Es gibt zu wenig Neid

Erwächst aus großer sozialer Ungleichheit eine Gefahr für die Stabilität der Gesellschaft? Die Beobachtungen sprechen dagegen.


Zuletzt bei Arm oder Reich

Dass die Ungleichheit zwischen Arm und Reich wächst, muss gar kein Problem sein. Es kann sogar zum Nutzen für alle sein, denn die Reichen investieren ihr Vermögen zum großen Teil oder geben es für Konsum aus – wovon alle profitieren. Vielleicht muss das Vermögen der Reichen auch überdurchschnittlich wachsen, weil die Investitionen, die notwendig sind, damit der Wohlstand für alle wächst, immer größer werden.

Ist die Welt voller Neid?

Es gibt die These, dass ein zu großer Unterschied zwischen Arm und Reich die sozialen Spannungen verstärkt, und zwar unabhängig davon, wie groß die absolute Armut tatsächlich ist. Die Armen neiden den Reichen einfach ihr Leben in Saus und Braus, und wenn der Neid zu groß wird, dann gibt es halt eine Revolution, dann marschieren die Armen los und schlagen den Reichen die Köpfe ein, brechen die Türen zu den Schatzkammern auf und rauben sich, was sie da finden können.

Gern werden zur Unterstützung dieser These Geschichten aus früheren Zeiten erzählt, etwa die von den Maschinenstürmern, oder die von den Revolutionen 1789 oder 1848, die der russischen Revolution von 1917 oder auch die aus den unsicheren Zeiten der Weimarer Republik.

Ob sich die revolutionäre Gewalt in diesen Zeiten wirklich immer gegen die Reichen gerichtet hat, ob sie tatsächlich immer von den Armen ausgegangen ist, oder ob Bürgerkriege, Revolutionen und  andere Radikalisierungen nicht zumeist ganz andere Ursachen hatten, kann man sicher lange und erhitzt diskutieren. Geschichte wird immer aus der Perspektive einer bestimmten Weltauslegung erzählt, und wer nur lange genug gehört und gelesen hat, dass alle bisherige geschriebene Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen ist, der wird natürlich in jedem Bürgerkrieg die Auflehnung der Armen gegen die Reichen erkennen können.

Das wollen wir hier gar nicht weiter verfolgen.* Wir schauen uns einfach die Gegenwart an. Sind die Gesellschaften besonders instabil, in denen die soziale Ungleichheit besonders groß ist? Die Ärmsten der Welt leben in den Ländern südlich der Sahara; am meisten Ausbeutung gibt es heute wohl in Ländern wie Bangladesch. Revolutionäre Bewegungen hat es aber in den vergangenen Jahren vor allem im nördlichen Afrika gegeben. Die Ursachen waren dort weniger ökonomisch, sondern eher politisch. Nicht die Armen sind in den Kampf gezogen, sondern die Intellektuellen, die sich von politischer Enge befreien wollten, die nach Demokratie und Meinungsfreiheit verlangten.

Wie sieht es in Europa aus?

Schauen wir in unsere direkte Umgebung, sehen wir uns in Mitteleuropa um. Entwickeln diejenigen, die wir den unteren Einkommensschichten zuordnen, ein besonders starkes revolutionäres Potential. Neiden sie den Fußballspielern und Filmstars, die sie im Fernsehen oder in der Boulevardpresse sehen, den glitzernden Reichtum? Entwickeln sie Hass oder Umsturzpläne gegen ein System, welches ihnen aus Hochglanzmagazinen entgegen leuchtet?

Nichts von alledem. So lange der tägliche Lebensunterhalt gesichert ist, geht von den so genannten „relativ Armen“ einer Gesellschaft keine Umsturzgefahr aus. Warum auch – sie wissen vielleicht intuitiv, dass ihnen die ökonomische Funktionsweise der Gesellschaft, wie ich sie im letzten Teil skizziert hatte, den Lebensunterhalt stabil sichert.

Aber auch die Mittelschicht entwickelt keinen Neid, aus dem ernsthaft eine Destabilisierung der Gesellschaft erwachsen würde. Natürlich ist die Meinung weit verbreitet, dass Manager zu viel Geld bekommen, aber wenn es konkret wird, will auch keiner tauschen. Über ein empörtes „Sehe ich auch so“ bei der Telefonumfrage der Meinungsforscher geht das revolutionäre Potential nicht hinaus.

Keine Statistik!

Es gibt keine Statistiken zu dem Thema – und manche meinen ja, man müsste eine Statistik haben, damit man irgendwas behaupten kann. Alles andere sei nur persönliche Meinung, kein harter Fakt. In Wirklichkeit ist es natürlich genau umgekehrt. Wenn irgendwas Fakt ist, dann sind es die eigenen Beobachtungen, über die man, wenn es gut läuft, in einer Diskussion auch noch Einigkeit erzielen kann. Das merkt man spätestens dann, wenn man einer Statistik, die jemand gerade noch als Argument herbei kopiert hat, methodische Fehler nachweist, wie etwa der berühmten Oxfam-Studie. Dann wird der, der gerade noch die Statistik als Beweis für irgendwas herangezogen hat, schnell böse und fragt: „Du willst doch wohl nicht bestreiten, dass …“

Wir machen also gar nicht erst den Umweg über die Statistik und ihre Widerlegung sondern sagen gleich: Ungleichheit führt scheinbar nie zu sozialen Spannungen, auch Gesellschaften mit großen Ungleichheiten sind stabil. Fremder Reichtum ist selten ein Grund für Revolutionen, auch wenn man selbst arm ist.

Man könnte einwenden, dass wir diese Stabilität eben den existierenden Umverteilungsmechanismen der sozialen Marktwirtschaft verdanken und dass wir deshalb, sozusagen im vorauseilenden Gehorsam gegenüber den potentiellen Revolutionären der Armen und Entrechteten, die Umverteilung vorantreiben müssten. Etwa, indem wir per 100%-Erbschaftssteuer dafür sorgen, dass jeder nur das verprassen kann, was er sich selbst verdient hat, und nicht auch das, was er von seinen Eltern übernommen hat. Darum geht es dann im nächsten Teil dieser Serie.

Lesen Sie alle bisher erschienen Teile der Staffel Arm oder Reich von Arte-Fakten-Die-Serie.

* Auch wenn wir – wenn wir in diese Richtung weiter denken – vielleicht dem Kollegen Leonid Luks widersprechen würden, der sagt, dass man aus der Geschichte lernen kann. Wir müssten ihm entgegenhalten, dass man aus der Geschichte vielleicht deshalb nichts lernt, weil man die tatsächliche Geschichte nicht kennen kann. Oder genauer: Weil man sie immer schon zu kennen meint, bevor man den historischen Tatsachen überhaupt begegnet. Aber aus dem, was man schon genau zu kennen meint, kann man nichts lernen.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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