Mandela verzweifelt gesucht
Venezuela hat gewählt. Die Opposition hat gewonnen und die Regierung – überraschenderweise – ihre Niederlage ohne Umschweife anerkannt. Nun stehen sich Präsident Maduro und eine neue parlamentarische Mehrheit in Konfrontation gegenüber. Dem Land fehlt eine Mandela-Figur mit der moralischen Autorität, um zu Versöhnung aufzurufen.
Überraschungen sehen anders aus. Angesichts der verheerenden Wirtschaftslage kam selbst dieser erdrutschartige Wahlsieg der Opposition in Venezuela alles andere als unerwartet. Überraschend waren allenfalls die Reaktionen von offizieller Seite.
So teilte die Präsidentin des nationalen Wahlrats, Tibisay Lucena, eine Chavista reinsten Wassers, prompt mit, dass das Oppositionsbündnis „Mesa de la Unidad Democrática“ („Tisch der demokratischen Einheit“) mindestens 99 der 167 Mandate erzielt hat. Auch Staatschef Nicolas Maduro sagte, er werde das Ergebnis anerkennen.
Regiert Maduro mit Militär gegen Parlament?
Solche Äußerungen waren im Vorfeld alles andere als klar. Maduro selbst erklärte noch vor Wochen, dass die „Revolution so oder so siegen werde“. Für die Kandidaten der Opposition hatte er nur Worte wie Teufel, Verbrecher und Handlanger des Imperiums (gemeint sind die USA) übrig. Die prominentesten Oppositionsführer, den Bürgermeister von Caracas, Antonio Ledezma, und den populären Heißsporn Leopoldo López hatte Maduro ohnehin unter fadenscheinigen Anschuldigungen wegsperren lassen.
Den härtesten Konfrontationskurs gab Regime-Hardliner Diosdado Cabello vor. Der Parlamentspräsident mit besten Kontakten ins Militär drohte unverhohlen, dass die Regierung „im Bündnis mit Volk und Armee“ am Parlament vorbei arbeiten kann.
So eindeutig der Wahlsieg der Opposition ist, so unklar bleibt die Zukunft Venezuelas. Experten erwarten nun einen einen politischen Stellungskrieg, der Stimmung und Wirtschaftslage in einer tief gespaltenen Gesellschaft weiter nach unten ziehen könnte.
Chavistas und Opposition bisher unversöhnlich
Unversöhnlich wie immer stehen sich linke Chávistas und bürgerliche Opposition gegenüber. Nirgendwo eine Persönlichkeit, die Brücken bauen und für Ausgleich sorgen kann. Angesichts der Tiefe der Krise dürften selbst die Künste eines normalen Kompromisspolitikers gar nicht mehr ausreichen. Soll Venezuela nicht als „failed state“ enden, müsste eine wahre Mandela-Figur her. Doch einen Mandela findet man im Karibikstaat nirgends. Nicht mal eine Miniaturausgabe des großen Südafrikaners.
Hugo Chávez, Präsident von 1999 bis 2013, Heilsfigur auch für Linke hierzulande, war wohl das Gegenteil von Mandela. Ein Hetzer, ein Großmaul, ein Spalter, der den Hass seiner Anhänger auf die ehemaligen Eliten Venezuelas mit jeder seiner feurigen Reden weiter anfachte. Hätte Chávez auch nur einen Hauch von Mandela gehabt, die Perspektiven seines Landes wären rosig gewesen. Nach seinem ersten Wahlsieg – Ende 1998 – hätte der Tribun zur nationalen Aussöhnung aufrufen und den benachteiligten Schichten Schritt für Schritt zu mehr Wohlstand und gesellschaftlicher Beteiligung verhelfen können. Der Ölreichtum Venezuelas hätte es möglich gemacht. Diesen nutzte der Caudillo aber hauptsächlich, um Gesinnungsgenossen überall auf dem Kontinent Wahlkämpfe und Revolutionen zu finanzieren.
Regime hat Land herunter gewirtschaftet
Zudem konnten Familienangehörige und politische Mitstreiter des Fallschirmobristen über Nacht ihre Vermögen verfielfachen. Gewiss, für die Armen schuf der Comandante Sozialprogramme, auch gab er ihnen in seinen Reden das Gefühl, sie wirklich ernst zu nehmen. Doch nachhaltigen Wohlstand schuf der Sozialist nicht. Eher zündete er ein teures Strohfeuer nach dem anderen, ohne die Wirtschaft Venezuelas weiterzuentwickeln. Im Gegenteil: Erfolgreiche Privatunternehmen wurden enteignet. Unfähige Parteigenossen versuchten sich dann als Geschäftsführer und erlitten reihenweise Schiffbruch. Die Cash-Cow Nummer eins des Landes, den Ölkonzern PdVSa, ließ Chávez auf Verschleiß fahren. Die Gewinne wurden für politische Projekte und Subventionen abgezogen, reinvestiert wurde nicht. Kein Wunder, dass langfristig die Produktivität beim Devisenbringer einbrach.
Und als der Ölpreis in den Keller sank, kam nahezu das ganze Land zum Erliegen. Hyperinflation, Mangelwirtschaft, Versorgungsengpässe, ein Klima von Angst und Gewalt allenthalben. Eine Versorgungslage wie im Moskau der 80er Jahre, dazu Kriminalitätsraten wie aktuell in Westafrika. Apokalypse Venezuela – so sieht es drei Jahre nach Chávez` Tot aus.
Maduro fehlt das Charisma von Chávez
Selbst ein stärkerer Präsident als der weitgehend Charisma-freie Maduro hätte Probleme bekommen, gegen die Gesetze von ökonomischer Schwerkraft und Vernunft zu regieren. Angesichts einer solchen allgegenwärtigen Misere wandten sich selbst treueste Chavistas vom Regime ab – und der Opposition zu. Was aber kann die mit der neu gewonnen parlamentarischen Mehrheit anfangen? Eine Frage, die selbst intime Kenner Venezuelas nicht wirklich beantworten können.
Bislang ist die Opposition, deren Zusammensetzung von linken Sozialdemokraten bis hin zu neoliberalen Anhängern einer Marktwirtschaft ohne Attribute reicht, selten durch Einigkeit aufgefallen. Zudem sitzen deren fähigste Köpfe noch im Gefängnis und nicht im Parlament. Auch hat sich das Regime bisher als sehr trickreich erwiesen, wenn es darum ging, demokratische Entscheidungen gegen die Machthaber auszuhebeln.
Als Oppositionsführer Ledezma beispielsweise zum Bürgermeister von Caracas gewählt wurde, übertrug Chávez kurzer Hand wichtige Befugnisse einer frisch ernannten Ministerin für Hauptstadtangelegenheiten. Die erhielt einen üppigen Etat, während dem demokratisch gewählten Bürgermeister das Budget um 95 Prozent zusammengestrichen wurde. Auch ließ das Regime das Rathaus der Hauptstadt blockieren. Ledezma residierte bis zu seiner Verhaftung in einem privat angemieten Büro.
„Wir oder das Chaos“
Maduro und vor allem Cabello sind solche Taschenspielertricks allemal zuzutrauen. Ihre Strategie könnte sein, die neue Mehrheit im Parlament zu spalten und die vielen Politikneulinge in den Reihen der Abgeordneten als unfähige Dilettanten vorzuführen. „Wir oder das Chaos“, mit dieser Parole haben die Chavistas schon in der Vergangenheit erfolgreich gearbeitet.
Es bleibt abzuwarten, ob das Oppositionsbündnis seinen kurzfristigen Vorteil dennoch klug zu nutzen weiß. Dazu braucht es Geduld, Geschick und vor allem eine gemeinsame Strategie. Über den Berg wäre Venezuela selbst dann längst nicht. Die Wirtschaftskrise ist zu tief – und der Graben zwischen den Armen und dem Bürgertum zu groß. Zudem warten viele Chavistas auf Schwächen der Opposition und die Chance, bei der nächsten Wahl Revanche zu nehmen.
Es heißt ja: Wunder gibt es immer wieder. Daher kann man nur hoffen, dass aus den Reihen der neuen Mehrheit wirklich eine Mandela-Figur auftaucht. Nur aufgefallen ist sie bisher noch nicht!
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