Was sagt uns der „neue Rausch moralischer Askese“?
Menschen und Kulturen unterscheiden sich nicht danach, ob sie süchtig sind, sondern wonach sie jeweils süchtig sind, welche Süchte bei ihnen erlaubt, welche verpönt sind, und wer sich an die Spitze welcher Bewegung setzt.
Wir hier haben heute zum Beispiel das Rauchen weitgehend hinter uns. Filme, in denen noch öffentlich geraucht wird, sind nicht mal mehr anstößig, sondern nur noch kurios. Für echte Missionare ist da nicht mehr viel zu holen, zu gewonnen diese Schlacht. Also stürzen sie sich je nach gesellschaftlicher Orientierung auf die nächste „Droge“, der sie den Kampf ansagen. Für Konservative kommen in Frage: Heroin, Cannabis, Sex. Für Alternative: Burger, Plastiktüten und Macht. Immateriell bekämpfen Rechte zusätzlich noch die Wertevergessenheit, Linke den ungerechten und unsensiblen Gebrauch der Sprache. Radikal Säkularen fällt schon ein Kirchenbesuch unter Opiatmissbrauch, während Freikirchler Bedenken gegen den von allen anderen für gesund gehaltenen Besuch von Fitness-Studios haben – wegen der ungesunden Fixierung auf den eigenen Körper, von der man nur durch kalten Entzug und dauerhaft totale Abstinenz geheilt werden könne. Gemeinsam kämpfen sie aber immer öfter gegen Alkohol, Cholesterin, Internetsucht und Herzinfarkte.
Askese bis zum Exzess
Denn ja, auch Askese selbst kann zum Exzess werden, die vermeintlich vernünftige Selbstkontrolle zur Kontrollsucht – zur Missgunst gegen sich selbst und gegen andere. Wie aber unterscheidet man „unabschließbare Zwangshandlungen“ von einem nur vernünftigen Wunsch nach Selbstkontrolle und gesundem Leben?
Für Freud war das – relativ – klar: Kultur beruhte auf Triebverzicht, dieser führte jedoch zu Neurosen, denn etwas von der Rebellion des unterdrückten Triebes gegen die Instanzen seiner Unterdrückung bleibe immer übrig. Kollegen wie Wilhelm Reich, die für möglichst viel Genuss für jeden plädierten, traf konsequenterweise der Bannstrahl des Meisters. Es waren erst die späteren Freudleser, die sich – nach Krieg und Menschheitsverbrechen – noch einmal daran versuchten, den zwanghaften Triebverzicht seiner Gloriole des Fortschritts in der Geistigkeit zu entkleiden und schließlich auch in die allgemeine Erziehung der Menschen mehr Heiterkeit und Entspanntheit im Umgang mit dem menschlichen Triebleben und den diversen Genüssen des Lebens einziehen zu lassen.
Friedliche Erziehung in friedlichen Zeiten
Dieser Entwicklung verdankten wir über Jahre eine Tendenz zum Rückgang der Gewaltkriminalität und des Fanatismus – je weniger Gewalt und asketischer Rigorismus in den Kinderstuben herrschte, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die jüngeren Menschen zu halbwegs sozialen und produktiven und verantwortlichen und friedlichen Bürgerinnen und Bürgern heranreiften, das sahen zuletzt sogar eher konservative Kriminologen ein. Inzwischen haben wir ganze Generationen von Erwachsenen in Europa, die eine relativ friedliche Erziehung in relativ friedlichen Zeiten genossen haben. Ihre Schuldgefühle hegen sie nicht mehr so sehr gegen einen imaginären Vatergott, sondern eher gegenüber der ausgebeuteten Natur und den ausgebeuteten Völkern in anderen Erdteilen. Solange Menschen hoffen, mit ein wenig Vernunft, intelligenten Maßnahmen und einem maßvollen Leben die entsprechenden Fehlentwicklungen korrigieren zu können, werden sie nicht zu asketischen Exzessen neigen. Der Exzess – das kennt wohl jeder, der im Gebrauch des einen oder anderen Genussmittels schon einmal eine entsprechende Neigung an sich beobachtet hat – setzt immer da ein, wo die Hoffnung auf ein vernünftiges Maß von Kontrolle und Geschehenlassen frustriert wurde. Wo man es im Grunde aufgegeben hat.
Dies gilt eben nicht nur für die exzessive Verwendung der jeweils für gefährlich gehaltenen Drogen selbst – sondern auch für den exzessiven Verzicht auf das, was man heimlich am meisten begehrt.
Dieser Text ist als „zweite mögliche Version“ in einem Gespräch entstanden, das die Autorin mit dem zuständigen Redakteur Christian Rabhansl über das Politische Feuilleton vom 10.4.2018 geführt hat.
Veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis der Redaktion von Deutschlandfunk Kultur.
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