Degowski und die Freiheit
Noch ist es nicht ganz so weit, aber in absehbarer Zeit wird einer der bekanntesten Verbrecher Deutschlands, Dieter Degowski, das Gefängnis in Werl verlassen können. Das gefällt nicht jedem, aber es ist richtig.
Wer vor 1980 geboren wurde, wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit an Dieter Degowski und seinen damaligen Mittäter, Hans-Jürgen Rösner erinnern. Die beiden hielten im August 1988 nach einem Banküberfall in Gladbeck zwei Tage die Nation in Atem. Im Rahmen ihrer spektakulären und mehr oder live übertragenen Flucht durch Deutschland nahmen sie mehrmals Geiseln und ermordeten den 15-jährigen Emanuele De Giorgi sowie die 18-jährige Silke Bischoff.
Für die jüngeren Leser hier die damaligen Nachrichten der Tagesschau:
In beiden Fällen war Degowski der Schütze. Beide wurden am 22. März 1991 vom Landgericht Essen zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt; bei Rösner wurde darüber hinaus Sicherungsverwahrung angeordnet, da er nach Überzeugung des Gerichts als Hangtäter anzusehen sei, bei Degowski hingegen nicht. Allerdings stellte das Gericht auch bei ihm die besondere Schwere der Schuld fest.
Und so einer kommt jetzt raus? Ich weiß nicht wie oft ich die Frage in den letzten Tagen gehört habe. Und ja, auch „so einer“ kommt unter ganz bestimmten Voraussetzungen irgendwann einmal raus.
2002 lehnte das OLG Hamm eine vorzeitige Entlassung Degowskis im Hinblick auf die besondere Schwere der Schuld ab und legte die Mindestverbüßungsdauer auf 24 Jahre fest. Frühestens 2013 bestand also für Degowski die Möglichkeit entlassen zu werden. Nun hat er – inklusive der U-Haft – gut 29 Jahre Haft hinter sich und die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Arnsberg hat der JVA die Anweisung gegeben, die Entlassung vorzubereiten. Weihnachten könnte Degowski also draußen sein, sofern die Staatsanwaltschaft gegen eine entsprechende Entscheidung der StVK nicht noch in die Beschwerde geht. .
Keine Obergrenze
Im Gegensatz zur zeitlichen Freiheitsstrafe kennt die bei Mord zwingende lebenslange Freiheitsstrafe vom Gesetzeswortlaut her keine Obergrenze. Theoretisch wäre sie damit bis zum Tod des Gefangenen zu verbüßen, was manch einem wohl gut gefallen würde. Es entbehrt ja auch nicht einer gewissen Logik, dass derjenige, der einem anderen als Mörder das Leben genommen hat, auch kein Leben in Freiheit mehr führen und letztlich in seiner Zelle verschimmeln sollte. Diese archaische Rachegedanke wurde jedoch bereits 1977 vom Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die alles überragende Wirkung der Menschenwürde aus Art. 1. GG verworfen:
Das Bundesverfassungsgericht verlangte damals im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip eine gesetzliche Regelung der Voraussetzungen für eine Beendigung der lebenslangen Haft.
Diese wurde mit § 57a StGB geschaffen. Wie der funktioniert hatte ich bereits hier am Beispiel des Kindermörders Gäfgen erklärt.
Sicherheit vs Freiheit
Nachdem die vom Gericht festgesetzte Mindestverbüßungsdauer bereits 2013 abgelaufen war, konnte es im Fall Degowski nur noch um die Frage des § 57 Abs. 1 StGB gehen, ob die Entlassung
unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann.
Wenn von Degowski keine Gefahr schwerer Straftaten mehr ausgeht, muss man ihn auf Bewährung entlassen. So einfach ist das.
Bei der Prüfung der Frage der Gefährlichkeit eines Gefangenen, bedient die Strafvollstreckungskammer sich zwingend der Hilfe mindestens eines psychiatrischen Sachverständigen.
§ 454 Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung
1) …
2) 1Das Gericht holt das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten ein, wenn es erwägt, die Vollstreckung des Restes
1. der lebenslangen Freiheitsstrafe auszusetzen oder
2. einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches bezeichneten Art auszusetzen und nicht auszuschließen ist, daß Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung des Verurteilten entgegenstehen.
2Das Gutachten hat sich namentlich zu der Frage zu äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, daß dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht. 3Der Sachverständige ist mündlich zu hören, wobei der Staatsanwaltschaft, dem Verurteilten, seinem Verteidiger und der Vollzugsanstalt Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben ist. 4Das Gericht kann von der mündlichen Anhörung des Sachverständigen absehen, wenn der Verurteilte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft darauf verzichten.
3)…
Für die Erstellung der Prognose schreibt das Gesetz in § 57 Abs. 2 StGB – der auch für die Aussetzung der lebenslangen Strafe Anwendung findet – vor
insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind.
Mindestanforderungen
Das Bundesverfassungsgericht hat die Basis solcher Prognosegutachten noch wie folgt präzisiert:
Neben dem Gebot der Transparenz gilt für das psychiatrische Prognosegutachten das Gebot hinreichend breiter Prognosebasis. Um dem Gericht eine Gesamtwürdigung von Tat und Täter (vgl. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) zu ermöglichen, muss das Gutachten verschiedene Hauptbereiche aus dem Lebenslängs- und -querschnitt des Verurteilten betrachten. Zu fordern ist insbesondere eine Auseinandersetzung mit dem Anlassdelikt, der prädeliktischen Persönlichkeit, der postdeliktischen Persönlichkeitsentwicklung sowie dem sozialen Empfangsraum des Täters (vgl. Müller-Metz, StV 2003, S. 42 <45>; Nedopil, in: Dölling <Hrsg.>, Die Täterindividualprognose, 1995, S. 89). Darüber hinaus hat der Gutachter bei Vorbereitung der – nach langjährigem Freiheitsentzug zu treffenden – Entscheidung gemäß § 67d Abs. 3 StGB besonderes Augenmerk auf die Frage zu richten, wie sich der Verurteilte bei etwaigen Vollzugslockerungen verhält. Denn gerade das Verhalten anlässlich solcher Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung des Verurteilten dar (vgl. Nedopil, NStZ 2002, S. 344 <348 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Dezember 1997 – 2 BvR 1404/96 -, NJW 1998, S. 1133 <1134>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 1998 – 2 BvR 77/97 -, NStZ 1998, S. 373 <374 f.>).
Die Entscheidung bezieht sich zwar auf die Sicherungsverwahrung, was die Mindestanforderungen an die Begutachtung angeht, gibt es aber da keinen Unterschied.
Sichere Prognosen gibt es nicht
Die Prognose menschlichen Verhaltens kann dabei nie absolut sicher sein. Wissen Sie sicher, wie Sie sich in einer bestimmten Situation verhalten würden? Sehen Sie, das können Sie nicht genau wissen, solange Sie nicht tatsächlich in der Situation gewesen sind. Man weiß nicht, wie man sich im III. Reich verhalten hätten und wie das in einer neuen, unbekannten Situation sein wird, kann man höchstens tendenziell erahnen. Wie viel schwieriger ist es da, das Verhalten von anderen, fremden Personen vorherzusagen? Woher kann ein Gericht oder auch ein Gutachter wirklich wissen, wann die „Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass der Mann keine Gefahr mehr darstellt? Nun genau genommen kann es das nicht, jedenfalls nicht sicher.
Es gibt aber mittlerweile eine ganze Reihe standardisierter Testverfahren, die allerdings meist nur eine statistische Wahrscheinlichkeit angeben können. Das wird leider manchmal übersehen. Wenn bei einer bestimmten Konstellation 90 von hundert Testkandidaten eine Straftat begehen, dann sind es aber eben auch 10 von hundert, die das nicht tun. Wenn man sich nur an den Statistiken orientieren würde, täte man den zehn Unrecht. Ginge es bei Entscheidungen tatsächlich nur nach der statistischen Erwartung, so dürfte kein rationaler Mensch im Lotto spielen.
Wegen dieser Unsicherheiten neigen nach meiner Erfahrung sowohl die meisten Sachverständigen als auch die meisten Gerichte dazu, bei dem geringsten Zweifel zulasten der Straftäter zu entscheiden, d.h. im Klartext, Menschen weiter im Vollzug zu belassen, obwohl die wahrscheinlich eher keine Straftaten begehen würden. Das ist auch eindeutig die leichtere Entscheidung. Man entgeht damit dem Volkszorn, der Empörung der Öffentlichkeit, die verständlicherweise hochkocht, wenn ein entlassener dann wider Erwarten doch erneut straffällig wird. Bei Mördern kommt das allerdings sehr selten vor. Weniger als ein Prozent der Täter, die ein Tötungsdeliktbegnagen haben wurden, erneut mit einem Tötungsdelikt rückfällig. Das mag auch an der restriktiven Begutachtung liegen. Ein Gutachter, der immer gegen die Entlassung gutachtet, hat statistisch nur richtige Gutachten, denn er kann ja nie widerlegt werden. Die Prognose menschlichen Verhaltens ist nie mit hundertprozentiger Sicherheit möglich. Es ist und bleibt letztlich – wie ich es vor Jahren bereits formulierte – eine Form von wissenschaftlich verbrämter Kaffeesatzleserei – von krassen Serientätern einmal abgesehen.
Wenn also ein Gutachter nun Dieter Degowski attestiert, keine Gefahr für die Öffentlichkeit mehr darzustellen, dann darf man getrost davon ausgehen, dass es auch nicht den geringsten Hinweis darauf gegeben hat, dass Degowski erneut straffällig werden könnte. Gerade in so einem prominenten Fall würde niemand ein Risiko eingehen.
Neuer Name
Zwar ist Degowski nun mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Gefahr mehr für die Gesellschaft, umgekehrt kann das aber ganz anders aussehen. Deshalb wird Degowski die JVA auch nicht als Degowski verlassen, sondern einen neuen Namen bekommen.
In § 3 des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen steht lapidar:
(1) Ein Familienname darf nur geändert werden, wenn ein wichtiger Grund die Änderung rechtfertigt.
(2) Die für die Entscheidung erheblichen Umstände sind von Amts wegen festzustellen; dabei sollen insbesondere außer den unmittelbar Beteiligten die zuständige Ortspolizeibehörde und solche Personen gehört werden, deren Rechte durch die Namensänderung berührt werden.
Was ein wichtiger Grund ist, ist dort nicht definiert. Das holt aber die dazugehörige allgemeine Verwaltungsvorschrift nach. Nr. 39 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen (NamÄndVwV) lautet
(1) Ist ein seltener oder auffälliger Familienname durch die Berichterstattung über eine Straftat so eng mit Tat und Täter verbunden, daß in weiten Kreisen der Bevölkerung bei Nennung des Namens auch nach längerer Zeit noch immer ein Zusammenhang hergestellt wird, so kann der Familienname des Täters und gegebenenfalls auch der seiner Angehörigen zur Erleichterung der Resozialisierung geändert werden. Dies kann bereits vor der Haftentlassung geschehen, wenn die Strafvollzugsbehörde dies befürwortet. Nummer 30 Abs. 4 ist zu beachten.
Eine sinnvolle Regelung. Welcher Arbeitgeber würde schon jemanden einstellen, dessen Name untrennbar mit einem scheußlichen Verbrechen verbunden ist? Wer würde dem eine Wohnung vermieten oder wer wollte neben dem wohnen? Klar, nach Verbüßung seiner Strafe ist Degowski von Rechts wegen rehabilitiert und darf wegen seiner Tat nicht weiter bestraft werden, aber wer hindert denn den einzelnen Bürger daran, den weiter für eine Bestie zu halten und zu hassen? Das werden Einzelne ihm vielleicht gönnen, es wäre aber nicht im Sinne der Resozialisierung. Der Straftäter, der seine Strafe abgesessen und damit jedenfalls in den Augen des Gesetzgebers auch seine Schuld gesühnt hat, hat Anspruch auf Schutz seiner Persönlichkeitsrechte und Anspruch auf ein normales Leben.
Auch der Täter, der durch eine schwere Straftat in das Blickfeld der Öffentlichkeit getreten ist und die allgemeine Mißachtung erweckt hat, bleibt dennoch ein Glied dieser Gemeinschaft mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Schutz seiner Individualität.
So drückte es das Bundesverfassungsgericht in seiner Lebach-Entscheidung aus. Auch künftige Berichterstattung über das Gladbecker Geiseldrama hat also eine identifizierende Berichterstattung über Degowskis Leben nach seiner Entlassung zu unterlassen. Das Interesse der Öffentlichkeit hat nach der Haftverbüßung hinter dem Interesse des entlassenen Täters, ein ungestörtes Leben führen zu können, zurückzustehen. So sieht es die Verfassung vor und so ist es auch richtig.
Ich wünsche Herrn Degowski jedenfalls, dass er seine Chance nutzt und den Rest seines Lebens ein straffreies Leben führt.
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