Wie kam die Astronomie des Islams auf die Insel Reichenau?
In Erinnerung an Professor Arno Borst
Seit dem 6.6.2016 ist wieder der heilige Monat Ramadan. Seit 1400 Jahren fasten Moslems, deren Kalender ein reiner Mondkalender ist, also aus 12 Monaten und 29 oder 30 Tagen besteht. Das Jahr ist 354 1/3 Tage lang, 11 Tage kürzer als der Sonnenkalender der christlichen Zeitrechnung. So beginnt also der Fastenmonat Ramadan immer 11 Tage früher als im vorherigen Jahr. Auch in der islamischen Welt hat sich der christliche Sonnenkalender durchgesetzt, zumal der Mondkalender für die Landwirtschaft etwa unbrauchbar ist. Der Mondkalender wird zur Zeit nur für religiöse Zwecke genutzt. Wie hat aber der Islam, den wir für so rückständig halten, seit 1400 Jahren exakt die Zeit der Fastenmonate, der Gebetszeiten und die Lago von Mekka ausrechnen können?
Das geheimnisvolle Astrolabium
Zwischen 1997 bis 1999 arbeitete ich in der Universität im Bereich der Bibliothek für Geschichte der Antike. Das weckte meine Neugier auf diese Epoche. War doch mein Kollege ein Professor für Altertumsforschung und hielt Vorlesungen in der Universität Salzburg. Fast jedes zweite Buch habe ich zumindest durchblättert und wenn es mein Interesse weckte, notierte ich die Stelle, um sie später zu finden und genau zu lesen. Immerhin gab es in diesem Bereich weit über 150.000 Bücher, von den damals insgesamt über 2 Millionen der Universitätsbibliothek in Konstanz. Eines Tages fand ich ein kleines Buch, eher eine Broschüre, mit dem Titel „Wie kam der Astrolab nach Reichenau?“ Ich blätterte kurz in dem Buch und sah ein Instrument, wahrscheinlich des frühen Mittelalters, für Zeitmessungen. Ich las Sätze wie „glühende Epoche des Islams in Andulisien„, die „Bodenseeinsel Reichenau„ und „wie die Wissenschaft der Araber nach Reichenau kam.“
Als Sohn türkischer Moslems sunnitischer Richtung war das für mich, als hätte ich in Klondike Goldnuggets gefunden. Beinahe hätte ich in dieser ehrwürdigen Bibliothek laut aufgeschrien. Es war, wie wenn in einem Krimi die Spannung steigt und man hört das immer lautere Anschwellen der Musik. Trotzdem schaffte ich es in all dieser Aufregung die Stelle des Buches zu notieren um es nach Feierabend zu lesen. Viele Bücher aus diesem Bereich darf man wegen ihrer hohen Seltenheit nicht ausleihen. Ein Teil ist so wertvoll, dass sie streng gesichert in verschlossenen Räumen aufbewahrt werden. Ich las also nach der Arbeit:
Der Abt aus dem 11. Jahrhundert…
Der Autor war der Konstanzer Professor für Altertumsforschung Arno Borst. Professor Borst erzählte von seiner Entdeckung: Ein maurisches Astrolab, das von Spanien den Weg auf die Insel Reichenau fand. Insel Reichenau? Diese Insel, die fast nur von Gemüsebauern bewohnt ist und auf deren Festlandseite sich eine Klinik für geistig Behinderte befand? Spinne ich jetzt? 1936 findet der Leiter des Konstanzer Stadtarchivs ein Paket mit zahlreichen Dokumenten aus dem 16 Jahrhundert und eine Übersetzung der Bibel. Der Archivar, dessen Kompetenzgebiet die Antike ist, schickt die Fundstücke nach Dresden zu Franz Beyerle. Ein Konstanzer im Dienste der Universität Dresden, er unterrichtet Geschichte der Rechtswissenschaften. Franz Beyerle sichtet die Unterlagen und stellt fest, dass es Werke von Hermann dem Lahmen sind. Ein Abt aus dem 11. Jahrhundert.
Im Mittelalter waren Konstanz, die Insel Reichenau und St. Gallen einige der wichtigsten Forschungsstätten des Christentums. Beyerle war fasziniert vom tiefen Reichtum der Dokumente. Tragischer Weise brach nun der zweiten Weltkrieg aus, Beyerle und seine Kollegen wurden zur Wehrmacht eingezogen. Die Arbeit konnte nicht fortgesetzt werden. Viel später, 1984, zeigte ein Beschäftigter der gleichen Universität, Helmut Maurer aus Dresden, dem Konstanzer Historiker Arno Borst einige Briefe, die das geheimnisvolle Thema wieder auf die Tagesordnung setzten. Letztendlich führten die Spuren wieder nach Konstanz.
Begegnung mit Arno Borst
Nach meiner Lektüre machte ich umgehend Professor Borst ausfindig. Damals war das kein Problem. Kleines Städtchen, in dem sich alle kennen und einander vertrauen. Ich rief also Herrn Borst an, der mich zu sich einlud. Bei ihm zu Hause schenkte er mir mehrere seiner Bücher und erzählte natürlich vom Astrolab und seiner Geschichte. Wir trafen uns und telefonierten noch mehrere Male. Borst ist 2007 gestorben. Dass er einer der bedeutendsten Mediävisten des 20. Jahrhunderts war, habe ich erst so nebenbei nach seinem Ableben mitbekommen. Das war vielleicht auch gut so, denn sonst hätte ich wohl viel zu viel Respekt vor ihm gehabt, was meine Unbeschwertheit im Umgang erheblich beeinträchtigt hätte. Borst bewunderte Hermann den Lahmen und ich bewunderte Borst. Borst erzählte mir, wie er damals seine Tage im Konstanzer Stadtarchiv verbrachte und penibel die Dokumente durchsuchte. Während dieser Arbeiten fand er ein öliges, gefaltetes Pergament mit lateinischen Inschriften. Er konnte zuerst nur ein Wort entziffern, „lazet“, und erkannte das Herz eines Tieres.
Das „Herz des Löwen“
Die spätere Übersetzung des Pergamentes ergab, es ging um Sternenmessung und das Wort „alcoto“ erregte Borsts Aufmerksamkeit. War das nicht Arabisch? Borst förderte aus der Unibibliothek ein Schriftstück Hermanns des Lahmen über das Astrolab zu Tage. So bekamen die Worte einen Sinn: Lazet oder Calbalazade, Hermann der Lahme hatte das „Kalb al Asad“ vervollständig. Also das „Herz des Löwen“ – eine Sternkonstellation. Außerdem stellte damals Hermann der Lahme fest, dass die Mauren die Pole des Astrolabs „alkitop“ oder „al kutb“ genannt hätten. Aber woher wusste damals Hermann der Lahme das alles?
Hermann der Lahme (1013 – 1054) war ein Benediktinermönch auf der Insel Reichenau, galt als Universalgenie und wurde wegen seiner wissenschaftlichen Übersetzungen und Arbeiten weltweit geachtet. Den Beinahmen ‘der Lahme’ bekam er, weil er unter einer seltenen Krankheit, der jugendliche Form der amyotrophen Lateralskelerose litt, die zunehmend zu Lähmungen und Behinderungen führt. Heute gehört Stephen Hawking zu den bekanntesten Menschen, die unter dieser Krankheit leiden. Das Astrolab ist ein Instrument aus der Zeit der späten Hellenistischen Antike, um den Weltraum und die Fixsterne abzumessen. Das Astrolab wurde vom Astronomen Ptolemaios (200 nach Christi) erfunden und wurde astrolabon genannt. Wir wissen heute nicht, wann die Menschen anfingen, das Gerät praktisch zu nutzen. Es ist nur bekannt, dass im 6. Jahrhundert in Alexandria und Konstantinopel das Gerät bereits genutzt wurde. Byzantinische Seefahrer haben im Mittelmeer ihre Ziele dank dieses Instrumentes gefunden.
Die Araber perfektionierten das Astrolab zu einem hochsensiblen Instrument. Das Astrolab des arabisch-maurischen Astronomen Muhammed az Saffar, das heute in der Staatsbibliothek in Berlin aufbewahrt wird, kam von der Insel Reichenau. Genau dieses Instrument wurde von Hermann dem Lahmen beschrieben. Hermann der Lahme hat das Astrolab, diese flache transportable Scheibe zur Messung von Fixsternen und Planeten, in den christlichen Kulturkreis eingeführt. Araber benutzten das Astrolab auch zur Ermittlung der Gebetsrichtung nach Mekka, zur Feststellung der täglichen fünf Gebetszeiten und zur Errechnung des Fastenmonats Ramadan. Durfte denn Hermann der Lahme als christlicher Mönch sich mit den Wissenschaften der „Ungläubigen“ auseinandersetzen?
Islam damals, Islam heute
Offensichtlich hat das keine Schwierigkeiten gemacht. Man muss auch daran denken, dass das Kloster Reichenau die Funktion der späteren Universitäten vorweggenommen hat. Sein Astrolab ermöglichte es, auch Bruchteile von Stunden exakt zu bestimmen. Dies kam dem benediktinischen Leben bezüglich der Festlegung des Stundengebets stark entgegen. So beeinflusste das religiöse Leben im Islam auch das der Christen.
Am 24. September 1054 starb der berühmte Reichenauer Mönch. Mit seinem Tod endete die Blütezeit des Klosters Reichenau.
Nachdem ich das alles erfahren hatte, musste ich unbedingt dieses Pergament sehen und kopieren. Also ging auch ich, wie damals Arno Borst, zum Stadtarchiv und bat darum, das Pergament sehen und kopieren zu dürfen. Was ich nicht wusste: Solche wertvollen alten Dokumente werden nur wenige Male im Jahr herausgenommen und zur Kopie freigegeben. Ich hatte das Glück, dass nur wenige Menschen sich damit beschäftigen und bekam eine Kopie. Leider habe ich mit meinem Umzug nach Istanbul die Kopie verloren.
Den damaligen Islam verband eine geistige Bruderschaft mit dem heutigen Christentum. Mehr noch, er wurde ein Vorbild für das Christentum. Der heutige Islam hat allenfalls eine geistige Bruderschaft zum frühmittelalterlichen Christentum.
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