Die Sache mit der Moralität. Oder der Moral?
Gastkolumnist Horst Kläuser über Moral und Doppelmoral.
Wer wollte nicht moralisch sein. Ich bin gut. Andere eher schlecht. Und wenn ich durch Zufall mal nicht ganz so moralisch sein/handeln sollte, dann kann ich es wenigstens von anderen einfordern. Von Politikern, zum Beispiel. Geht immer. Von Funktionären auch. Von Geistlichen erst recht. Von Sportlern auch (Fußballer ausgenommen = eigene Welt). Von Schauspielern dann, wenn sie nicht mehr täglich auf dem Schirm sind, ansonsten siehe Fußballer ….
Nein, mal ganz im Ernst. Moral ist eine wichtige Sache. Sollte man nicht mit spaßen. Und deshalb ist es saugut, dass die Medien dem Wendt jetzt mal eine gehörige Abreibung verpassen und dem Jäger gleich mit. Und dem Schulz auch. Wen haben wir noch gerade auf der Moralanklagebank sitzen? Und je nach Ausrichtung alle die, vom Grölen erschöpft, nicht verstehen können, dass man die Diskussion über das Verhalten der türkischen Führung unter Umständen auch differenziert betrachten könnten. Ach, Großkreutz gehört auch noch in die Kategorie amoralisch. Der fällt in die Kategorie‚ nicht mehr täglich auf dem Schirm. Darf also runter geputzt werden. So wie der Dingens auch – darf ich jetzt noch nicht sagen, kommt erst am nächsten Samstag raus.
Auf der europäischen Weltbühne werden wir (Deutschland), Österreich und auch aktuell die Niederlande gescholten und von jemandem im Süden Europas als amoralisch bezeichnet, was in diesem Fall mit der Bezeichnung „faschistisch“ einhergeht. Ich lass mal offen, wer daneben liegt….
Empörungsfutter
Alles klar? Woche für Woche, manchmal auch im Tagesrhythmus versorgen mich die Kollegen mit Empörungsfutter: die Gierigen, die Nimmersatten, die Klüngler, die Heuchler, die Raffzähne , die Diktatoren, die Rechten, die Linken und die Moralapostel. Wie, die auch? Schaurig läuft’s dann einem bei der täglichen Portion Moralverstöße über den Rücken. Der auch? Kriegte den Hals nicht voll. Hat den Schuss nicht gehört.
Nur gut, dass es einen selbst nicht betrifft. Wir sind moralisch, clean! Weiße Weste. Ehrlich. Anständig. Widerstehen jeder Versuchung.
OK, OK, dass der Anstreicher sich die Hälfte hat in bar auszahlen lassen, ohne Mehrwertsteuer und mit geringerem Stundenlohn – da haben doch beide was von gehabt, oder? Oder die Sache mit dem vergessenen Coupon am Pfandautomaten im Supermarkt. Klar, man hätte den auch an der Info abgeben können – aber da warteten so viele und wegen 12,87 €? Macht doch jeder. Oder die 500 Blatt Kopierpapier aus der Firma. Mein Gott, die kaufen so große Mengen ein, das tut denen doch gar nicht weh. Und die halbe Stunde längere Dienstreise, damit man auch noch die Tagespauschale mit Essen bekommt – also bei den Staus könnte das ja wirklich ….
Im Glashaus
Man muss nicht im Glashaus sitzen, um den ersten Stein zu werfen. Redensarten und Gleichnisse haben es mit Steinen. Immer geht es darum, dass man (also „ich“ und „wir“) höllisch genau seine eigenen Balken im Auge haben sollte, bevor man sich auf die Suche nach dem Splitter im Auge des anderen begibt.
Nun mag das auf den ersten Blick nichts mit klassischer Moral zu tun haben, aber natürlich wirft es die Frage nach dem „double standard“ auf, was eben nicht nur zweierlei Maß, sondern eben auch Doppelmoral meint. Hier liegt der Hase im Pfeffer. Jeder bastelt sich seinen eigenen Wertekanon, der mal mehr mal weniger von anderen abgeguckt wurde. Man schlüpft in seine Wertewelt, die immer dann passend gemacht wird, wo eigene Unzulänglichkeiten im Wege stehen. (Man denke an den Arzt, der zu gesunder Lebensweise mahnt, aber selbst übergewichtig und Raucher ist.) Wer zu gedankenfaul ist, übernimmt auch die Moralvorstellungen von Promis; es eignen sich Schauspieler, Fußballstars und bisweilen sogar Politiker als Steinbruch von Moralstückchen und zur Komplettkopie. Ist bequem und hat den Vorteil, mit vielen anderen übereinzustimmen.
Für den „Moralindividualisten“ sind solche Leute freilich unerträglich, aber was soll’s. Sie stehen auf „do-it-yourself-Moral“, unangreifbar, souverän. Das kann im Diskurs spannend – und anstrengend – sein, wenn es intelligente Menschen sind, wahnsinnig irritierend – um das Wort abstoßend zu vermeiden -, wenn solche Moral-Bastler dumm sind.
Spätestens an dieser Stelle ist allen klar geworden, dass ich weder Philosoph noch Soziologe bin und auch nicht anderen Berufen mit Deutungsbedürfnis gehöre. Ach, doch – als Journalist tut man nichts anderes, bewegt sich manchmal auf dünnem Eis.
Also ist es nicht verboten darauf hinzuweisen, dass selbst mir der Unterschied zwischen Anspruch an sich selbst – und kundgetaner, beschworener Moral – und tatsächlichem Handeln bekannt ist. Gut zu denken und das zu äußern, ist etwas völlig anderes als Gut(es) zu tun.
Der Deckungsgleichheit steht der Eigennutz im Wege. Darf ich Klügere als mich selbst zitieren? Nach Hegel ist das kantische Moralprinzip des Gut-sein-Wollens völlig unbestimmt, abstrakt und bedarf somit der Konkretion.
Selbst diese Erkenntnis macht mich und vermutlich andere noch nicht zu einem besseren, im Kontext dieses Textes zu einem moralische(re)n Menschen. Komplex und schwierig wird es allerdings, wenn Moralattitüden und Emotionen, über die wir noch gar nicht gesprochen haben, eine weiche Mauer bilden, an der Fakten und Argumente abprallen.
Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich befürchte, genau hier ein Massenphänomen zu erkennen, das durch die sogenannten sozialen Medien potenziert wird. Erstmals können Menschen, die sonst keinen aktiven Zugang zu Medien und damit zu einer theoretisch unbegrenzten Öffentlichkeit hatten, ihre Sicht der Dinge und der Welt auf die Menschheit kippen. Rein äußerlich ist nämlich einem Tweet oder einem Facebook-Text nicht anzusehen, ob ihn ein Philosophieprofessor aus Harvard oder Chantal „von umme Ecke“ verfasst hat. Moralvorstellungen, projiziert und angewendet auf alle möglichen Lebensbereiche, von denen „man“ keine Ahnung hat, werden ins Netz gespült: die korrupte Politik, die zu milde Justiz, die vergifteten Lebensmittel, der durch und durch böse Islam, die Chemtrails, die kleptomanen Unternehmer, die faulen Hartz-IV-Empfänger, die stehlenden Roma, die verbrecherischen USA/Russland/Türken/Chinesen.
Alternative Fakten
Ich habe Recht mit meinem (Vor)Urteil und finde für alles Belege. Hauptsache meine Welt bleibt in sich stimmig, meine Moralvorstellungen von gut und böse, richtig und falsch werden nicht in Frage gestellt. Und sollten sie in Frage gestellt werden, genügt als Antwort:
sind wir denn schon (wieder – die Variante der „historisch Bewanderten“) soweit, dass man nicht mal mehr seine eigene Meinung sagen darf?
Das heute als „Meinung“ auch falsches, vulgo: „alternative facts“, gilt, Verleumdungen, frei Erfundenes, Verdrehtes und übelste Beschimpfungen sei nur am Rande erwähnt. Wo jeder seine eigene Moralität herstellt, versagt der gesellschaftliche Konsens.
Das Problem einer schlüssigen und möglichst unangreifbaren Definition von Moral offenbart sich auch in der schriftlich fixierten Staatsmoral. Damit meine ich Gesetze. Bis auf kleine Passagen im Grundgesetz vermeiden Gesetze moralisierende Sprache oder Pathos. Dennoch beschreiben die kodifizierten Regeln natürlich die öffentliche Moral, der man sich als Bürger zu unterwerfen hat, wenn man nicht vorzieht, den Staat als solchen abzulehnen.
So machen es beispielsweise die „Reichsbürger“, die damit auch ihre eigene Moral erschaffen und sich in dieser individuellen Welt behaglich-kampfbereit einrichten. Andere, vom Anarchisten bis zu gewissen Antifa-Gruppierungen machen es ähnlich.
So. Und jetzt. Haben wir etwas gelernt? Kaum. Schön wäre es, wenn hin und wieder die eigene Moral auf den Prüfstand gestellt würde und zwar nicht nur absolut, sondern auch in Relation zu anderen, denen man geneigt sein könnte amoralisches Verhalten vorzuhalten. Oder wie es das Lexikon beschreibt:
Während man unter Moral die Prinzipien des guten und richtigen Handelns versteht, bezeichnet Ethik eher die Reflexion über die Geltung und Begründung solcher moralischen Grundsätze. (zit nach: Online-Wörterbuch Philosophie: Das Philosophielexikon im Internet)
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