Lob des Landarztes… …nebst einer Utopie

Für meinen Freund, den Landarzt L.O.


In der Weltliteratur kommen die Landärzte im Allgemeinen nicht gut weg – Sinuhe der Ägypter erlebt zwar eine Menge abenteuerliche Schädelbohrungen und pharaonische Intrigen, aber resigniert in der Wüste. Kafkas Landarzt löst schwerste Depressionen aus – Jaja, Kafka der Hellsichtige des 20. Jahrhunderts, ich weiß, ihr deutelden gemanistischen Psychoanalytiker, aber könnten seine Düsternisse auch nicht bloß schlicht und grausam genug Emanationen seiner phtitischen Kondition gewesen sein? Der bemitleidenswerte Dr. Bovary ist ein armes, schlecht gewürztes Würstchen, und Dr. Moreau erweist sich als monströser Tierarzt. Auch in Film und Fernsehen sind die Landärzte in Gestalt von Walter Plathe oder Christine Neubauer so patent, daß man ihnen nicht über den Kiesweg trauen sollte.
Ansonsten werden die Landärzte uns in dramatischen Reports als aussterbende Art vorgeführt – bemitleidenswert und ohne FDP-Rückendeckung und den Zuspruch des Herrn Montgomery; als eine aussterbende Art, die aufgrund ihrer Selbstausbeutung (letzteres trifft zu) nicht mehr lange existieren wird.

Maschinisierung der Medizin

Und dann lese ich bei dem schönen Philosophen des länglichen Haupthaares, Richard David Precht, daß die Ärzte demnächst ganz wegfallen könnten, die Landärzte sowieso. Nein, rufe ich, das werden sie nicht – sie werden weniger werden, gewiß, aber immer besser oder gar nicht!
Wie dies? spricht Zeus zu Hippokrates… Ich schwör dir, entgegnet ihm Hippo, das geht so…
…wir stecken ja gerade erst in den Kinderschuhen der Digitalisierung. Aber schon in 20 Jahren – sollten wir noch immer so blöd sein, für Geld zu schuften und glauben, noch mehr Waren machten noch glücklicher im ewigen Naturkreislauf von Produktion und Konsumismus – stehen wir dumm da. Zum Beispiel das eigenständig fahrende Auto wird Abertausende Berufsfahrer, wie heißt das so schön? freisetzen. Alle Prozesse in der Produktion und Steuerverwaltung können robotisiert und computerisiert werden – wir brauchen keine Arbeiter mehr und deshalb wird es auch keine Arbeit mehr geben. Arbeit als Lebenserwerb wird überflüssig…als Notlösung fällt den Kapitalisten die ja dennoch verdienen wollen, durch das was ihre Maschinen herstellen, das Grundeinkommen ein, damit erst einmal KiK und ALDI weiter schwarze Zahlen schreiben können.
Aber auch Akademiker werden nicht verschont: selbstdenkende Maschinen ersetzen Ingenieure und sogar Juristen und Mediziner. Die Diagnoseverfahren werden immer diffiziler und die per Computer individualisierte Medizin kann womöglich viel feiner Medikamente verabreichen und minimalinvasive Eingriffe vornehmen, als es ein Arzt selbst vermöchte. Operationsroboter zittern nicht…und schneiden nicht daneben…
Nein –ich spotte nicht über eine individualisierte und verfeinerte Medizin der Computer – sie muß kommen und endlich die Scharlatanerie der Homöopaten und das Tamtam der Naturanbeter in Grund und Boden praktizieren…
Ich glaube, ich lasse mich auch lieber von einem weder zitternden, noch schwitzenden oder übermüdeten Roboter operieren als von Dr. Sauerbruch persönlich, besonders wenn er von Ewald Balser dargestellt wird.
Aber was bleibt für die Ärzte, die dann womöglich Herren eines ausgefeilten Maschinenparks sind, übrig? Eine Menge, die Hauptsache nämlich…
Als Cagliostro Münchhausen Polen anbot: Reichtum Frauen, Herrschaft, lehnte der mit dem schönen Satz ab: wir verstehen uns in allem, nur nicht in der Hauptsache…hier ist es aber umgekehrt…ein Mediziner, der nicht nur was von Medizin und demnächst von seinen Computern, Apparate und Aggregaten versteht, sondern obendrein auch noch was von Menschen, wird dann wichtiger sein als je zuvor; denn es geht um jene Hauptsache, die ganz besondere Eigenschaft des Mediziners, die vielleicht erst im totalen Digitalzeitalter deutlich wird. Die Landärzte haben sie heute schon – meistens -, haben sie immer schon haben müssen – und wo nicht, mußten sie wie Friedrich Wilhelm Weber einpacken, Epen schreiben oder womöglich in den Reichstag einziehen (wie der Herr Professor Lauterbach, der sicherlich ein fantastischer Parlamentarier im Gesundheitsbereich ist; aber für ihn als Arzt gilt das gleiche wie für Ewald Balser).

Die Angst vor Ärzten

Ich muß vorausschicken: eigentlich hasse ich Ärzte, denn sie machen mir Angst. Seid ehrlich, keine Ausreden, gebt es zu, outet Euch als Angsthasen… Wir haben Angst vor Ärzten – denn diese Angst wird uns schon früh ins Herz gesenkt, als Kindern bereits, wie man etwa dem armen Pinocchio droht, daß wenn er nicht brav sei und sich nicht dressieren und brechen ließe, er ins Gefängnis käme oder jedenfalls zum „Doktor“ – und man weiß nicht, was furchterregender ist. Ganz kleinen Kindern, die noch nicht alles begreifen, aber alles erleben und speichern, kann man zudem nicht völlig erklären, daß Ärzte manchmal etwas tun müssen, was nicht sehr angenehm, sogar schmerzhaft ist. Vielleicht gar nicht so sehr physisch als psychisch.
Als mir der grobschlächtige Doktor Korb (dessen Gesicht mich später an Richard Nixon in seinen lügenträchtigsten Zeiten erinnerte) als Dreijährigem das Knie punktierte und da ich mich natürlich wehrte, seine Sprechstundehilfe anschnauzte: „Halt das Blag jetzt fest!“,so tat es mir weniger im Knie weh als im verachteten Herzen.
Das markerschütterndste Arzterlebnis hatte ich dann drei Jahre später. Ohne Vorwarnung nahm mich meine Mutter eines Morgens bei der Hand, brachte mich nicht wie sonst zum Kindergarten, sondern in die Praxis eines ambulanten Chirurgen, in der es nach mephitischer Desinfektion stank und lieferte mich ihm aus: unterleibsentkleidet wurde ich auf einen Tisch geschallt (wie er später nur wieder in den Saw-Monstrositäten und ähnliche Splatterfilmen zu sehen war). Gegen mein natürliches Geschrei gesetzt wurden die Lügenbeteuerungen der Mutter, daß nichts passiere, die dann entnervt übergingen ins anherrschende: “Stell dich jetzt nicht so an, es tut dir ja keiner was!“ Wer sollte das glauben – kleine Kinder sind nicht so löd wie ihre Eltern; bei größere ist das etwas anderes.
Zu allem Überfluß wurde mir dann noch ein teesiebartiges Etwas über die Nase gestülpt aus dem die Ätherschwaden wie eine Atemvergewaltigung in mich eindrangen.
Mir vorzustellen wieder zu erwachen, hatte ich weder den Mut, noch die Phantasie – und als ich zuhause in meinem Bett tatsächlich ins Bewußte hineinschlaffte, hatte ich kein Vertrauen mehr: weder in meine Mutter, noch in den Arzt, noch in irgendwen…zumal die vorschulärztliche Phimosepanik – die ja als Ausrede für das chirurgische Bemächtigungsritual der Knabenbeschneidung dient – dafür gesorgt hatte, daß ich zwischen den Beinen blutig, schmerzängstlich und zerfleischt war. Und das blieb so bei jedem Wasserlassen in den nächsten zwei endlosen Wochen, die mich von meinem Geschlechtsorgan, der Mutter und dem Arzt entfremdeten.
Daß ich von dann nie wieder etwas mit Ärzten zu tun haben wollte, jeder Kontakt mit einem persilweißen Kittel zu einer Bedrohung sondergleichen wurde, ist wohl klar. Denn eines habe ich damals, helle war ich schon immer, anfangs nur diffus, dann aber immer klarer verstanden: Ärzte greifen in die Integrität des Körpers ein, ob mit einer Nadel, einer Verachtung oder eben einer Operation. Und der Körper bin Ich.
Als ich wenig Jahre später darauf – obwohl man mich für dumm verkaufen wollte und das meiste an Grauen vor mir verbarg, den siechvollen Krebstod meiner geliebten Großmutter miterlebte, der man immer wieder noch ein Stückchen Körper wegschnitt oder zerstrahlte, konnte ich´s langsam, zwar noch naiv und weniger wortreich, angesichts des Leidens eines geliebten Menschen aussprechen: – es greifen die Ärzte zwar in die Integrität des Körpers, also des Ichs ein…aber vor allem die Krankheit, der Schmerz, die Erniedrigung, die Entleibung, das gewisse Sterben…machen mit dem Ich, was sie wollen.
Gewiß, Ärzte und Krankheit gehören zusammen…aber nicht auf dieser therapeutischen Arbeitsebene, sondern auf einer viel tieferen: mich gemahnt der Arzt als Lebensereignis an die eigene Vergänglichkeit, an den Tod; wenn er uns auch für heute heilen kann, so sind wir eben doch gerade einmal noch davon gekommen – by the skin of our teeth.
Im Übrigen ist die Hypochondrie ein morbides Hobby; etwa so wie das Sammeln leuchtender toter Schmetterlinge, die man aufspießt…natürlich gibt es Leute (es gibt Leute und Menschen), die nicht so tiefe Gedanken haben und fähig sind die eigene Fäulnis zu verdrängen…
Kein Wunder also, daß ich diese Concoction von Schmerz, Verfall, Sterblichkeit und Ärzten die meiste Zeit meines erwachsenen Lebens gemieden habe; und bis jetzt habe ich auch großes Glück gehabt, denn nichts anderes gehört dazu, gesund zu bleiben.

Der Arzt und der Mensch – die andere Seite

Aber irgendwann erwischten mich dann doch körperlicher Aufruhr, physische Unbill und der Haß auch ein fleischliches Wesen mit Verfallsdatum zu sein. Aber es gab keinen Hausarzt. Ich schleppte mich dahin, bis eine Freundin mir das Schleppen abnahm und mir die Pistole auf die Brust setzte – anders hätte sie mich auch nicht zu ihrem Hausarzt gekriegt… sie machte einfach Termin bei ihrem Landarzt. Ja – ein Landarzt, in einer Gegend des gebirgichten Westfalens, der täglich neben der Praxis auch noch seiner Runden durch die Wälder und Täler und über die Berge machte. Viele seiner Patienten hatte er bereits von seinem Vater übernommen…
Was machte Dr. O. ? Kein oho mit seinen Apparaten – derer er allerdings auch nicht entriet, sie aber gezielt einsetzte. Er hatte kein Wundermittel außer seinen zwei hörenden Ohren und des Denkapparates dazwischen…
Er weiß auch nicht alles und kann auch nicht alles – und schickt auch zu Fachärzten… wohin ich dann, dank seiner Überredungskunst wanderte. Einmal suchte ich so ein Innereienbeschauungsinstitut auf – ein Prachtgebäude: auf den Gängen gediegenes Lichtdesign, das den Tag ausschloß, man traute sich nicht in diesen heiligen Hallen Angst zu zeigen. Die unhöfliche Assistentin sah in mir nichts weiter als einen Dummy, in den sie ihre Infusionsnadeln stechen konnte, wie einst bei den Übungen in der Ausbildung. Wieder einmal entblößt bis auf die Unterhose und die Nadel in der Vene war ich ausgeliefert einem Trum an Gerät, in das ich einfuhr wie in den Stollen des Gotthardtunnels. Nur das Sumsen und Brummsen der Maschine war zu vernehmen und die verzerrte Stimme ihrer Bedienerin (ein Teil der dieser Maschine). die im Überwachungszentrum nebenan in ein Mikrophon raunte und mir Atemanweisungen gab… Der nackte, angestochene Körper durfte sich schließlich wieder bedecken und zurückkehren in den Warteraum, wo bereits andere Delinquenten ihre Kontrastmittel schluckten, die man ihnen wie dümmlichen Kindern als „Getränk“ andiente, um nicht so klinisch zu wirken.

Da hockte ich also, mit Blick auf das von grauen Jalousien verdeckte Fenster und auf das Tischchen mit dem Stapel „Geo-Hefte“ und Designzeitschriften – „Frau im Spiegel“ gab´s hier nicht…und fragte mich – wenn ich jetzt gleich von einem völlig fremden Arzt das Untersuchungsergebnis vernehmen sollte, wie mich verhalten, halten, Haltung? Gezuckt wird nicht, ermannen! – und das mir. Aber das werden viele andere mehr oder weniger auch gedacht gegrübelt und gefühlt habe. Ich denke halt mehr – und solche Leute sind gefährlich und gefährdet.
Der anonyme Arzt führte mir am Monitor die Querschnitte meiner Eingeweide vor – in bunten Farben und possierlichen Flecken wie von Wols gemalt.
„Nichts“, sagte er, als fühle er sich belästigt, daß ich ihn mit meiner Gesundheit aufhielt…drückte mir eine CD-Rom-Kopie in die Hand und ich war entlassen. Erst 200 Meter vom Hause entfernt als sich der Verkehrslärm auf meine bis dahin betäubten Ohren niedersenkte, konnte ich sowas wie aufatmen…
Und was habe ich gemacht – ich habe als erstes meinen Landarzt angerufen, der zu der Zeit bereits auf Patientenbesuch war und in seiner Praxis hiterlassen, es sei alles in Ordnung.
Da hatten wir es also – das Vertrauensverhältnis angesichts des tiefsten Unvertrauens, das ich wenige Minuten zuvor erlebt hatte. Aber worauf gründet sich das Vertrauen? Was kann dieser Landarzt, was die Aggregatärzte nicht können?

Ein guter Arzt macht Mut

Ich will es Euch sagen – und komme jetzt endlich, endlich, zu der Hauptsache: um Vertrauen zu fassen, muß man Mut haben…so ein Landarzt, der hinter den sieben Bergen seinen Leute zuhört, ihnen die Hand schüttelt und in die Augen blickt, macht Mut…macht Mut, sich dem Leben zu stellen, auch seiner Krankheit, aber vor allem dem verrinnenden Leben und macht Mut vielleicht das zu packen, was noch nicht verronnen, zerlaufen, zerfleddert und vergeudet ist. Nicht bei jedem und nicht immer – aber manchmal eben doch…
Immer wenn ich von ihm wegfahre, atme ich leichter (ich bin ja Nichtraucher), selbst wenn zu der Gicht, dem Bluthochdruck und dem Zucker noch ein neues Gebresten dazugestoßen sein sollte. Besonders jetzt im Frühjahr gondele ich durch die gebirgichten westfälischen Gefilde, entdecke die hier späten Narzissen und wenn es regnet, staune ich wie aus der Krume ein fettgesogener Acker wird – und was dergleichen an Idyllen noch möglich ist.
Natürlich kann es sein, daß mein Landarzt mir auch einmal eine sehr ernste Neuigkeit (die dann eigentlich keine gewesen sein wird) mitteilen muß – aber selbst die lasse ich mir lieber von ihm mitteilen als von dem namenlosen Spezialarzt, dessen Wissen ich hoch ehre…

Solche Landärzte (und der Begriff steht für ein kleines Segment eines ganzen Standes) werden eben nicht aussterben…wir brauchen sie, damit sie Mut machen. Es ist übrigens widersinnig, wenn fromme Gesetzesgeber ihnen und ihren Kollegen verwehren wollen auch die Letzte Hilfe zu geben – Christan-Uwe Arnold und meine Großmutter sind die Kronzeugen. Selbst diese Letzte Hilfe, die Gewißheit, daß ein Landarzt sie zu geben vermöchte, wenn man es ihm doch erlaubte, macht Mut…macht Mut, jetzt, da es noch nicht so weit ist, weiter zu leben und wenn das Leben zur Neige geht, nicht ausgeliefert zu sein wie damals als kleines Kind, mit nacktem Unterleib auf den OP-Tisch gefesselt um durch die bittere Ätherarkose ins vermeintliche Nichts zu stürzen.
Ja – wir brauchen die Landärzte, weil sie uns mit dem Leben versöhnen können – als Mutmacher vielleicht noch mehr als den Mediziner- aber eben mit ihrer Art der Medizin machen sie ja Mut.
Und in einer Zeit, in der es soviele Sibyllen der Entmutigung gibt, in der die Predigt zur Mutlosigkeit Mode geworden ist, in der der Mißmut Maxime wird, brauchen wir die Utopie des Landarztes umso mehr…denn der „Landarzt“ ist eine Großmetapher – jawohl, nicht dystopisch wie bei Kafka, sondern ganz utopisch für unsere mutlos-malade Gesellschaft.
Nur eines stimmt mich wirklich bedenklich…auch Ärzte sind nur Menschen, natürlich…auch sie können einmal den Mut verlieren…auch sie werden krank und sind eben keine unsterblichen Götter…wer macht dann ihnen Mut? Ich will´s versuchen!

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