Central Station & Generelles zum „Roman in Kurzgeschichten“
Sören Heim schaut sich Lavie Tidhars Central Station an und denkt über den „Roman in Kurzgeschichten“ nach.
Der Roman in Kurzgeschichten, oder der literarische Kosmos in Kurzgeschichten, je nachdem, wie eng die einzelnen Texte verflochten sind, ist die vielleicht beste Möglichkeit, literarische Komplexität und Zugänglichkeit zu vereinen. Je kürzer ein Text, desto weniger rein marktschreierische Kompromisse müssen gemacht werden, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln, und eine Reihe klug verknüpfter kurzer Texte kann auf 100 oder 200 Seiten eine Welt aufspannen, die die klassische What-Happens-Next-Erzählung auf 1000 Seiten nicht entfaltet bekommt.
Lesbarkeit und Komplexität
Der Roman in Kurzgeschichten vereint Lesbarkeit und Komplexität. Man mag das für einen faulen Kompromiss halten, doch die Kritik am ausufernden modernen Roman ist ja nicht einfach an den Haaren herbei gezogen. Redundanz, Füllmaterial, das sich Verlieren in Einfällen, die auch dann nicht gestrichen werden, wenn sie sich als Totalausfälle herausstellen, belasten seit jeher den Roman als Kunstwerk. Und die Länge! Gerade die Länge bzw. der Fetisch der Länge ist ja auch nicht reiner ästhetischer Notwendigkeit geschuldet, sondern selbst gewissermaßen eine Form des Marketings. Lange forderten Verlage von ihren Autoren dicke Bücher, noch heute erlebt man als Neuling, dass man gebeten wird, eine kunstvolle 70 Seiten Novelle auf 300 Seiten auszubauen und „wow, ist das dick“, wird wohl jeder Leser eines dickeren Buches schon mal als Ausdruck skeptischer Anerkennung vernommen haben.
Der Roman in Kurzgeschichten wird auch der zentralen Herausforderung des modernen Erzählens gerecht: Brüchigkeit von Existenzen und Narrativen erfahrbar zu machen, wobei er zugleich nicht so zur Auflösung einer jeden Struktur tendieren muss, wie es dem klassisch modernen Roman gegeben zu sein scheint. Gelungene Beispiele aber gibt es auf den ersten Blick wenige. Eva Menasses Quasikristalle zerfällt in unverbundene, noch dazu als Einzelne kaum funktionierende Erzählungen, Gogols Klassiker Abende auf dem Weiler bei Dikanka gelingt es, Erzählungen im selben Dorf spielen zu lassen, ohne dass sich deren Protagonisten je über den Weg laufen und Joyce Dubliners wurden verfasst, ehe der Autor begann, sich über den inneren Zusammenhalt seiner Werke tiefergehende Gedanken zu machen.
Auf der anderen Seite allerdings verknüpfen nicht wenige moderne Klassiker, denen man es auf den ersten Blick gar nicht ansieht, bereits mehrere kürzere Erzählungen zu einem Gesamtwerk. Das Grüne Haus von Mario Vargas Llosa springt regelmäßig zwischen mehreren Texten von schmaler Novellenstärke. Pynchons Against the Day verfährt ähnlich. Und ein Meister des Faches ist Roberto Bolano – sei es in seinen dichten Novellen wie Amuletto oder Stern in der Ferne oder noch im Mammutwerk 2666. Und dann ist da natürlich noch Oliver Plaschkas Fairwater…
Central Station
Das gefeierte Central Station von Lavie Tidhar ist ein echter Roman in Kurzgeschichten. Oder von mir aus, weil manche Rezensenten schon wieder jammern, das sei kein Roman: ein literarischer Kosmos. Wie dem sei: Central Station ist ein dicht gepacktes Stück Science-Fiction, rund um die namensgebende Central Station zwischen dem noch jüdischen Tel Aviv und Jaffa. Central Station ist die Verbindung dieses Teils der Erde in das besiedelte Sonnensystem und womöglich das weitere All, dessen Geheimnisse und Bewohner dem Leser immer nur in Schlaglichtern präsentiert werden. Die Geschichte ist vom Heute Jahrtausende vorangeschritten, und auch die Erde hat sich verändert. Kaum ein Mensch ist noch ganz Mensch, fast jeder zumindest zum Teil Cyborg, viele durch einen „Knoten“ mit der immerwährenden „Konversation“ verknüpft und in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den „Others“ lebend, an Engel oder Götter erinnernde Geisteswesen, deren technologische Herkunft erst spät im Roman zumindest ein wenig aufgeklärt wird. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass die Frage, was es bedeutet, „ich“ zu sagen, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven ein zentrales Thema von Central Station ist.
Die einzelnen Geschichten behandeln, zumindest in der ersten Hälfte des Romans, alltägliche Themen. Die Schwierigkeiten einer Mutter mit ihrem Kind, das Leben eines Altmetallsammlers, die Rückkehr der jungen Frau Carmel, die von einem „Strigoi“ gebissen wurde, auf die Erde. Die Szenen rund um Central Station malt Tidhar plastisch, in meist reduzierter Sprache, die, wo nötig, zu starker Bildlichkeit anschwellt. Faszinierend die Einsprengsel von „Battle Yiddish“, einer Form des Jiddisch, das besonders in einem lang zurückliegenden Krieg eingesetzte Roboter zu sprechen scheinen, und einer Art universalem Pidgin, in dem auch verschiedene Lieder und Gedichte notiert sind. Tidhar scheint es, so der Eindruck nach gut der Hälfte des Buches, nicht nötig zu haben, drastische, weltumspannende Geschichten von ewigen Kämpfen zu erzählen; das normale Leben, soweit man das von einem solch ungewöhnlichen Szenario sagen kann, hält genügend interessante Konflikte bereit.
Das – und damit auch die bis dahin sehr gelungene Balance zwischen einzelnen Erzählungen und den Verbindungen des Gesamtwerkes wird ab etwa der Hälfte von Central Station aufgegeben. Strigoi, wissen wir mittlerweile, sind eine Art Daten-Vampire, die mit der „Konversation“ verknüpfte Lebewesen beißen und Datenströme gegen Endorphine „tauschen“. Ursprünglich als Kriegswaffe entwickelt, streifen sie und ihre Opfer rastlos durchs Universum. Die Rückkehrerin Carmel und die Umstände ihrer Rückkehr werden zusehends zum Hauptplot von Central Station, der gesamte Text wird dadurch zum klassischeren Roman und lässt leider in der zweiten Hälfte auch ein wenig die atmosphärische Gestaltung schleifen (erst die letzten zwei Erzählungen verlassen den Carmel-Plot dann wieder).
Dennoch bleibt Central Station ein im Großen und Ganzen überzeugendes Werk, das die interessante Konstruktion auch sprachlich stark zu gestalten vermag. Tidhar hätte sich die Zuspitzung auf Spannungsaspekte und den globalen Plot wahrscheinlich sparen und seinem Kosmos noch mehr Raum in kleinen Geschichten geben können, unter denen das Schicksal Carmels nur eines von vielen wäre. Zumal auch der „Hauptplot“ dann ja wieder versandet. Central Station hätte dadurch noch gewonnen, und die Leser, die Verfolgungsjagden und Verschwörungen im globalen Rahmen wünschen, dürften auf den ersten 100 bis 150 Seiten sowieso ausgestiegen sein.
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