Stalins antijüdische Wende

Stalins „antikosmopolitische“ Kampagne als Wende in der Geschichte des Kommunismus. Anlässlich der Ermordung des Vorsitzenden des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, Solomon Michoels, vor 70 Jahren.


In den letzten Regierungsjahren Stalins vollzog sich in der Sowjetunion wie auch im gesamten Machtbereich Moskaus eine seltsame ideologische Metamorphose, die der Forschung, trotz der partiellen Öffnung der Archive, Rätsel aufgibt. Die Verwandlung des Kommunismus aus einer Kraft, die den Antisemitismus anprangerte in einen der wichtigsten Wortführer des Kampfes gegen den sogenannten Kosmopolitismus, also im Grunde gegen die Juden. Worauf lässt sich diese Tendenzwende zurückführen? Mit dieser Frage befasst sich die vorliegende Kolumne.

Zur Ambivalenz der Stalinschen Politik nach 1945

Etwa drei Jahre nach der Bezwingung des Dritten Reiches begann in der Sowjetunion eine   antijüdische Kampagne, die die gesamte Weltöffentlichkeit konsternierte. Die Tatsache, dass eine Macht, die 1944/45 die Tore von Majdanek und Auschwitz geöffnet hatte, sich einige Jahre später an manche propagandistischen Klischees der europäischen Rechten anlehnte, stellte in der Tat ein seltsames Phänomen dar. Dies um so mehr, als etwa zur gleichen Zeit die Sowjetunion und die von ihr abhängigen Staaten Osteuropas dabei halfen, den uralten jüdischen Traum von der Errichtung eines eigenen Staates zu verwirklichen. Die massive diplomatische und politische Unterstützung seitens der Sowjetunion und die militärische seitens der von Moskau völlig abhängigen Tschechoslowakei trugen nämlich sowohl zur Gründung als auch zum Überleben des Staates Israel entscheidend bei. Etwa zur gleichen Zeit (Januar 1948) befahl aber Stalin die Ermordung der Symbolfigur des sowjetischen Judentums – des Vorsitzenden des 1942 gegründeten Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) und Schauspielers Solomon Michoels. Die Beseitigung des Führers des JAK, der als eigenwillig und schwer lenkbar galt, war für Stalin ein derart wichtiges Anliegen, dass er den Mordauftrag dem damaligen Leiter der sowjetischen Terrororgane, Viktor Abakumow, persönlich erteilte. Darüber berichten sowohl Abakumow selbst als auch die Tochter Stalins Swetlana, die zufällig beim Telefongespräch ihres Vaters mit dem Minister für Staatssicherheit anwesend war. Der Auftrag wurde am 13. Januar 1948 in der Stadt Minsk ausgeführt, wo Michoels sich auf einer Dienstreise befand. Abakumow erinnert sich: „Nachdem Michoels liquidiert worden war, wurde Stalin Bericht erstattet. Die Aktion fand seine volle Anerkennung, die Beteiligten ließ er auszeichnen“.

Warum zeichnete sich die sowjetische Politik gegenüber den Juden in den vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre, also im letzten Stalinschen Jahrzehnt, durch eine derartige Ambivalenz aus? Diese Frage gibt der Forschung, ungeachtet der partiellen Öffnung der Archive, viele Rätsel auf.

Die Disziplinierung der auf ihren Sieg stolzen Nation

Die Verwandlung des Kommunismus, etwa Ende der 1940er Jahre, aus einer Kraft, die den Antisemitismus angeprangert und sogar unter Strafe gestellt hatte, in einen der wichtigsten Wortführer des Kampfes gegen den  „Kosmopolitismus“, d.h. gegen die Juden ereignete sich in einer Zeit, in der die sowjetische Bevölkerung eine beispiellose Enttäuschung verkraften musste. Nach dem Sieg über das Dritte Reich hielt man in der Sowjetunion die Rückkehr zum Schreckensregiment der Vorkriegszeit im Allgemeinen für unvorstellbar. Das Land habe während des Krieges eine spontane Entstalinisierung erlebt, sagt in diesem Zusammenhang der Moskauer Historiker Michail Gefter.

Der so teuer erkaufte Sieg wurde von der sowjetischen Bevölkerung als Neuanfang aufgefasst. Kühne Zukunftsvisionen entwarfen damals sogar derart treue Diener Stalins wie der populäre Schriftsteller Alexej Tolstoj. Am 22.Juli 1943 schrieb er in sein Notizbuch: „Das Volk wird nach dem Krieg vor nichts mehr Angst haben. Es wird neue Forderungen stellen und Eigeninitiative entwickeln …, die chinesische Mauer zwischen Russland … [und der Außenwelt] … wird fallen“.

Die erneute Disziplinierung der auf ihren Sieg so stolzen Nation, ihre erneute Verwandlung in ein bloßes Räderwerk des totalitären Mechanismus, betrachtete die stalinistische Führung nun als ihr wichtigstes Ziel. Das stalinistische System konnte nicht ohne hermetische Abschottung von der Außenwelt, Kriegshysterie und Einkreisungspsychose existieren. Nur während des Krieges, als es mit wirklichen und nicht mit imaginären Feinden konfrontiert war, musste es gewisse Konzessionen an die Realität machen. Sofort nach der Überwindung der tödlichen Gefahr begann aber die herrschende Oligarchie erneut eine Scheinwelt zu errichten – mit imaginären „Volksfeinden“ und mächtigen „Verschwörerzentren“.

Der Hinweis auf den kriegslüsternen amerikanischen und englischen Imperialismus, auf das eroberungssüchtige „Weltkapital“, das die Heimat der Diktatur des Proletariats zu zerstören trachte, sollte die neue Disziplinierungskampagne lediglich legitimieren. Allerdings hatten die klassenkämpferischen Parolen, anders als in den 1930er Jahren ihre frühere Überzeugungskraft verloren. Während des deutsch-sowjetischen Krieges kämpfte man in erster Linie für die Verteidigung des Vaterlandes. Bei der Suche nach der Bedrohung, die den restaurativen Kurs des Regimes jetzt, nach dem Kriege rechtfertigen sollte, versuchte die stalinistische Führung dieser nationalen Wende Rechnung zu tragen. Der neue Gegner musste nicht nur die Grundlagen des Sozialismus, sondern auch das Wesen des Russentums gefährden, er hatte all das zu verkörpern, was den Russen angeblich fremd war – mangeln-den Nationalstolz, Verklärung fremdländischer Werte, Doppelzüngigkeit, Feigheit und Machtgier. Zu einem solchen Gegner wurden allmählich die Juden stilisiert.

Der ideologische Feldzug gegen die „unpatriotischen“ Theaterkritiker

In einem Leitartikel des Zentralorgans der Partei „Prawda“ vom 28. Januar 1949, den Stalin höchstwahrscheinlich mitredigiert hatte, wurden die „Kosmopoliten“ mit Schmarotzern verglichen, die alles Gesunde in der organischen Welt zu zerstören trachteten. Die Anlehnung an das rechtsradikale Vokabular war unverkennbar.

Zwar wurden gelegentlich auch russische Verehrer der sogenannten „fremdländischen“ Werte von der Kampagne erfasst, augenzwinkernd gab aber das Regime seinen Untertanen zu verstehen, dass die Abweichung vom gesunden Verhalten bei den Russen eher eine Ausnahmeerscheinung darstelle, bei den Juden hingegen beinahe eine Regel. Um zu verdeutlichen, wer das eigentliche Objekt der seit Anfang 1949 geführten Hasspropaganda war, entschleierten die sowjetischen Presseorgane russische Pseudonyme, unter denen manche jüdische Autoren auftraten. Bereits der Titel des Leitartikels der „Prawda“ vom 28. Januar 1949 – „Über eine antipatriotische Gruppe der Theaterkritiker“ – wies darauf hin, dass der Kampf gegen den sogenannten Kosmopolitismus nun eine qualitativ neue Dimension erreicht habe. „Antipatriotische Haltung“ war im stalinistischen Vokabular ein Synonym für „Vaterlandsverrat“ und der Begriff „Antipatriot“ ein Synonym für „Volksfeind“. Die Theaterkritiker verkörperten also aus der Sicht der Propaganda eine Haltung, die den Gipfel der Perversion darstellte. Dass die Theaterkritiker nicht einzeln, sondern als „Gruppe“ auftraten, machte ihr Verhalten besonders verwerflich. Es verwundert beinahe, dass das Zentralorgan der Partei seinen neuen ideologischen Feldzug an einem so peripheren Frontabschnitt wie der Theaterkritik eröffnete. Es gehörte allerdings zum Wesen des stalinistischen Systems, dass die Führung willkürlich entschied, welche Frontabschnitte als peripher und welche als zentral zu gelten hätten. Das Regime neigte zur Vereinheitlichung und Simplifizierung der kompliziertesten Sachverhalte. So bedeutete eine ideologische Neuorientierung in welchem Bereich auch immer – es konnte die Theaterkritik, die Sprach- oder die Geschichtswissenschaft sein – einen Paradigmenwechsel auf der gesamten ideologischen Front. Mit geballter Kraft ging der gewaltige ideologische Apparat einer totalitären Supermacht gegen acht Theaterkritiker vor, um auf diese Weise stellvertretend alle potentiellen „Antipatrioten“, und dies konnte buchstäblich jeder Sowjetbürger sein, einzuschüchtern. Dies erklärt auch die Eskalation der Angriffe, die bewusst eine Hysterie auslösen sollten. Denn die Theaterkritiker wurden allmählich zu einer eminenten Gefahr stilisiert, die das gesamte Sowjetreich in seinen Grundfesten zu erschüttern drohe.

Die im Januar 1949 begonnene antisemitische Kampagne sollte anscheinend einen Schauprozess gegen führende Vertreter des sowjetischen Judentums propagandistisch vorbereiten. Am 20. November 1948 wurde das 1942 entstandene „Jüdische Antifaschistische Komitee“ aufgelöst und seine führenden Mitglieder Ende 1948/Anfang 1949 verhaftet. Fast alle verhafteten Mitglieder des JAK waren nach entsprechender „Behandlung“ durch die Sicherheitsorgane bereits im Frühjahr 1949 „geständig“. Die durch die Erfahrung der 1930er Jahre geschulte sowjetische Bevölkerung wartete jetzt auf den ersten Schauprozess der Nachkriegszeit im Lande. Das Drehbuch dafür war bereits geschrieben, nichts stand ihm im Wege. Plötzlich gab aber Stalin eine Entwarnung, die sowohl für die Zeitzeugen als auch für die Forscher im Grunde ein Rätsel darstellt. Man konnte sich nun überzeugen, dass Stalin imstande war, seine antijüdischen Ressentiments zu dosieren und zu kontrollieren. Denn bereits einige Monate nach dem Beginn der antisemitischen Pressekampagne befahl er, sie wieder einzudämmen.

„Die Entschleierung von Pseudonymen ist unzulässig“

So wandte sich Stalin etwa im April 1949 gegen die bei den russischen Antisemiten (bis heute) so beliebte Methode der Entschleierung von russischen Pseudonymen mancher jüdischer Intellektueller und Politiker. Der Schriftsteller Alexander Fadejew berichtet über eine Äußerung Stalins, die einem Befehl glich: „Genossen, die Entschleierung von Pseudo-nymen ist unzulässig; sie riecht nach Antisemitismus.“

Die im Frühjahr 1949 vollzogene Kursänderung der sowjetischen Führung wurde sowohl im Lande selbst als auch von manchen ausländischen Beobachtern registriert: „Seit Frühjahr 1949 erhielt die antikosmopolitische Kampagne einen etwas vorsichtigeren Charakter“, so der amerikanische Russlandexperte Solomon Schwarz: „Die offen antisemitische Praxis der Entschleierung von Pseudonymen jüdischer Autoren wurde aufgegeben.“

Der für Anfang 1949 erwartete Prozess gegen die JAK-Mitglieder fand erst Mitte 1952 statt. In der Zwischenzeit widmeten sich die sowjetischen Terrororgane ganz anderen Aufgaben. Sie beteiligten aktiv als „Berater“ an der Vorbereitung und Durchführung der Schauprozesse gegen die sogenannten „Titoisten“ in Ungarn (Rajk-Prozess – Oktober 1949) und in Bulgarien (Kostov-Prozess – Dezember 1949). Besonders intensiv befassten sie sich aber seit Anfang 1949 mit der sogenannten „Leningrader-Affäre“, mit der die Kreml-Führung eine zweite innenpolitische Front eröffnete. Sie kämpfte nun nicht nur gegen die sogenannten „Kosmopoliten“, d.h. im Wesentlichen gegen die Juden, sondern auch gegen den sogenannten russischen Chauvinismus, den die „Leningrader Fraktion“ angeblich propagierte.

Die Radikalisierung der antijüdischen Kampagne

Nach einer gewissen Atempause wurde indes die antisemitische Kampagne zu Beginn der 1950er Jahre erneuert, und zwar in einer wesentlich schärferen Form. Die Kampagne gegen die „wurzellosen, antipatriotischen Kosmopoliten“ von 1949, die den  Antisemitismus enttabuisierte, bildete bloß den verbalen Prolog für den zweiten, diesmal viel blutigeren Feldzug  Stalins gegen die Juden, der 1951/52 beginnen sollte. Mitte 1952 fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor dem obersten Militärgericht in Moskau ein Prozess gegen die bereits 1948/49 inhaftierten Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees statt. Dem Vorsitzenden des Gerichts, A. Tschepzow, wurde noch vor dem Beginn der Verhandlung ein Beschluss des Politbüros mitgeteilt – von 14 Angeklagten seien 13 zum Tode zu verurteilen. Im August 1952 wurden die vom höchsten Parteigremium genannten Personen hingerichtet. Stalins Feldzug gegen die Juden dehnte sich nun praktisch auf den gesamten Machtbereich Moskaus aus. Ende 1952 fand in Prag der erste antisemitische Schauprozess des Ostblocks statt, der sich in erster Linie gegen den ehemaligen Generalsekretär der KPTsch, Rudolf  Slánský, richtete. Der Prozess endete mit 11 Todesurteilen. Die überwiegende Mehrheit der Angeklagten und der Hingerichteten war jüdischer Herkunft. Die Jagd auf „zionistische Agenten“ und „Kosmopoliten“ wurde auch auf die DDR, Ungarn, Rumänien und Polen ausgeweitet.

Das jüdische Volk wurde von der stalinistischen Propaganda allmählich zu einer kollektiven Persona non grata stilisiert. Am Vorabend des Slánský-Prozesses hatte einer der Mitangeklagten, Eugen Löbl, in Prag folgende „These“ aus dem Munde seines Untersuchungsrichters gehört: „Die Partei ist ja nicht gegen die Juden, sondern die Juden sind gegen die Partei. Deshalb muss die Partei die Juden bekämpfen um den Sozialismus zu verteidigen“.

Die Ärzte-Affäre

Während der Vorbereitung des Slánský-Prozesses begannen auch die Verhaftungen prominenter Kremlärzte, von denen die Mehrheit Juden waren. Einige Monate später – am 13. Januar 1953 – erfuhr die Weltöffentlichkeit aus einem Artikel in der „Prawda“ von einer angeblichen Verschwörung, an der sich viele führende Kreml-Ärzte beteiligt haben sollten. Durch falsche Diagnosen und Behandlungsmethoden hätten diese Ärzte versucht, führende politische und militärische Persönlichkeiten des Landes zu beseitigen: „Die Mehrzahl der Mitglieder der Terroristengruppe“, so die „Prawda“, „standen mit dem ´Joint´, der internationalen jüdischen bürgerlich-nationalen Organisation in Verbindung“.

Zu dieser Meldung veröffentlichte das Zentralorgan der KPdSU auch einen Kommentar, der mit höchster Wahrscheinlichkeit von Stalin selbst mitverfasst worden war. Er enthielt die seit Jahrzehnten vertrauten Stalinschen Thesen von der Verschärfung des Klassenkampfes angesichts der Erfolge des Sozialismus, von verkappten Feinden, die unter der Maske von Freunden auftreten, von der ununterbrochenen revolutionären Wachsamkeit, zu der die Sowjetbürger verpflichtet seien.

Das gesamte „sozialistische Lager“ stellte so einen einheitlichen Mechanismus dar, jedem seiner Einzelteile wurden vom Lenker im Kreml bestimmte Funktionen zugewiesen. Stalin interessierte sich für alle Einzelheiten sowohl der Slánský- als auch der Ärzte-„Verschwörung“ und gab fortlaufend Regieanweisungen. Auch das Drehbuch für den künftigen Schauprozess gegen die Kreml-Ärzte wurde vornehmlich von Stalin verfasst. Er las tagtäglich Verhörprotokolle, verlangte mehr Härte, um die verhafteten Ärzte zu Geständnissen zu zwingen. Dazu sagt Nikita Chruschtschow in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag vom Februar 1956:

Stalin berief den Untersuchungsrichter zu sich, erteilte ihm Instruktionen und gab Anweisungen bezüglich der anzuwendenden Untersuchungsmethoden: diese Methoden waren sehr einfach: schlagen, schlagen und nochmals schlagen.

Stellte die Ärzte-Affäre bloß eine Begleiterscheinung des Machtkampfes im engsten Umfeld des Kreml-Despoten dar, wie dies gelegentlich behauptet wird? Sicherlich nicht. Stalins antijüdische Kampagne hatte eine eigene innere Logik, deren Ergründung immer noch große Schwierigkeiten bereitet.

Plante die Kremlführung im Zusammenhang mit der Ärzte-Affäre eine Massendeportation der sowjetischen Juden? Auch heute, ungeachtet der Enthüllungen, die seit Beginn der Gorbatschowschen Perestroika ans Tageslicht gekommen sind, ist es nicht leicht, diese Frage eindeutig zu beantworten. Eines steht aber fest. Im letzten Herrschaftsjahr Stalins war eine zusätzliche Radikalisierung des antisemitischen Kurses der Kremlführung zu beobachten. Von dieser Radikalisierung zeugen nicht zuletzt einige erst vor kurzem zugänglich gewordenen Quellen. So notiert z.B. W. Malyschew – Mitglied des ZK-Präsidiums – folgen-de Aussage Stalins vom 1. Dezember 1952:

Jeder Jude ist ein Nationalist und Agent des amerikanischen Nachrichtendienstes. Die jüdischen Nationalisten sind der Meinung, dass ihre Nation von der USA gerettet worden sei, … sie fühlen sich den Amerikanern gegenüber verpflichtet.

Diese Verbindung der Juden mit dem gefährlichsten außenpolitischen Gegner der Sowjetunion erinnert an eine ähnliche Konstruktion, die Stalin bereits in den dreißiger Jahren entwickelt hatte. Auch damals führte er einen Zweifrontenkrieg – gegen den „Faschismus“ nach außen und gegen den „Trotzkismus“ nach innen. Beide Gegner galten für die stalinistische Propaganda als Verbündete. Trotz ihrer offensichtlichen Absurdität kostete diese „Zwei- Feinde“-Theorie sehr vielen Menschen zur Zeit des „Großen Terrors“ von 1936-1938 das Leben. Welche Folgen diese „Theorie“ in ihrer „modernisierten Fassung“ für die Betroffenen hätte haben können, lässt sich schwer abschätzen, denn ihrem Urheber wurde nicht die Zeit gegönnt, von ihr bei der Verfolgung der Juden Gebrauch zu machen. Er starb kurz nach ihrer Verkündung.

Es zeigte sich nun, wie eng das Stalinsche System mit der Person seines Gründers verflochten war und wie wenig Chancen es hatte, seinen Gründer zu überdauern. Schon einige Wochen nach dem Tode Stalins begann sich die Atmosphäre in der Sowjetunion grundlegend zu wandeln. Am 4. April 1953 wurde das Verfahren gegen die Ärzte von der neuen Moskauer Führung eingestellt und als Provokation der ehemaligen Leitung der Sicherheitsgorgane bezeichnet.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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