Gemeinplätze zum Ausruhen
Auf dem Gemeinpatz kann man sich ausruhen. Dass das manchmal auch ganz gut so ist, zeigt Gesine Palmer im zweiten Teil ihrer Gemeinplatz-Serie.
In der Wiederholung spreche der Mensch sein ganz Wahres aus, sagte der Philosoph Franz Rosenzweig, und rechtfertigte damit seine überraschende Wendung zur Liturgie. Das mag auch für die bewusste Wiederholung richtig sein. Für die unbewusste Wiederholung, für eine litaneihaft repetierte Wiederholung des immerselben dramatischen Unsinns, gilt hingegen: Kritik tut not. Darum spreche ich hier noch einmal über Gemeinplätze:
Entlastung
In der letzten Kolumne hatte ich sie en passent schon gerühmt, die Gemeinplätze. Denn ja, sie sind eine großartige Sache. Gerade in dramatischen Situationen – wenn eine Todesnachricht das Gefühlsleben durcheinanderbringt, zum Beispiel – suchen auch hocheloquente Menschen Gemeinplätze auf und atmen dort durch wie auf dem schließlich doch noch gefundenen Marktplatz in einer fremden Stadt: Endlich haben sie die unangreifbare Formel, etwa „Im Grunde war es eine Erlösung“ oder „Wir hatten Höhen und Tiefen“ oder „In unseren Herzen lebt der Mensch weiter“ oder einfach nur dieses „Rest in Peace“, abgekürzt R.I.P., das in den sozialen Medien nach jedem prominenten Todesfall breit gestreut wird.
Es wäre in solchen Situationen völlig verkehrt, den Menschen diese Entlastungsmöglichkeit zu missgönnen. Nie braucht man sie dringender. Auf dem Gemeinplatz treffen sich diejenigen, die durch die harte Realität der Katastrophe aus ihrer bisherigen Wirklichkeit herausgeschleudert worden sind, mit denen, die noch in einer Gewohnheit herumspazieren, als könnte es sie selbst niemals treffen. Das gilt jedenfalls für die genannten tröstlichen Gemeinplätze. Etwas sehr anderes ist es aber, wenn der Gemeinplatz nicht nur ohne Not aufgesucht wird, sondern gar noch selbst die Katastrophe herbeiruft.
Der Gemeinplatz als Rettung
Stellen Sie sich vor, Sie werden in einem Interview gefragt, was passieren muss, damit die Energiewende endlich Wirklichkeit wird, Sie straucheln durch die Verwirrungen um die neuerdings nicht mehr nur messianische Windenergie, Sie stolpern durch die Fallen und Pannen der Elektromobilität, und endlich kommen Sie bei den belgischen Kernkraftwerken heraus – da wartet er auf Sie, freundlich, offen, aufgeräumt, videoüberwacht: der Gemeinplatz, und Sie hören sich sagen „Da muss erst eine Katastrophe passieren, bis die Europäer hier ihre Komfortzone verlassen, an einem Strang ziehen und gemeinschaftlich nachhaltig handeln“ oder so. Endlich in Sicherheit – hier ist Ihnen die Zustimmung der Hörerinnen und Hörer gewiss. Oder Sie schlendern, zunächst ganz zuversichtlich, durch einen kleinstädtischen Text über die Zunahme der Einbrüche, die Spendenfreude der städtischen Bevölkerung, die wachsende Unsicherheit in prekären Beschäftigungen – und irgendwann werden die Gassen enger, Dämmerung senkt sich über das Gespräch, die Schwierigkeiten bei der Integration von Flüchtlingen, jetzt bloß nicht zu konkret werden – da liegt er vor Ihnen, behaglich gepflastert, der Gemeinplatz: „Es muss erst eine Katastrophe passieren, damit die Behörden aufwachen, die Bürgerbedenken ernstnehmen, den Integrationsverweigerern eine Grenze setzen, sonst fliegt uns die Gesellschaft auseinander, aber mit Bildung, Bildung, Bildung“ usw.
Der Feuerwehrmann als Brandstifter
Das Schöne an diesen regelmäßigen Floskelaufmärschen auf den billigen Gemeinplätzen ist, dass sie durch ihre bloße vielfach wiederholte Formelhaftigkeit ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, egal wie dramatisch die Themen und Inhalte sind, auf die sie sich beziehen. Dabei sind die, die anderen jede Menge Katastrophen an den Hals wünschen, solange die nicht von sich aus das tun, was der jeweilige Ichsager für das einzig Richtige hält, meist in relativ komfortablen Situationen. Sie schreiben anderen vor, ihre „Komfortzonen“ zu verlassen, und hoffen, selbst in den ihren verbleiben zu können. Wieder gilt: an dem Wunsch, in einer Komfortzone zu leben, ist überhaupt nichts Schlechtes. Die vielen Flüchtlinge, die wir Europäer in diesen Jahren vor Augen haben, wissen das. Sie mussten Orte verlassen, in denen von Komfort nicht die Rede sein kann, und sie haben alle Arten von Katastrophen hinter sich. Gerade sie könnten uns allerdings deutlich machen: Katastrophen lehren nichts als sich selbst. Als Dorothea Zeemann nach dem Zweiten Weltkrieg den ersten Teil ihrer Autobiographie mit dem Titel „Einübung in Katastrophen“ versah, hatte sie Kenntnis von der psychoanalytischen Lehre des Wiederholungszwangs und wusste: Wer wirklich Katastrophen hinter sich hat, muss schon sehr großes Glück, gute Freunde und dazu ein resolut zupackendes Selbstbewusstsein haben, wenn er danach noch mal lernen will, ähnliche Katastrophen künftig zu vermeiden und ihnen vorzubeugen. Meistens ist selbst bei besttrainierten und vorbereiteten Katastrophenhelfern, bei Militärs, Polizisten und Geheimdienstlern, bei Rettungssanitätern, Ärzten und Deeskalationsfachkräften viel Zwischenzeit, viel Souveränität und viel umsichtige Vor- und Nachsorge nötig, damit sie aus der Katastrophe nicht nur lernen, wie sie eine noch schlimmere Katastrophe herbeiführen. Die Witzfigur oder Krimigestalt des Feuerwehrmanns, der selbst zum Brandstifter wird, weil er sich nur in der Katastrophenbewältigung als ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft erfahren kann, kommt ja in der Wirklichkeit immer wieder vor.
Der Traumatisierte als Gefährder
Wer einmal von einer Katastrophe aus seinem mehr oder weniger komfortablen Leben gerissen wurde, rechnet fortan immer damit, dass das wieder geschehen kann. Darum gelten in den Komfortzonen der „Normalbürger“ die „Traumatisierten“ erst einmal als Gefährder. Man traut ihnen zu, dass irgendwann die erlebte Katastrophe aus ihnen wieder hervorbricht. Die Katastrophe haftet ihnen an wie ein Virus, an dem man sich anstecken kann. Von dieser Panik ist noch der Spruch getrieben, der nur seiner Floskelhaftigkeit wegen harmlos erscheint. Inhaltlich gesehen erweist sich der Gemeinplatz „da muss erst einmal eine Katastrophe passieren, bis…“ eher als ein Produkt der Panik: um nicht Opfer der nächsten Katastrophe zu werden, inszeniert man sich als ihr Dirigent, gar als eine Art Arzt, der sie den weniger alerten anderen Menschen als Rezept vorschreibt. Die zu Vorbereitungszwecken berufene Katastrophe ist aber ähnlich tückisch wie das intensive Training für Extremsituationen. Solange man eine Übung deutlich als solche kennzeichnet, dient sie tatsächlich der Gewöhnung an das technisch richtige Verhalten. Sobald man sie aber als eine Pseudorealität inszeniert, um etwas über Leute herauszufinden (wie die „Bickstein-Consulting“ in Philip Kochs Komödie „Outside the Box“), sobald man versucht, wirkliche Katastrophen in Lehrstücke umzudeuten, entwickeln sie eine Tendenz, aus dem Ruder zu laufen. Denn sie zerstören das Grundgefühl der Betroffenen für die Wirklichkeit. Und wenn das Grundgefühl für die Wirklichkeit des eigenen Leidens oder des Leidens der anderen zerstört ist, dann ist der Gemeinplatz einer, auf dem sich gefährliche Truppen und brüllende Menschenmassen zu unguten Zwecken versammeln.
Katastrophen haben wir auch in Europa nicht erst seit Orlando, Paris und Leeds mehr als genug. Dass es nicht mehr sind, verdanken wir nicht katastrophenlüsternen Gemeinplätzen und Schrecken berufenden Einpeitschern, sondern der pragmatischen Politik und dem umsichtigen Verhalten vieler vieler Sicherheitskräfte auf allen großen Plätzen, auf denen sich in diesen Tagen Menschen versammeln, um Fußballspielen zu zu schauen oder ihre politischen Ansichten zu Gehör zu bringen. Möge es ihnen weiterhin gelingen, Katastrophen zu verhüten.
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