Bitte nicht Bob Dylan!
In den letzten Jahren hat die Schwedische Akademie ihre unselige Angewohnheit abgelegt, politische Literaturnobelpreise zu verleihen. Grund genug für Kolumnist Sören Heim, ein wenig zu spekulieren, wer den Preis dieses Jahr bekommt. Und wer ihn bekommen sollte.
Patrick Modiano: Das Kleinod des letzten Jahres
Die besondere Faszination der Romane Patrick Modianos speist sich daraus, dass Modiano dem Anschein nach an all den Verrenkungen, die moderne Autoren oft um der schieren Innovation willen unternehmen, keinen Anteil nimmt. Nie hat man das Gefühl, Modiano suche diesen einen, einfach nur spektakulären Kniff. Und dennoch erzählt Modiano auch niemals nur eine Geschichte dröge von A nach B. Das sprunghafte Erinnern seiner Protagonisten verknüpft ganz zwanglos die zahlreichen Zeitebenen innerhalb einer Modiano-Erzählung, so auch noch die auktorialsten Passagen in der Schwebe haltend. Modiano schildert plastisch, jedoch nie mit dem Gestus des so-und-so-und-nicht-anders-war-es. Exemplarisch dafür das erste Kapitel von Dora Bruder, das auf nur drei Seiten in losen Reflexionen den gesamten Nexus der Periode zwischen der vorletzten und der letzten Jahrhundertwende aufspannt. Es ist diese zwischen den Zeiten oszillierende Erzählweise, die es Modiano erlaubt, ohne ins Kitschige abzudriften, melancholische Erinnerungen wie die folgende auszubreiten:
„Als Kind hat sie sicher auf dem Square Clignancourt gespielt. Zeitweise glich das Viertel einem Dorf. Am Abend stellten die Nachbarn Stühle auf die Gehsteige und schwatzten miteinander. Man trank eine Limonade auf der Terrasse eines Cafés. Hin und wieder zogen Männer, von denen man nicht wusste, ob sie richtige Ziegenhirten oder Schausteller waren, mit ein paar Ziegen vorüber und verkauften ein großes Glas Milch für zehn Sou. Der Schaum hinterließ einen weißen Schnurrbart.“
Politischer Preis? Literarischer Preis?
Kein Zweifel: die Vergabe des Nobelpreises für Literatur im vergangenen Jahr an das stille tiefe Wasser Modiano war eine würdige, vor allem von ehrlichem Interesse an der Kunst getragene Entscheidung. Damit manifestiert sich langsam ein Trend, der sich schon mit den Preisen für Tomas Tranströmer, Mo Yan, Alice Munro und Mario Vargas Llosa abzeichnete. Die politischen Motivationen der Preisvergabe, um die die Akademie ja niemals einen Hehl gemacht hat („das Beste in idealistischer Richtung“ soll der Nobelpreisträger verkörpern) treten wieder verstärkt hinter literarischer Erwägungen zurück. Konnte man sich noch bei den Preisen für Müller, Pinter, Jelinek und auch, etwas früher, Grass, des Eindrucks schwerlich erwehren, dass damit vor allem politische Statements gemacht werden sollten, stellten die vergangenen Jahre sprachliche Konzentration in den Mittelpunkt. Llosa übrigens markierte einen Bruch: Bedacht für „seine Kartographie der Machtstrukturen und scharfkantigen Bilder individuellen Widerstands“, also wohl für die frühen, marxistisch beeinflussten Romane Das grüne Haus und Gespräch in der Kathedrale, wurde der Schriftsteller in der Öffentlichkeit vor allem gefeiert, weil endlich mal ein bürgerlich liberaler Denker Anerkennung erhielt.
In der kommenden Woche wird Gerüchten zufolge der Träger des Nobelpreises für Literatur 2015 verkündet. Und auch wenn man sich mit Prognosen eigentlich nur in die Nesseln setzen kann, sei ein kleiner Ausblick gewagt:
Ewige Nobelpreisanwärter
Setzt sich die Tendenz der vergangenen Jahre fort, führt kaum ein Weg an Thomas Pynchon vorbei. Seit nunmehr fast einem halben Jahrhundert gilt Pynchon als womöglich der größte Schriftsteller des englischen Sprachraums. Seine auf den ersten Blick chaotischen Textmassen sind auf den zweiten und dritten sorgsam durchkomponierte Kunstwerke, deren Anleihen bei der musikalischen Kompositionsweise der Autor selbst etwa in Gravity’s Rainbow mehrfach behutsam reflektiert.
Und: Wer sich auf Pynchon einlässt lacht sich oft kringelig.
Updike ist tot, Roth hat sich damit abgefunden, nicht mehr berücksichtigt zu werden, eigentlich muss es Pynchon werden. Allerdings: Die schon gut zwei Jahrzehnte währende Abneigung der Akademie gegenüber amerikanischen Autoren wurde vielfach thematisiert und kritisiert. So bleibt es eher unwahrscheinlich, dass wir den öffentlichkeitsscheuen Pynchon mit seiner charakteristischen Tüte auf dem Kopf zur Preisverleihung zu sehen bekommen.
Ngũgĩ wa Thiong’o oder Ben Okri?
In vergangenen Jahren immer wieder ins Gespräch gebracht wurde auch der frühere kenianische Exilant Ngũgĩ wa Thiong’o. Dessen Verbrannte Blüten ist einer der wenigen Belege, dass auch sozialistischer Realismus vielschichtige Literatur hervorbringen kann. Schon allein dieses Unikum macht den Autoren beinahe preiswürdig. Jedoch gelang es Ngũgĩ kein zweites Mal sich auf das Niveau seines Meisterwerkes zu schwingen. Seine neueren Texte einschließlich des hoch gehandelten Wizard of the Crow sind politische Pamphlete von zweifelhaftem literarischen Wert.
Mit ganz ähnlichen Problemstellungen wie der international hoch geschätzte Ngũgĩ, wenn auch unter deutlich anderen regionalen Vorzeichen, setzt sich der Nigerianer Ben Okri auseinander. In dessen Meisterwerken Die hungrige Straße und Songs of Enchantment sowie Starbook verschmilzt der alltägliche Kampf ums Überleben unter korrupten und instabilen Regimen mit aus Mythen gespeisten Traumwelten, die immer wieder auf den Alltag übergreifen, zu einem so eindringlich-bedrohlichen wie mitreißenden Gesamtkomplex. Sollte die Akademie einen politischen Autoren auszeichnen wollen und dennoch den begrüßenswerten Pfad der gesteigerten künstlerischen Würdigung nicht verlassen, muss Ben Okri vor dem Hintergrund der derzeitigen Weltlage als absoluter Geheimtipp gelten.
Zu attraktiv für die Auszeichnung: Salman Rushdie.
In diesem Falle wäre aber eigentlich Salman Rushdie jedem anderen vorzuziehen. Denn der wird ja nur deshalb so selten für den Nobelpreis genannt, weil sein im Alter immer jugendlicheres Aussehen, die Lebensfreude, die Rushdie ausstrahlt, seit er nicht mehr rund um die Uhr unter Überwachung steht, und die Tatsache, dass er sich gern mal mit attraktiven jüngeren Frauen umgibt, bei ihm kaum noch an einen Schriftsteller denken lassen. Und erst recht nicht an einen Nobelpreisträger. Das haben alte, unglückliche Tattergreise zu sein. Also Rushdie. Kein anderer hat sich derart um anspruchsvolle Literatur verdient gemacht, schon allein deshalb, weil Rushdies Werk wie man munkelt von vielen Käufern am Ende sogar gelesen wird!
Bitte nicht Bob Dylan!
Aber am Ende wird es ja doch wieder jemand ganz anderes werden. Vielleicht Houellebecq. Clarke. Oder Picketty (denn der Preis kann auch schon mal an Sachbuchautoren gehen, wie im Falle von Winston Churchill). Vielleicht zeichnet man auch ganz unerwartet Angela Merkel für die Memoiren aus, die diese noch schreiben will. Oder Vladimir Putin für das große homoerotische Epos, an dem er in seltenen müßigen Stunden dichtet. Der Friedensnobelpreis hat vorgemacht, dass Auszeichnungen auch für Absichtserklärungen ergehen können.
Wer auch immer es wird: Bitte nicht Bob Dylan. Der mag ein großartiger Musiker sein, und ein besserer Sänger als man glauben will, aber kryptische Texte und hier und da mal ein unerwarteter Zeilensprung sind vielleicht für Musik dichterisch herausragend. Aber zum bedeutenden Lyriker, als der er ausgezeichnet würde, fehlt Dylan doch einiges. Was? Davon schreibe ich, falls es notwendig werden sollte, wenn der Preis verliehen ist.
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