Die Zauberfloskel „Man muss“. Peter Kurzeck…
… und der stumme Zwang der Verhältnisse.
Zum 3. Todestag.
Vor mittlerweile drei Jahren ist mit Peter Kurzeck einer der konsequentesten deutschsprachigen Nachkriegsschriftsteller verstorben. Einer, der sich nicht dem mitleidheischenden Gejammer der Trümmerliteraten anschloss, der keine Stunde Null beschwor, der stattdessen an die erzählerischen Leistungen der europäischen Moderne anknüpfte und Wege suchte, die Welt des so genannten Wirtschaftswunders, ihre Schattenseiten, ihre Schattenwirtschaften, erzählerisch zu durchdringen. Kurzeck Werk ist sprachlich sehr dicht und wird selten gelesen. Die beste Annäherung ermöglicht vielleicht die kleine Hörbuchimprovisation Ein Sommer der bleibt – Das Dorf meiner Kindheit, die Kurzeck endlich einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte.
Regeln gegen Regeln setzen
Darin macht Peter Kurzeck innere und äußerer Zwänge des Kindseins in der frühen Nachkriegszeit erfahrbar. Der Sprecher zeigt die dem Anschein nach freie Kindheit, die tatsächlich eine schöne und abenteuerliche gewesenen sein muss, wie Kinder sie heute nur selten noch erleben, als eine von Regeln bestimmte und durchformte, von fremden wie von selbst geschaffenen. Das gelingt ihm, besser als wenn er sich urteilend über die kindliche Erlebniswelt aufschwingen würde, mit dieser einen Floskel, die so unglaublich typisch kindlich ist, und so erwachsen klingt (ich erinnere mich sie selbst oft gebraucht zu haben, als Kind, wenn mir etwas wichtig erschien) … „man muss…“.
Kurzeck erzählt damit auch, quasi nebenbei, wie der Autor sich die Freiheit zum Erzählen gewinnt. Gegen das gängelnde „du musst“ der Dorfgesellschaft, der Erwachsenenwelt stellt das Kind „man muss“ seine eigene strikte Regelwelt auf.
Man muss. Diese so entlarvende Redewendung durchzieht auch Kurzecks frühe Romane. Das Müssen treibt die Charaktere in ihren Versuchen ihr Leben zu fristen beim Schwarzhandel ebenso wie beim Biertrinken, oder wenn man voll gesoffen das falsche Dach gedeckt hat und nun noch immer das Geld eintreiben will. Doch vom spielerischen „man muss“ der Kindheit, immer absolut wirkmächtig und doch so leicht abzuschütteln, bleibt wenig übrig, der Zwang (unpersönlich und von niemandem durchgesetzt) wird totaler. Man passt sich an, um anders zu leben als die anderen, man muss halt dies und das, man muss sogar zum Schnaps ein Bier trinken, dass man halt satt werde. Muss man.
Das Ganze: Bedrängnis
Der Vorrang des gesellschaftlichen Ganzen, gegen das man immerzu anstrampelt, mit dem man schwimmt wo es durch Gewalt oder Glanz zu überzeugen weiß, das ist Kurzeck in seinen Romanen stärker als in den Kindheitserinnerungen. Das ist auch sein Unterschied zu den Beatpoeten, mit denen Kurzeck bestimmte Perspektiven und Mittel der sprachlichen Gestaltung teilte – jene träumten wohl tatsächlich die Welt als die beste Aller, und sich als neue Herren.
Der Vorrang des Objekts schlägt sich bis tief in die Sprache Kurzecks nieder, wo oft die Welt, auch noch wo sie als Natur erscheint, als das eigentliche Handelnde auftritt, während der einzelne Mensch noch im Stadium größter Freiheit, das ist für gewöhnlich am Steuer eines Autos, angetrunken, irgendwo zwischen Frankfurt und Gießen, der ist, dem Behandlung widerfährt. Etwa so:
In die Nacht hinein Gießen und Wetzlar und Frankfurt wie Sternenhaufen hinter dem Horizont (…) ein gelber Buick ist der falsche Buick, gelb und schwarz (…) Schon Licht in den Schaufenstern. Kneipen, Türen, Eingänge. Und die Leute, wohin gehen sie immerfort heim? Und jetzt fängt es zu regnen an (…) Jetzt im Herbst ist das eine lange Allee und der Wind hat gewartet, der Regen kommt da übers Feld. Die Straße ist nass. Die Hügel erkennst du, die Ferne, den heutigen Nachmittag und mit seinen Ästen voll Herbstlaub hier die Böschung entlang jeden einzelnen Baum…
Man beachte aber auch, wie diese Passage in ein noch immer verkehrtes doch strahlend poetisches Bild umschlägt.
Einmal waren die Pflaumen reif und die Äpfel reif und hell auf den Hügeln der Mittag und Drachen am Himmel und drunterher sind an langen Fäden die Kinder gerannt; diesen Tag hat es auch gegeben.
Mit solcher Verdichtung gelingt es Kurzeck immer wieder, die Welt der Protagonisten geradezu brutal erfahrbar zu machen. Schnörkellose Realität, das ist alles andere als Realismus: „Keine technologische Kriegsführung um die Gunst des Lesers, keine Identifikationsangebote und Gesinnungsbekenntnisse, sondern dichte Prosa“, urteilte einmal Wolfgang Pohrt.
Man muss. Die, durch ein dem material künstlerisch abgerungenes Regelwerk gewonnene, Freiheit zu schreiben durchdringt und überformt noch den dauernden Zwang der verselbstständigten Welt, die Zumutung der Verhältnisse. Der Ohnmacht der beschriebenen Einzelnen tritt der beschreibende Dichter entgegen, gegenüber, tritt über sie hinweg. Und ist doch, das vielleicht die zentrale Pointe des steten Wechsels zwischen der Erzählung in der dritten und in der ersten Person bei Kurzeck, selbst schon ein Getrieben-Geschriebener.
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