Sanftes Spätwerk eines jung Verstorbenen
Detlev Meyer galt als „der einzige Dandy der deutschen Literatur“, verschwieg seine Homosexualität nicht, hielt aber wenig von der Zuschreibung „schwule Literatur“. Anlässlich des 70. Geburtstags des 1991 verstorbenen Autors wird sein später Roman „Das Sonnenkind“ neu aufgelegt.
Carsten wächst im Neukölln der Fünfzigerjahre in einem mehrstöckigen Haus auf. Unten wohnen die Eltern, oben der Großvater und die Großmutter. Der Großvater ist ein „Grandseigneur“ und bringt dem Jungen bei, wie man sich richtig kleidet, wie man mit den Damen schäkert und lässt ihn Sinalco aus einem Cognacschwenker trinken (was das Umfeld sehr kritisch beäugt). Außerdem jongliert er seit Jahrzehnten Ehefrau und Geliebte. Carstens Bruder Stefan entdeckt derweil gerade Rock’n’Roll und die Sexualität, durch ihn lernt der neunjährige Carsten Dinge, die er eigentlich noch gar nicht wissen sollte. Ein Doktor zieht ins Haus und erweckt die schlummernde Hypochondrie (und manche Begehrlichkeit) der Großmutter Else wieder zum Leben, ein sensibler Komponist hat es auf Carstens Mutter abgesehen. Der Hausmeister Funke drangsaliert die Kinder beim Spiel und der Höhepunkt des Lebens der zahlreichen Bewohner der Trusewegs (die sich scharf vom Rest Neuköllns abgrenzen, denn dort lebten nur Gescheiterte und Gangster) scheint ein Filmdreh, der von so viel Applaus begleitet wird, dass er beinahe abgebrochen werden muss.
Literatur auf engstem Raum
Detlef Meyers Das Sonnenkind ist zwar nicht dem Namen, doch der Anlage nach einer jener Texte, wie ich sie in den „Gassenhauern“ bespreche: Literatur auf engstem Raum, die zahlreiche miteinander verbundene Schicksale zu einem Bild verwebt. Ich gebe zu: Das Werk des 1999 verstorbenen Meyers, für das dieser in den Achtzigern als „Virtuose des Leichtsinns“ (so die Zeit) bekannt wurde, ist mir neu. Meyer wurde einst als der einzige Dandy der deutschen Literatur gehandelt, lebte offen homosexuell und bearbeitete Homosexualität und die Aidskrise in seinem Werk, als andre noch verschämt darüber schwiegen. Von der Zuschreibung „schwule Literatur“ scheint er aber nichts gehalten zu haben:
Ich bin bereit, von schwuler oder heterosexueller Literatur dann zu sprechen, wenn ich in der nächsten Ausgabe der FAZ oder der Zeit lese, daß ein neues Werk der heterosexuellen Literatur erschienen ist.
Von den drastischen Themen die Meyer in seiner Biographie der Bestürzung ausgebreitet hat, findet sich im vom Aufbauverlag jetzt anlässlich des 70. Geburtstags des Autors in neuer Auflage herausgegebenen Das Sonnenkind wenig. Es handelt sich um einen beinahe idyllischen Text. Sprachlich ansprechend, im Wechsel glaubhafter Dialoge und einfach gezeichnete Bilder wird eine Nachkriegskindheit ausgemalt:
Carsten spielt vor dem Haus; er malt Schiffe auf den Bürgersteig, Äppelkähne und Ausflugsdampfer, wie er sie vom Neuköllner Schifffahrtskanal kennt, der keine fünfzig Meter vom Truseweg entfernt vorbei flíeßt. Man muss nur an der Ecke Weigandufer die Straße überqueren, durch die Büsche kriechen, und schon ist man auf der Uferpromenade, die dem Wasserlauf folgt. Herrlich ist so ein Kanal, herrlich und gefährlich! Ausschlag bekommt man, wenn man in ihm schwimmt, und eíternde Ekzeme (…)
Kinder retten einem Hund das Leben. Als ein Freund ein Tonbandgerät bekommt gründet die Bande Stephans einen Hörspielclub, der nie ein Hörspiel produziert. Immer wieder schleichen sich auch tragische Ereignisse in den Alltag des Trusewegs. Der Marlon-Brando Fan „Jack“ legt sich ein Moped zu und verunglückt. Die Dame Berta Barbe ist überzeugt in der Schauspielerin Frieda Garbe ihre verschollene Tochter zu erkennen und sucht erfolglos nach dieser. Und während Großmutter Else von all ihren Arztbesuchen pudelwohl wieder heimkehrt, trifft schließlich Großvater Max gesundheitlich ein schwerer Schlag.
Und auch, dass der Nationalsozialismus noch tiefe Gräben durch die Nachkriegszeit zieht, fällt nicht gänzlich unter den Tisch. Der Großvater war im Ersten Weltkrieg Panzergrenadier, der ostfronterfahrene Schwiegersohn, der den Krieg schon 1943 verloren gab, bleibt ihm immer ein wenig suspekt. Jener dagegen hält den Schwiegervater:
…für einen Gockel, Aufschneider,Schaumschläger, Gecken – und für einen alten Nazi.
Wahr ist, dass Wollin 193 5 in die NSDAP eintritt und wenige Monate später zum Prokuristen befördert wird…
Mehr Idylle als vulkanischer Grund
Allerdings: Wo die ähnlich dichten Stadtszenen Frido Lampes mit Recht als „Idyllen auf vulkanischem Grund“ bezeichnet werden, überwiegt in Das Sonnenkind das Idyllische. Die zahlreich angelegten „erwachsenen“ Konflikte werden im Gegensatz zu den kindlichen nicht ausagiert. Nicht nur: Nicht zwischen den Erwachsenenakteuren – Verdrängung wäre ja das Natürliche. Sondern sie werden auch als Verdrängtes nicht dramatisch bearbeitet, werden nie zugespitzt. So kommt der Nationalsozialismus dann auch nur als Kriegstreiber vor, unter dem der Vater litt. Dass der Nationalsozialismus auch noch andere Opfer hatte als deutsche Frauen und Soldaten ist nicht Thema. Im besten Fall mag da vielleicht eine unspezifische verkappte Gewalt unter der Oberfläche brodeln, wie es Matthias Frings im Nachwort mit Blick auf die zahlreichen, im Text so nonchalant angesammelten Schwächen der Bewohner des Trusewegs formuliert:
Max ist opportunistisch, und seine Frau Else eine Heuchlerin, Berta Barbe säuft,Mutter Rieke kokettiert mit dem Tonsetzer, Hauswart Funke ist ein falscher Fuffziger, Bruder Stephan reichlich geldgeil, und man hat nicht übel Lust, sogar der Hauptfigur des Romans, dem gewítzten Carsten, hin und wieder eine Kopfnuss zu verpassen, wenn er mal wieder vor Eitelkeit und Selbstliebe schier platzt.
Die Grundhaltung des Textes bleibt aber angenehm bis idyllisch, selbst der Tod wird gleich von Ausbrüchen zu neuen Ufern wieder fröhlich aufgefangen. Das ist doch etwas sehr zahm.
Verkappter Modernismus
Das faszinierendste an Das Sonnenkind ist sicherlich die Erzählperspektive. Die scheint auf den ersten Blick gänzlich kindlich: zwar in der dritten Person aber absolut auf Carsten fokalisiert. Doch wo immer Meyer mehr erzählen möchte, weicht er, ohne dass es deutlich markiert würde, von diesem Schema ab. Dann schaut er auf die Jahrzehnte der großväterlichen Affäre zurück, blickt in die Vergangenheiten anderer Trusenwegsbewohner und auf andere Orte, auf die ein Neunjähriger kaum blicken kann. Das Sonnenkind ist damit einer dieser Romane, die ich „verkappte Moderne“ nenne. Texte, die auf den ersten Blick sehr traditionell daherkommen und von auch gerne dafür gelobt werden, die aber ohne die literarische Revolution seit der vorangegangenen Jahrhundertwende nicht denkbar wären. Bei Meyer hinterlässt das einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits wirkt Das Sonnenkind dadurch sehr kompakt und souverän erzählt. Andererseits macht es sich das Aussparen vielleicht zu leicht. Einen allwissenden Erzähler, der es vorzieht einen Großteil seines Wissens nicht preiszugeben und sich immer wo es brenzlig werden könnte in ein neunjähriges Kind zurückzuziehen: Wer mag, kann darin allerdings auch eine durchaus treffende Parabel auf das vor-68er Nachkriegsdeutschland finden.
Das Sonnenkind ist ein schöner kleiner Roman ohne große Handlung, dem es hier und da an der letzten Konsequenz fehlt. Ob er es mit dem zu Lebzeiten erschienen meyerschen Werk aufnehmen kann, weiß ich nicht. Doch der Roman ist stark genug, genau darauf neugierig zu machen. Das ist in jedem Fall ein großes Verdienst der späten Wiederveröffentlichung.
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