlos wurde, in einer Obdachlosenunterkunft lebte, unter gesetzlicher Betreuung stand und sich nun in einer Reha befinde. Ein Schock, wenn auch rückblickend diese Entwicklung nicht sonderlich überraschend war. Doch liegen zwischen einer solchen Möglichkeit und dem tatsächlichen Ereignis ganze Welten, Welten der Verdrängung oder der Hoffnung, der Gleichgültigkeit oder der Hilflosigkeit. Meinen Kampf habe ich an anderer Stelle geführt und wusste allen vorübergehenden Selbstzweifeln zum Trotz, dass zwei solcher Kämpfe zur gleichen Zeit nicht zu bewältigen sind, der Helfer wird dann unweigerlich selbst zum Hilfebürftigen und hat kaum eine Chance, sich diesem Strudel der probleme unbeschadet zu entziehen.. Monate danach ging mein Telefon – B. war zurück! Große Freude, große Unsicherheit. Ein paar wenige, ganz banale Worte zu ihren letzten Monaten, dann die Einladung zu einem Besuch, sie wohnte wieder in meiner Nähe. Ich ging los, wollte sie spontan besuchen. Stand vor der Tür, kehrte um. Wusste nicht, was ich machen sollte, wusste nicht, wie ich mich verhalten kann. Nächster Anlauf, nächste Umkehr. Dann die Überwindung. Ein Anruf, ein fester Termin, keine Ausflüchte mehr. Ich ging hin. Die Begegnung war herzlich, alles schien wieder normal. Die Wohnung – ok, ein absolutes Chaos, nur ein Stuhl, der für mich erst freigeschaufelt werden musste, das Schlafzimmer voller Säcke mit irgendwelchem Zeug (kein Müll immerhin), der Kaffee wurde im Bad zubereitet- löslicher Kaffee und warmes Wasser aus dem Wasserhahn. Wir saßen in diesem Chaos, der Fernseher lief, wir unterhielten uns. Die alte Freundschaft – eine Beziehung oder ein Verhältnis hatten wir nie – kroch aus dem Chaos hervor. Eine Quizsendung lief, ein Paar musste als Team Fragen beantworten und konnte eine nette Summe an Geld gewinnen. B. begann vorsichtig zu träumen. Wir seien doch auch ein gutes Team für eine solche Sendung, sie hätte dieses Wissen, ich jenes. Wir würden uns wunderbar ergänzen, wir kännten in dieser Show durchaus etwas bewegen und gewinnen. Ob sie nicht mal eine Bewerbung für uns rausschicken soll? Irgendwann verabschiedete ich mich, hatte noch einen Blick auf die vielen Säcke im Schlafzimmer, eine letzte Umarmung mit B., unter deren schlecht gepflegtem Äußeren die alte, lebensfrohe, lebenstaugliche B. durchschimmerte. Ein sicheres Versprechen für ein nächstes Treffen und das Wissen, dass es kein leeres Versprechen sein würde.
Kein Quiz
Es gab aber kein Treffen mehr, dafür aber auf Umwegen die Nachricht, dass B. nicht mehr lebt. Keine genauen Angaben, niemand konnte oder wollte mir etwas sagen. Keine Quizshow, kein Reichtum durch eine fantastische Teamleistung. Nicht mehr Paris ohne Kneipe und Pere Lachaise, keine Party auf Ibiza. Nur nach Jahren, in denen diese Erinnerung in einem immer immer mehr werden Ordnern meines Lebens abgelegt wurde, die Frage: Wären wir in diese Show gekommen, hätten wir viel Geld gewonnen – wäre das Leben von B. durch dieses Geld anders verlaufen? Hätte sie sich eine Arbeit, eine Wohnung, eine erfolgreiche Therapie davon kaufen können? Die Lösung aus dem Elbenbeinturm: „Hier hast du Geld, mach mal Deine Probleme weg!“? Auf diese Frage kann es keine sichere Antwort geben, es gibt nur meine persönliche Antwort und weitere persönliche Antworten all derer, die B. kannten. Und meine Antwort lautet: „Nein!“. Denn B. war zuvor nicht arm, B. hatte eine Familie, B. hatte Therapien, B. hatte eine Betreuung. B. hatte alle Voraussetzungen die es braucht, um ein glückliches und erfolgreiches Leben zu führen. Aus diesem Leben fiel sie heraus und fand nicht mehr zurück. B. kannte so viele Menschen, mit B. hätten viele Menschen ihr Leben getauscht. Und ich bin mir sicher, dass B. sich auf einen solchen Tausch eingelassen und die Arschkarte des Lebens gerne abgegeben hätte. B. war kein Auto, das repariert werden musste, sie war kein Haus, das renoviert werden konnte. B. war ein Mensch und brauchte kein Geld um gerettet zu werden. Was sonst? Ich weiß es nicht.
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