Die dummen Verschwörungsdenker – wirklich alles so einfach?

Verschwörungsdenken und Esoterik sind „in“. Kolumnist Sören Heim geht der Frage nach, ob sich wirklich nur der Organisationsgrad der Szene verbessert hat, oder ob darüber hinaus nicht das aktuelle gesellschaftliche & mediale Klima den Irrationalismus stark begünstigt.


Als Kind/junger Jugendlicher konnte ich mich Ewigkeiten mit dem Buch Unglaubliche Phänomene beschäftigen. Da ging es um Ufosichtungen und Entführungen durch Außerirdische, um Prophezeiungen, Poltergeister, sprechende Mungos sowie natürlich Nessie und Bigfoot. Das Buch war ganz gut darin, nicht direkt die Wahrheit der erzählten Geschichten zu behaupten, aber trotz der Auflistung einiger Gegenargumente immer einen Rest Zweifel zu belassen: Könnte da nicht doch etwas dran sein? Tatsächlich haben sich gerade die Kids in meiner Schule, die damals schon skeptischer, reflektierter, dem großen Haufen gegenüber abgeneigt waren, fast alle eine Zeit lang mit solchem Kram beschäftigt. Und die wenigsten (ich kenne keinen) dürften heute noch einem esoterischen Weltdeutungssystem anhängen. Vielmehr sind es vergleichsweise reflektierte Zeitgenossen geblieben.

Von der Skepsis

Ich erinnere mich daran, weil gerade zwischen den Jahren ein Bericht einer Aussteigerin aus der Verschwörungsszene viral ging, der trotz all der dahinter steckenden persönlichen Erfahrung wieder die sehr einfache Erzählung über den Verschwörungsglauben bedient: Synopsis: Die sind gar nicht „wirklich“ kritisch, die schotten sich nur in ihrem Warnsystem gegen die komplizierte Welt ab. Das ist einerseits wahr: Ab einem gewissen Moment erstarrt die generelle Skepsis zum System, und wo 9/11-Truther, Chemtrailer und Reichsbürger zusammenfinden, muss viel mehr Arbeit in die Aufrechterhaltung eines kohärenten Systems der eigentlich kaum vernünftig zusammenpassenden Gedankengebäude gesteckt werden, als dass Raum für Zweifel bliebe. Aber hinterfragt wurde ja doch irgendwann mal. Und die Haltung, erst einmal gar nichts zu glauben, wäre durchaus die eigentlich skeptische („Skeptiker“ nennt sich bekanntlich die wohl aktivste Fraktion der Verschwörungskritiker). Pyrrhon von Elis bezweifelte alles – etwa dass man die Form eines Turmes bestimmen könne (aus der Ferne sieht er rund aus, aus der Nähe vielleicht achteckig – was ist wahr?), oder dass es einen Unterschied mache, ob er seinen Lehrer aus dem Sumpf ziehe oder ihn stecken lasse. Atharaxia, das entspannt-gleichgültige die Welt Welt sein lassen des Skeptikers vertrüge sich natürlich schlecht mit dem Glauben an Reptiloide – mit dem allgewaltigen und allgegenwärtigen Auftrumpfen „DAS IST ABER FAKT!“ allerdings genauso wenig.

Doch ich schweife ab. Ich möchte dem Leser nicht nahe legen, der Welt eine klassisch-skeptische Haltung entgegenzubringen. Die ist, aus Gründen aus denen sich Bücher füllen ließen und Bücher gefüllt wurden, höchst fragwürdig. Allein die materielle Gewalt physischer Erfahrung setzt ihr stets aufs Neue Grenzen. Aber ich möchte ein wenig den Zweifel schüren, ob der skeptische, verschwörungskritische Furor des Faktischen regelmäßig auf solch sicheren Füßen steht, wie er glaubt. Und falls dem nicht so ist, die Faktenhuberei nicht sogar den Verschwörungsglauben festigen helfen könnte.

Wer prüft wirklich all sein Wissen?

Vor kurzem ging es auf Facebook um „Flat-Earther“. Also Leute, die überzeugt sind die Erde sei flach. Jemand hatte, als eine einfache Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen, das berühmte Experiment mit dem Stratosphäreballon auf YouTube herausgesucht (eine recht günstige Möglichkeit selbst ins All zu fliegen, wenn man Nasa-Fotos nicht glaubt). Ich selbst hatte mich noch herrlich über die Kommentare darunter beömmelt. Allerdings, dass die Rundung der Erde durch die Kameralinse hervorgerufen werde oder eine optische Täuschung durch den Einfluss der Atmosphäre sei: streng widerlegen konnte ich das ad-hoc nun auch nicht. Das gilt auch für den Blick aus dem Flugzeug. Ich könnte nun weiter auf die Berechnungen des Eratosthenes verweisen, auf die Probleme, die sich für Reisende ergaben, die noch mit der Vorstellung einer flachen Erde reisten usw. und so fort. Allein: selbst nachgeprüft habe ich das wenigste davon. Ein gewisses Grundvertrauen ist nötig.

Im Regelfall also glauben auch wir, die wir so stolz darauf sind keinem wahnhaften Weltbild anzuhängen. Glauben vielleicht noch nicht der Autorität eines einzelnen Wissenschaftlers oder Regierungsvertreters oder Fußballstars – dann aber doch irgendwann einem Netz von Autoritäten und vielleicht für uns Laien halbwegs prüfbarer Indizien, die sich hoffentlich auch noch mit unserer Alltagserfahrung in Übereinstimmung bringen lassen. Tatsächlich die notwendigen Experimente selbst gemacht, die Berechnungen angestellt haben die wenigsten von uns. Einige mögen in bestimmten Fachgebieten bewandert genug sein, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen zu können: so ist es, und nicht anders, und das kann ich kleinschrittig und ohne Vertrauen in die Arbeiten anderer belegen. In den meisten Fällen wird es nicht so zu sein. Das Zauberwort heißt Plausibilität, nicht Faktizität.1

Und für junge Menschen waren wohl zu allen Zeiten esoterische Ideen, Berichte über „unglaubliche Phänomene“ und Verschwörungstheorien selbst erstmal ein Ventil, überhaupt an allzu sicher geglaubten Plausibilitätsgeflechten des Mainstreams, sprich der Erwachsenenwelt, zu rütteln.

Ist wirklich nur die Vernetzung besser geworden?

Und dann erstarrt das Ganze zu einem geschlossenen System. Geschieht das wirklich nur deshalb heute häufiger, weil sich die einzelnen Verschwörungstheoretiker, bei denen es nicht beim Zweifeln bleibt, besser vernetzen können? Sicher spielt das Internet eine große Rolle. Doch hat es einerseits das Verhältnis zur Welt grundlegender geändert und spiegelt teils nur Tendenzen, die auch ohne das Netz Bedeutung erlangt hätten. Und andererseits verschärft das Netz derzeit in alle Richtungen Polarisierung – Gruppen werden als nicht nur zueinander, sondern auch explizit gegeneinander geführt.

– Die Welt wird, teils real, teils der Berichterstattung nach, unsicherer. Soziale Systeme werden zerschlagen, die seit 2007/8 anhaltende Große Rezession hat Existenzängste endgültig bis weit in die Mittelschicht gespült. Im Netz finden die unterschiedlichsten realen Bedrohungen und Schweinereien zusammen. Und wie viel Scheiße weltweit abgeht, wird dadurch erst so richtig deutlich.

– Die großen landesweiten Presseorgane reagieren darauf, wie generell auf den eigenen Reichweitenverlust, mit einem deutlichen Zuwachs an Meinungsartikeln, Clickbaiting, sowie mit einem Zurückfahren der recherchierten Hintergrundstücke, und immer öfter werden, wie ich an anderer Stelle anhand politisch unverdächtiger Themen gezeigt habe, vermeidbare Fehler eingebaut, die dank Kommentarfunktion leicht offen gelegt werden können, ohne dass ein „Mea Culpa“ folgt → Erschütterung des Grundvertrauens.

– Auch im Mainstream ist es wohlfeil, Absurditäten zu glauben. So ist es in Deutschland völlig unproblematisch, zu fordern, die ganze Welt solle sich an deutscher Sparsamkeit und Exportorientierung ein Beispiel nehmen. Das ist offenkundig Unsinn: wo ein Land einen Exportüberschuss hat, müssen andere Defizite fahren. Genauso problemlos kann man hier gleichzeitig Staatsschulden geißeln, Unternehmensüberschüsse gut finden UND privaten Haushalten zur Vorsorge raten. Realitätsscheck: Von den drei Sektoren der Wirtschaft muss spätestens im Weltmaßstab einer als Schuldenlast die Vermögen der anderen tragen. Das ist keine sozialpolitische Frage, wie etwa die, ob es schlimmer ist, wenn 10.000 Arme verhungern oder wenn Milliardäre dieses Jahr 10.000 Euro weniger verdienen als letztes. Das ist Saldenmechanik. Mathematische Notwendigkeit.

– Und dann sind da noch die Claqueure eines streng empirisch-rationalistischen Weltbildes, sehr viel seltener selbst aktive naturwissenschaftliche Forscher als Aktivisten. In Auftreten und Geltungsanspruch schieben die oft jegliche Reflexion auf die eigene Beschränktheit beiseite. Da wird dann Occhams Rasiermesser als ehernes Prinzip hochgehalten, gegen das andere Diskutanten verstießen, statt die schon begrifflich prekäre Konstruktion dieses Hilfsmittels im Hinterkopf zu behalten. Da werden erkenntnistheoretische Fragen, die den Empirismus überhaupt erst begründen können, als sinnlose Spielereien abqualifiziert. Da wird gar streng deterministisch der „freie Wille“ geleugnet und im nächsten Atemzug sich über Menschen mokiert, die doch für ihren Glauben an fliegende Einhörner gemäß dieser Weltanschauung genauso wenig könnten wie der Physiker für seine: Alles nur oberflächliche Manifestation einer lange vorherbestimmten Konstellation von Atomen.

– Und zuletzt ist die große Stärke wissenschaftlicher Erkenntnis, ihre Vorläufigkeit, oft genug ihre größte Schwäche: Wo (nur zum Beispiel) Homosexualität teils bis in die 90er noch als Krankheit galt, lässt sich natürlich auch gegen neuere „Wahrheiten“ der Vorschlaghammer schwingen. Zugegeben, es ist brutal schwer zu entscheiden, wie damit umgehen: Betone ich noch die Vorläufigkeit der am sichersten scheinenden Überzeugungen, wird der Kritiker sich darauf stürzen. Verbarrikadiere ich mich in der Burg des Faktischen, wird man mir entdeckte Fehler um so genüsslicher vorrechnen.

All diese und viele weitere Punkte könnten ihren Teil zum Aufstieg und zur Verfestigung des systematischen Dagegenseins beitragen, das sich ebenfalls in geschlossenen verschwörungstheoretischen Weltbildern manifestiert. Ob, wer und wie viel dürfte kaum zu entscheiden sein. Und auch wenn man die Analyse so ausweitet, findet sich kein Hebel, an dem sich ohne weiteres ansetzen ließe, die gefährlicheren Momente dieser Weltbilder zu bekämpfen. Dass bissige Satire und die handfesten Argumente der Skeptiker wirklich mehr darstellen als eine Predigt zum Chor, bezweifle ich. Und Zweifel an sich ist ja nichts Schlechtes, nicht? Auch der Verschwörungstheoretiker ist nicht gefährlich, weil er zweifelt. Noch nicht mal unbedingt, weil der Zweifel zu einem neuen geschlossenen System gerinnt. Sondern weil aus dem Verschwörungsgeflecht beinahe wie organisch mit der Zeit menschenfeindliche Vorstellungen wuchern.

Was wirklich hilft? Man weiß es nicht.

Vielleicht – doch das ist ein großes Vielleicht – verfinge das Herausarbeiten der Parallelen derzeit gängiger Verschwörungstheorien zu relativ weitgehend anerkannt menschenfeindlichen Denkmustern (Paradebeispiel die Anleihen die David Icke beim Antisemitismus nimmt – aber auch beliebte Mainstream Glaubenssysteme (Israelkritik, teils auch Antiamerikanismus) nehmen solche Anleihen) sowie das Aufzeigen von Verbindunglinien etwa der pauschalen Pharmakritik zur „Neuen Germanischen Medizin“ zumindest bei Menschen, die gerade erst begonnen haben, sich kritisch am „Mainstream“ abzuarbeiten besser als bissiger Humor und das Wiederholen der immergleichen Widerlegungen. Ein großes Vielleicht, weil sich derzeit kaum überzeugend sagen lässt, wie dem anschwellenden Komplex aus hermetisch geschlossenen Weltbildern, Rechtsradikalismus, versetzt mit immer wieder durchaus validen Bedenken und Zweifeln zu begegnen ist. Und dass schon alleine, weil das beschworene hochrationale „Wir“ oder „Man“ des immer wieder zu lesenden Appells des „Man muss“ nicht wirklich existiert. Und so kann denn auch hier nur vom Einzelnen versucht werden, einige blinde Flecken für sich etwas besser auszuleuchten. Der Rest wird sich weisen. Oder eben – wie ich zusehends befürchte – doch nicht. Denn bisher wachsen Rationalismus-Kampagnen und Verschwörungsdenken gemeinsam. Dass Erstere Zweitere zumindest eindämmen ist möglich. Belege sehe ich keine.

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1Im Sinne des Rationalismus käme bei der Prüfung von Plausibilität wohl „Occhams Rasiermesser“ zum Einsatz. Ein heuristisches Prinzip, das hier und da gerne zu dem Unsinn, die einfachere Erklärung sei gewöhnlich die richtige, vulgarisiert wird. In der seriöseren Fassung eher: „Eine Erklärung sollte so komplex wie notwendig, so einfach wie möglich sein.“ Ein Prinzip, das selbst nicht empirisch begründbar ist. Das sich zwar als hilfreich erweist, aber Voraussetzungreicher ist, als es scheint: Was „so einfach wie möglich“ war, was „so komplex wie notwendig“, lässt sich im besten Falle im Nachinein bestimmen. Und wenn wir im Alltag Plausibilität von Geschichten prüfen, dürfte Occham nur eines von vielen Hilfsmittel sein: Wir vertrauen und überprüfen (den extrem seltenen, ultra-mündigen Bürger angenommen) wohl eine/r Mischung aus Vertrauenswürdigkeit der Quellen, Stimmigkeit verschiedener Geschichten untereinander, Stimmigkeit der Geschichte in sich, Alltagserfahrung, bisher erworbenes Wissen, Vertrauen in das bisher erworbene Wissen usw. usf.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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