Das Digitale denken

Wenn wir herausfinden wollen, ob wir digital denken und was das für Konsequenzen hat, müssen wir zuerst das Digitale denken.


Wie beeinflusst die digitale Welt unser Denken? Denken wir schon digital genug, oder wird unser Denken von der digitalen Welt bestimmt? Müssen wir Angst vor einer Digitalisierung des Denkens haben oder eher fürchten, dass das Denken mit der Digitialisierung der Welt nicht Schritt halten könne?

Wer sich solche Fragen stellt, der tut gut daran, zunächst einmal zu fragen: Was ist denn digital? Und was bedeutet es, zu denken?

Wann denken wir?

Wenn wir solchen Fragen nachgehen, dann denken wir, das scheint klar. Zum Denken gehört irgendwie alles, was bewusst im Kopf vorgeht. Gedanken zu bilden, zu verändern, zu prüfen, zu verwerfen, das bezeichnet man als Denken. Oft, insbesondere wenn die Frage diskutiert wird, ob auch Computer denken können, wird das Ableiten logischer Schlüsse aus Prämissen, das Treffen „richtiger“ Entscheidungen, das stichhaltige Begründen von Handlungsentscheidungen als Denken bezeichnet. Für dieses Denken wurde schon vor langer Zeit die Logik entwickelt, Vorschriften für das richtige Ableiten von Schlussfolgerungen aus gegebenen Tatsachen oder Annahmen. Die Einhaltung solcher Denkgesetze bezeichnen wir dann als „logisches Denken“.

Aber Denken ist natürlich weit mehr als das, vielleicht ist es nicht einmal typisch für das Denken, „logisch richtig“ zu sein. Wenn ich jemanden Frage, wohin er gern einmal reisen möchte, und er antwortet: „Lass mich nachdenken…“ dann wird dieses Nachdenken vermutlich kein logisches Schlussfolgern aus Prämissen sein, eher ein Ausforschen der eigenen Wünsche und Sehnsüchte, ein intuitives Abwägen von Ängsten und Hoffnungen. Wenn ein alter Freund mich fragt, ob ich hin und wieder noch an die gemeinsame Studienzeit denke, dann fragt er nicht nach Betrachtungen zwingender Logik. Wenn ich Handlungen und Worte bereue, die jemanden verletzt haben, dann meldet sich das Gewissen nicht in der Weise logischer Syllogismen. Andenken, Nachdenken, Sinnieren, Reflektieren, Gedenken, Gewissen, Wünschen und Hoffen – das alles gehört zum Denken, und auch wenn wir dieses Denken in Worte fassen können gibt es dafür bis heute keine Logik, die uns sagen könnte, ob wir richtig oder falsch denken.

Versuchen wir, das Digitale zu denken.

Wenden wir uns denkend dem Digitalen zu. Wir könnten zunächst versuchen, einen Logik-tauglichen Begriff zu finden, der all das bezeichnet, was wir heute selbstverständlich als „digital“ bezeichnen. Es gibt „digitale Endgeräte“, „digitale Formulare“, „digitale Anzeigen“ auf Waagen und Thermometern, „digitale Ausgaben“ von Zeitungen, das „Digitalradio“ und „digitales Fernsehen“, es gibt sogar eine „digitale Welt“ und es ist die Rede vom „digitalen Denken“. Irgendwie verstehen wir all diese Bezeichnungen. Wir können sie benutzen und werden von anderen verstanden.  Also müssen wir auch einen passenden Begriff von diesem Attribut „digital“ haben.

Das Digitale hat mit Computern zu tun, es ist das, was vom Computer erzeugt wird. Die digitale Welt ist dann all das, was im Innern von Computern gesteuert wird, und das, was davon erzeugt wird. Allerdings kann es dann kein digitales Denken geben, solange wir annehmen, dass das Denken im Kopf stattfindet. Der Kopf, genauer, der Ort im Menschen, an dem die Gedanken ihren Platz haben, ist schließlich kein Computer. Oder vielleicht doch? Bevor wir dieser Frage nachgehen bleiben wir noch einen Moment beim „Ort der Gedanken“. Natürlich sind die irgendwo im Kopf. Aber wenn ich nachdenke, kann ich auch Dinge einbeziehen, die außerhalb meines Kopfes sind. Wenn ich herausfinden will, wohin ich in diesem Jahr in den Urlaub fahren möchte, kann ich Bilder von Gebirgen und Meeresstränden ansehen, ich kann mir Informationen beschaffen, Wegstrecken berechnen. Ich kann mir auch eine Liste mit Vor- und Nachteilen der verschiedenen Ziele machen. All das gehört zu meinem Nachdenken, das dann nicht mehr nur im Kopf stattfindet.

Führe ich meine Recherchen im Internet aus, lasse ich mir gar von einer App oder einem Online-Assistenten Vorschläge machen, nachdem ich meine wichtigsten Kriterien eingegeben habe, dann könnten wir mein Verhalten als digitales Denken bezeichnen. Wir kennen dieses Denken bereits von Dating-Portalen und Wahl-O-Maten.

Wenn wir diesem Verhalten, ganz ohne Nutzung von Suchmaschinen und Online-Lexika, noch ein wenig nachdenken, dann bekommen wir einen klaren Begriff vom Digitalen. Das Digitale hat, von alters her, in seinem Kern das Abzählbare, das Einsortieren der vielfältigen Welt in klare und möglichst wenige Kategorien. Das digitale Ideal ist die eindeutige Alternative: Ja oder Nein, Richtig oder Falsch, Drinnen oder Draußen, Freund oder Feind. Die digitale Welt ist die der sauberen Trennungen, der Kategorisierungen, der eindeutigen Identifikation. Jedes logische Schließen im Sinne der heute bekannten und in Schulen gelehrten Logik braucht diese klären Kategorien, selbst die gefeierte Fuzzy-Logik kommt am Ende nicht ohne sie aus.

Gezähmtes Denken

Wenn wir unser Denken zähmen, wenn wir es auf klare Kategorien konzentrieren und auf die Bahnen der Logik lenken, dann denken wir tatsächlich digital. Wir können dieses Denken auch als die vernetzte Vernunft bezeichnen. Sie ist es nicht nur deshalb, weil sie ihr Wissen aus dem Netz bezieht und weil sie ohne die digitalen Endgeräte, die sie mit dem Netz verbindet, nicht denken kann. Sie ist es, weil sie sich in einem Netz, auf den Bahnen eines Wissens-Netzwerks bewegt. Dieses wird gebildet aus den klaren, eindeutigen Begriffen der Kategorien, die durch eindeutige, zwingende Schlussfolgerungen miteinander verbunden sind. In einem solchen Netzwerk kommt man schnell zu einem Ziel und man kann immer angeben, wie und warum man genau hier angekommen ist. Dafür sorgt die zwingende Logik – aber sie zwingt uns eben auf die Bahnen des Netzwerks, sie lässt uns nicht ins schimmernde, uneindeutige Zwischen.

Wenn wir digital denken, dann wird unser Kopf tatsächlich zum Computer, denn Gefühle, Intuition, Sorgen, Sehnsüchte und das Gewissen sind aus diesem Denken ausgeklammert. Ein Computer hat keine Gedanken, er kennt keine persönlichen Erfahrungen, war nie verliebt, stand nie auf dem Gipfel eines Berges. Euphorie und Angst sind ihm fremd. Die Logik akzeptiert  als Schlussweisen vor allem die Deduktion und ein wenig die Induktion, aber niemals die Intuition.

Man könnte fragen, ob wir nicht wenigstens versuchen sollten, digital zu denken. Die Entwicklung der digitalen Welt ist doch eine Erfolgsgeschichte. Dagegen spricht allerdings einiges, denn die digitale Logik kennt weder Moral noch Freude. Spitzfindige Logiker könnten argumentieren, dass es gelingen könnte, moralische Entscheidungen ebenso wie freudenvolle Erlebnisse in digitalen Kategorien zu beschreiben und nach digitalen Maßstäben zu bewerten. Die Frage, ob das akzeptabel und wünschenswert ist, kann das digitale Denken allerdings nicht beantworten.

Das menschliche Denken ist nicht digital, und zwar nicht deshalb, weil es nicht im Computer steckt, sondern deshalb, weil Sehnsucht, Gewissen und Intuition dazu gehören. Man kann das bedauern oder sich darüber freuen, man muss es jedenfalls akzeptieren.

Mehr zum digitalen Denken gibt es in der letzten Kolumne von Jörg Friedrich.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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